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Corona-Pandemie: Eine historische Wende

Mit dem vorliegenden Text wollen wir mit Menschen in sozialen Bewegungen, Gewerkschafter*innen, mit Beschäftigten im Gesundheitswesen und allen, die nach Alternativen jenseits des Kapitalismus suchen, in Diskussion treten. Wir wollen über die Entstehung und den Ablauf dieser Krise informieren. Dazu analysieren wir im zweiten Abschnitt den Verlauf der Ausbreitung der Infektionen in den deutschsprachigen Ländern und vergleichen diese mit dem Verlauf in China und Italien. Damit zeigen wir, dass es das entschlossene Handeln in China war, das die Epidemie eingedämmt hat. Auch in Europa wäre dies möglich gewesen. Anschließend analysieren und kritisieren wir im dritten Abschnitt die Politik der Regierungen in Europa und der Europäischen Union. Im vierten Abschnitt blicken wir flüchtig auf die anrollende globale Wirtschaftskrise und werfen einige Fragen für den solidarischen Widerstand auf. Schließlich stellen wir im fünften Abschnitt ein konsequentes Programm zur Bekämpfung der Ausbreitung des Coronavirus vor und schlagen damit auch eine Brücke zu unserer weitergehenden ökosozialistischen Perspektive, die konkrete Schritte für die Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise vorsieht. Gesundheitswesen gesellschaftlich aneignen, Produktion kurzzeitig und geplant runterfahren!

von Verena Kreilinger und Christian Zeller; aus oekosoz.org

1. Einleitung: Versagen der Regierungen – Selbstorganisierung vorbereiten

Eine historische Zeitenwende unabsehbaren Ausmaßes hat eingesetzt. Noch nie seit 1945 erlebten weite Teile der Bevölkerungen Europas einen derartigen Kontrollverlust und zugleich einschneidende Maßnahmen für ihren Alltag. Die Corona-Pandemie trifft zeitlich mit der beginnenden Wirtschaftskrise zusammen, die sich bereits vor Monaten ankündigte. Unsere Gesellschaften durchschreiten eine bislang unvorstellbare zeitliche und räumliche Verdichtung unterschiedlicher Krisen.

Wir erfahren den moralischen und politischen Totalbankrott des Neoliberalismus, der Regierungen und der EU. Die nationalen Regierungen in Europa und die EU standen Anfang Februar vor der Entscheidung: Wollen sie die Menschen in Italien und anderswo retten oder ziehen sie es vor, die Profite der Unternehmen zu garantieren und geopolitischen Interessen zu verfolgen. Sie haben sich so entschieden, wie das in einer kapitalistischen Gesellschaft naheliegend ist. Die Profite gehen vor. Das Resultat entfaltet sich nun. Sie und die ganzen Gesellschaften, wir alle, sind fortan Getriebene der Eigendynamik, deren Ausgang nicht absehbar ist. In mehreren Ländern Europas gelten Ausgangsbeschränkungen und Ausgangssperren. Diese sind zur Sicherstellung der Gesundheit der Menschen einerseits richtig, zugleich ungenügend und mindestens eine Woche zu spät eingeführt worden. Andererseits gibt der von oben durchgesetzte Stillstand des öffentlichen und kommunikativen reproduktiven Lebens jenseits der Berufstätigkeit einen Vorgeschmack auf mögliche autoritäre Versuchungen bei anderen Krisen.

Wir zeigen in diesem Beitrag das schwerwiegende Versagen der europäischen Regierungen und insbesondere der EU auf. Bewusste Entscheidungen, Fehleinschätzungen und Versäumnisse führten dazu, dass Europa zum Epizentrum der Corona-Pandemie wurde. Die Regierungen und die EU sind nicht in der Lage, die für die Gesundheit und das Wohl der Bevölkerung erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Sie können das nicht, weil sie sich dem Primat der Kapitalakkumulation und der Wettbewerbsfähigkeit unterwerfen. Anstatt die erforderlichen Einschnitte in alle Sektoren der Wirtschaft vorzunehmen, die für die gesellschaftliche Versorgung nicht notwendig sind, ziehen sie es vor, eine unbestimmte Anzahl Menschen sterben zu lassen. Auf der Grundlage dieser Diagnose stellen wir in diesem Beitrag zwei Thesen zur Diskussion.

Erstens argumentieren wir, dass die Coronakrise ein historisches Ausmaß globaler Reichweite annehmen wird. Die Gewissheiten, die unsere Gesellschaften seit 1945 kennen, werden der Vergangenheit angehören. Die anrollende Wirtschaftskrise wird brutale Verteilungskämpfe mit sich bringen und große geopolitische Verschiebungen begünstigen. Die Gesundheitskrise und die Wirtschaftskrise entwickeln sich im Kontext der sich rasch verschärfenden globalen Klimakrise. Das Zusammentreffen dieser Krisenprozesse wird zu überraschenden Brüchen, Einschnitten und Zusammenbrüchen führen und zugleich solidarische Verhaltensweisen hervorrufen und neue Widerstandspotentiale ermöglichen.

Zweitens trifft diese Krise auf politisch und organisatorisch komplett unvorbereitete emanzipatorische Bewegungen. Noch bis Mitte März haben viele kritische Zeitgenoss*innen die Corona-Krise ignoriert, verharmlost, sich lustig über besorgte Menschen gemacht und haben die Maßnahmen der Regierungen nur unter dem Blickwinkel individueller Freiheitsrechte betrachtet. Das sind unverzeihliche Fehler. Darum gilt es unter den derzeit erschwerten Kommunikationsbedingungen rasch eine Diskussion über eine umfassende ökosozialistische Perspektive aufzunehmen und konkrete organisatorische Projekte vorzubereiten. Die Gesundheit und das Wohl der Bevölkerung muss jetzt oberste gesellschaftliche Priorität sein. Zugleich gilt es bereits jetzt über die akute Gesundheitskrise hinauszudenken und sich für die folgenden ökonomischen wie politischen Verwerfungen vorzubereiten. Eine solidarische Praxis der Selbstorganisation eröffnet die Möglichkeit Prozesse und starke Bewegungen zur gesellschaftlichen Aneignung wesentlicher Bereiche der gesellschaftlichen Produktion und Infrastruktur zu initiieren.

Die Ereignisse in Europa überschlagen sich. Zunächst wöchentlich, dann täglich und nunmehr schon mehrfach pro Tag erlassen die Regierungen neue und zunehmend drastischere Verordnungen. Schulen und Universitäten, Läden, Kneipen, Sport- und Freizeiteinrichtungen werden wochenlang geschlossen sein. Die Regierungen verlangen, dass die Menschen zu Hause bleiben. In Italien, Spanien und Frankreich gibt es Ausgangssperren, in vielen anderen Ländern deutliche Ausgangsbeschränkungen. Wie lange diese Einschränkungen aufrecht bleiben, kann niemand sagen. Ob sich die Ausbreitung des Virus wirklich verlangsamt, wird erst nach rund zwei Wochen ansatzweise erkennbar sein. In nicht einmal vier Wochen vom 22. Februar bis zum 23. März sind in Italien offiziell 6077 Menschen an der Covid-10 Erkrankung gestorben. Die Hälfte davon alleine vom 19. bis 23. März. Auch in Spanien nimmt das Massensterben seinen Lauf und hat bis zum 23. März 2696 Menschenleben gefordert. Bald werden wir eine rasche Zunahme der Todesfälle in Frankreich, Deutschland, in der Schweiz und in anderen Ländern erleben. Die Menschen erhalten den Eindruck, dass die meisten Regierungen die Kontrolle über die Dynamik verlieren. Das wird sich nachhaltig in das Bewusstsein eingraben. Diejenigen Regierungen, die es schaffen, das Leid zu begrenzen, werden nach der unmittelbaren Krise einen großen Spielraum für ihre unsoziale und autoritäre Politik und vor allem für die Bearbeitung der sich anbahnenden Wirtschaftskrise erhalten.

Die Corona-Pandemie und ihre Folgen werden die öffentlichen und politischen Debatten für lange Zeit bestimmen. Das bedeutet auch, dass die im vergangenen Jahr in den Fokus der Auseinandersetzungen gerückte Klimakrise ihre notwendige Aufmerksamkeit verlieren und der entscheidende Druck auf Politik und Wirtschaft ausbleiben wird. Doch die Klimakatastrophe schreitet voran – ungeachtet dessen, ob wir aufmerksam hinblicken oder mit anderen Krisen beschäftigt sind. Es ist Aufgabe emanzipatorischer Kräfte, die Zusammenhänge dieser und anderer Krisen deutlich zu machen, ihren gemeinsamen Nenner zu betonen und in programmatischen Vorschlägen zusammenzudenken. Die Corona-Krise weist einige Ähnlichkeiten mit der anziehenden Klimakatastrophe auf. In beiden Fällen hindert die Logik der Akkumulation, der Profimaximierung unter Konkurrenzbedingungen, die Regierungen daran, eine Gefahr abzuwenden. Sie handeln nicht angemessen, obwohl es zahlreiche Warnungen gab und weiterhin gibt, obwohl es technisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich möglich wäre, bewusst zu handeln und der Gefahr entgegenzutreten. Bei beiden Herausforderungen schwanken die Regierungen zwischen Verweigerung, Ignoranz und ungenügendem, bisweilen chaotischem Handeln. Das ist Ausdruck einer Politik, die sich in erster Linie an den Zwängen des Kapitals und nicht an den Bedürfnissen der Menschen orientiert. Die Klimagefahr ist noch umfassender, globaler und ernster. Im Unterschied zu den aus der Erderhitzung erwachsenden Katastrophen vollzieht sich die Katastrophe der Corona-Pandemie zeitlich und räumlich extrem verdichtet.

Die Corona Krise ist eine Warnung: das kapitalistische System wird weitere Krisen hervorrufen. Die Weltwirtschaft rutscht rasant in eine tiefe Krise. Die Umverteilungskonflikte und geopolitischen Rivalitäten werden sich zuspitzen. Rosa Luxemburg warnte 1916 während des Ersten Weltkriegs eindringlich vor der Barbarei, wenn es nicht gelänge einen sozialistischen Umbruch herbeizuführen. (1) Heute stehen wir weltweit abermals vor dem Abgleiten in die Barbarei, wenn es nicht gelingt eine ökosozialistische Alternative zu verwirklichen.

Umso dringender ist es, Perspektiven zu entwickeln, die an den bestehenden Zuständen ansetzen, den Dingen auf den Grund gehen und zugleich die breite Masse der Bevölkerung ansprechen. Deshalb schlagen wir eine ökosozialistische Umbauperspektive in Europa vor, die solidarische Beziehungen mit den anderen Regionen der Welt mit einschließt.

2. Wie es zur Ausbreitung des SARS-CoV-2 Virus kam

Als sich das Coronavirus SARS-CoV-2 in Norditalien Anfang Februar zunehmend schneller ausbreitete und die Katastrophe einleitete, dachte nördlich der Alpen auch in linken Organisationen und in sozialen Bewegungen noch kaum jemand daran, von den Erfahrungen in China und Südkorea zu lernen. Sogar bis Mitte März gab es in Deutschland Stimmen, darunter auch Mediziner*innen, die die Entwicklung massiv verharmlosten oder gar als Panikmache abtaten. Viele kritische Menschen nehmen die Coronakrise in erster Linie unter dem Blickwinkel autoritärer Maßnahmen war. Erst langsam, einsetzend mit den zunehmend drastischen Berichten aus Norditalien, veränderte sich die Wahrnehmung. Es gilt, die Phänomene zu erkennen, sachlich zu analysieren, sie in politischen Verhältnissen und ihrer gesellschaftlichen Dimension zu denken. Lernt die Linke nicht mit dieser Situation umzugehen, wird sie sich komplett neben die Entwicklung stellen. Bevor wir einen Überblick über die politischen Veränderungen anstellen, halten wir einige zentrale Sachverhalte über die Ausbreitung des Coronavirus fest.

2.1 Warum die COVID-19 Pandemie derart umfassende Auswirkungen hat

Das Coronavirus SARS-CoV-2 war bis zum Ausbruch Ende 2019 in der VR China unbekannt. Mit seiner globalen Ausbreitung als COVID-19 Pandemie erweitert sich die Datenbasis rasch. (2) Häufig wird mit dem Hinweis einer scheinbar nur geringen Letalität von unter 1% die Gefahr durch Corona heruntergespielt. Entscheidend ist jedoch die bisher in der Bevölkerung nicht vorhandene Immunität gegenüber dem beim Menschen neu aufgetretenen Virus. Das heißt niemand trägt Antikörper in sich, und somit kann sich jede Person potentiell anstecken. Dies ist ein entscheidender Unterschied zur saisonal auftretenden Grippe und führt zu einer viel höheren Anzahl möglicher gleichzeitig erkrankter Personen. Laut Epidemiolog*innen müssen 60-70% der Bevölkerung eine Infektion durchgemacht haben, bevor sich deren Ausbreitungsgeschwindigkeit deutlich abbremst.

Bis dahin ist die Ausbreitungsgeschwindigkeit ein wesentlicher Faktor. Die Entwicklung verläuft exponentiell, das heißt in jeweils gleichen Zeitabschnitten verdoppelt sich die Anzahl der Infektionen. Bei derzeitiger Datenlage wird angenommen, dass die Verdoppelungsrate bei rund 3-4 Tagen liegt. Tatsächlich beträgt die Verdoppelungsrate in vielen Ländern Europas gegenwärtig (Mitte März) rund 2,5 Tage. Das Virus verbreitet sich extrem schnell.

Statistische Auswertungen zeigen, dass rund 20% der erfassten infizierten Personen so schwer erkranken, dass ein Krankenhausaufenthalt nötig wird. Bei 10% der Betroffenen ist das Krankheitsbild derart stark ausgeprägt, dass eine Versorgung auf der Intensivstation notwendig wird. Andere Studien schreiben, 5% der Erkrankten müssten über Beatmungsmaschinen und 15% über Sauerstoffanreicherung versorgt werden.

Zu berücksichtigen gilt, dass sehr viele milde Verlaufsfälle nicht erfasst werden. Diese Untererfassung wird von bisherigen beschränkten Studien sehr unterschiedlich angegeben. Die Dunkelziffer tatsächlicher Infektionen (meist symptomloser oder milder Verläufe) kann womöglich um das 4,5–11-fache höher liegen als die Zahl der nachgewiesenen Fälle. Diese Zahl kann von Land zu Land sehr verschieden sein – je nachdem ob und unter welchen Voraussetzungen Tests durchgeführt werden. So wurden besonders in Großbritannien und in den USA bislang sehr wenige Tests durchgeführt. Das heißt, in diesen Ländern ist die Dunkelziffer sehr hoch. Hingegen ließen die Behörden in der chinesischen Provinz Hubei, in Singapur, Hongkong oder auch gewissen Regionen Südkoreas ausgesprochen umfangreich bis nahezu lückenlos testen. Beispielhaft wurde in Singapur bereits nach den ersten Fällen flächendeckend ein Fiebermessen zweimal täglich durchgesetzt und bei Erhöhung der Temperatur sofort auf SARS-CoV-2 getestet.

Aufgrund dieser hohen Dunkelziffer lässt sich die Letalität des Virus nicht verlässlich beziffern. Unter den identifizierten Fällen könnte der Anteil an Verstorbenen (Fall-Verstorbenen-Anteil) zwischen 0,5% und 1% liegen. Die Datenlage scheint jedoch noch nicht sehr tragfähig zu sein. Jedenfalls nimmt das Risiko eines schweren oder gar tödlichen Verlaufs stark mit dem Alter und bestehenden Vorerkrankungen zu.

Der aktuelle Fall-Verstorbenen-Anteil variiert zwischen den europäischen Ländern stark. Mehrere Gründe müssen hierfür genannt werden. Zum einen gilt es die Erhebung der Infektionsfälle anzusehen. Die Testverfahren sind in den Ländern sehr verschieden gestaltet. Sie unterscheiden sich mitunter in Hinblick auf Umfang, Zugänglichkeit, Kostenübernahme. Manche Länder, Regionen oder Städte haben aufgrund mangelnder Kapazitäten bereits breite Tests ausgesetzt. Zum anderen muss die Erhebung der Todesfälle betrachtet werden. Einige Länder führen sogenannte post-mortem Tests durch (z.B. Italien), andere nicht (z.B. Deutschland). Auch die Verlaufszeit der Erkrankung ist entscheidend. Todesfälle treten gehäuft nicht sofort zu Beginn auf, sondern erst nach einer gewissen Zeit. Die demographische Zusammensetzung einer Bevölkerung ist ebenfalls ein Faktor, wie auch die Sozialstruktur. So leben beispielsweise in Italien häufig mehrere Generationen unter einem Dach, wodurch sich die Gefahr einer Ansteckung der Älteren durch die Jungen erhöht.

Entscheidend kann zudem sein, wo die Ausbreitung in einem Land seinen Ausgang nimmt. Entstehen frühzeitig und womöglich unentdeckt Cluster in Krankenhäusern, Altersheimen, Kirchen oder sonstigen Einrichtungen, die von Risikogruppen stark frequentiert werden, kann die Anzahl der Verstorbenen schnell und stark steigen. Im Gegensatz wird eine Verbreitung über Après-Ski-Bars, Ärztekongresse oder Karnevalsfeiern zu Beginn eher jüngere Menschen treffen. Beispielhaft zeigt die Altersverteilung der bisher bestätigten Fälle (Stand 16.3) in Österreich, dass die Erkrankten durchschnittlich relativ jung sind. Von 1060 erfassten Infektionen, waren nur 130 Betroffene laut Gesundheitsministerium älter als 64, weitere 134 zwischen 55 und 64 Jahre, alle anderen jünger. Das mag miterklärend für zum selben Tag erst drei gemeldeten Verstorbenen sein.

Es ist zu erwarten, dass sich der Fall-Verstorbenen-Anteil mit fortschreitender Ausbreitung zwischen den Ländern angleichen wird. Gelingt es besonders sensible Bevölkerungsgruppen zu schützen und eine Überlastung der intensivmedizinischen Kapazitäten zu vermeiden, lässt sich die Zahl der Verstorbenen und damit auch dieses Verhältnis jedoch positiv beeinflussen. Bedacht werden muss, dass die Erhebung und Veröffentlichung von Daten von politischen Interessen gelenkt sein können. Eine europaweit einheitliche Erfassung wäre jedenfalls sinnvoll. Insbesondere für Deutschland ist zu kritisieren, dass die Anzahl an durchgeführten Tests nicht veröffentlicht wird.

Aus diesen Zahlen ergeben sich zwei große Gefahren: Obgleich die Sterblichkeit nicht so hoch wie bei anderen Viruserkrankungen sein mag, entspricht angesichts der zu erwartenden hohen Infektionszahlen auch ein geringer Zehntelprozentanteil einer enorm hohen Anzahl an Menschen, die aufgrund der Virusinfektion sterben werden. Angenommen in Österreich und Deutschland infiziert sich in den kommenden Monaten die Hälfte der Bevölkerung, so könnte dies im schlimmsten Fall rein rechnerisch bei der derzeitig beschränkten Datenlage bis zu 35.000 Todesfälle in Österreich beziehungsweise 330.000 in Deutschland in kürzester Zeit bedeuten. Auch wenn die tatsächliche Letalität voraussichtlich deutlich niedriger sein wird als derzeit angenommen (aufgrund obig geschilderter Untererfassung), wird die Zahl erschreckend hoch sein. Italien zählte bis zum 23. März 2020 bereits 6077 Tote. Die ersten Menschen starben am 21. Februar. Das heißt, in gerade vier Wochen vollzog sich ein Massensterben, dessen Ende nicht abzusehen ist.

Der Verlauf schwerer Fälle wird zugleich maßgeblich davon bestimmt werden, wie gut gerüstet das entsprechende Gesundheitssystem ist. Insbesondere der Anteil an vorhandenen Intensivbetten inklusive Beatmungsmöglichkeit ist ausschlaggebend. Bereits einfache Rechenbeispiele machen deutlich, dass selbst in den gemeinhin überdurchschnittlich gut ausgestatteten deutschsprachigen Ländern die Kapazitätsgrenze schnell erreicht sein wird (vgl. Abbildung 1 und Tabelle 1). Schlagzeilen wie „Italienische Verhältnisse können wir händeln” in der FAZ (3) sind Ausdruck blinder Überheblichkeit. Beispielsweise sind die Krankenhäuser im wohlhabenden Straßburg und im Kanton Tessin in der reichen Schweiz bereits um den 16. März an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit gelangt. (4) Entscheidend ist zudem: ist das Gesundheitssystem erst einmal überlastet, sterben Menschen auch aufgrund anderer Erkrankungen oder Notfälle, die nicht mehr ausreichend oder früh- bzw. rechtzeitig behandelt werden können.

Folgendes Rechenbeispiel bezieht sich auf Österreich, trifft aber mit dem Faktor 10 hochgerechnet auch ziemlich gut die deutsche Realität: In Österreich gibt es rund 2.260 Intensivbetten, die im Jahresmittel sowie überregional berechnet eine Auslastung von 80% aufweisen. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass „im Normalfall“ österreichweit rund 465 freie Intensivbetten vorhanden sind. Bereits hier wird sichtbar wie begrenzt die Kapazitäten angesichts einer Epidemie sind, die in kürzester Zeit rund 60% der Bevölkerung infizieren wird. Nehmen wir an, die Krankenhäuser können sich ausgesprochen gut und rechtzeitig wappnen und schaffen es einerseits durch Aufschieben nicht-akuter Operationen, sowie massiver Personalaufstockung die Anzahl der Intensivbetten (mit Beatmungsmaschinen) zu vervierfachen (ob dies möglich ist, bleibt fraglich). Dann würde die maximale Kapazität 1850 Intensivbetten österreichweit betragen. Dazu sei angenommen die durchschnittliche Belegdauer je Patient*in betrage je eine Woche (eine eher optimistische Annahme, Studien aus China geben 10 Tage, die WHO gar 3-6 Wochen an).


Abbildung 1: Akutkrankenhausbetten auf 100 000 Einwohner*innen

Alle Länder Europas erlebten seit den späten 1980er Jahren einen drastischen Rückgang der Krankenausbetten auf 100 000 Einwohner*innen. Das ist ein Ergebnis der neoliberalen und neokonservativen Gegenreformen. Die Gesundheitsinfrastruktur erfuhr in vielerlei Hinsicht einen regelrechten Aderlass. Wir zeigen hier nur eine Auswahl der Länder, auf die wir uns im Text beziehen.
Quelle: WHO Europe, European Health Information Gateway


Tabelle 1: Intensivbetten je 100 000 Einwohner*innen

Österreich21,8
Schweiz11
Slowakei9,2
Slowenien6,4
Spanien9,7
Tschechien11,6
USA34,7
Belgien15,9
Dänemark6,7
Deutschland29,2
Frankreich11,6
Großbritannien6,6
Italien12,5
Niederlande6,4

Ein Blick in die wissenschaftliche Literatur vermittelt ein unübersichtliches Bild. Die Definitionen und Erhebungsmethoden von intensiven Pflegeeinheiten (ICU) unterscheiden sich von Land zu Land. Die USA weisen eine vergleichsweise gute Ausstattung auf. Es lässt sich nicht sagen, ob diese beispielsweise dem Standard in der Schweiz entspricht, die überraschend schlecht ausgestattet zu sein scheint. Ungeachtet dieser technischen Fragen, ist in jedem Land entscheidend, wer aufgrund der Versicherungsausstattung und finanziellen Möglichkeiten überhaupt die Chance bekommt, sich auf einer Intensivstation pflegen zu lassen. Vergleiche bieten somit nur eine Annäherung an die reale Situation. Im Sinne eines ersten Überblicks begnügen wir uns mit einer gut dokumentierten Tabelle in Wikipedia.


Nun müssen wir uns den Anstieg der Fallzahlen ansehen. Bei einer angenommenen Verdoppelungsrate von rund drei Tagen würde Österreich bereits Ende März bis Anfang April wöchentlich mehr schwere, intensivmedizinisch zu betreuende Erkrankungsfälle erreichen als Betten vorhanden sind. Einen vorläufigen Höhepunkt mit rund einer Million Infizierter könnte die Epidemie bereits Ende April erreichen.

Gelingt es mit zielgerichteten Maßnahmen die Verdoppelungsrate auf 7 Tage zu verzögern, dann würden die intensivmedizinischen Kapazitäten erstmals Ende April überlastet. Ein Höhepunkt könnte etwa Anfang Juni erreicht werden. Aufgrund der hohen Dunkelziffer, die derzeit von Epidemiolog*innen mit Faktor 4,5-11 berechnet wird, könnten dann die Anzahl der Neuinfektionen zu sinken beginnen, da die zunehmende Immunität in der Bevölkerung die Ausbreitung abbremst. In beiden Szenarien würden aufgrund der absoluten Überlastung des Gesundheitswesens viele Tausende schwer erkrankte Patient*innen keine angemessene intensivmedizinische Behandlung mehr erhalten können. Was dies bedeutet, möchten wir uns an dieser Stelle nicht ausmalen. Diese Zahlen sind jedenfalls absolut alarmierend.

Fiktiv weitergedacht, würde erst ab einer Verlangsamung der Verdoppelungsrate auf 14 Tage der Höhepunkt in den Sommer geschoben und wertvolle Reaktionszeit gewonnen werden. Doch auch hier würde die Kapazität des Gesundheitssystems aufgrund des exponentiellen Charakters der Ausbreitung zu stark beansprucht werden. Ob eine Abschwächung des Virus beispielsweise aufgrund der wärmeren Temperaturen zu erwarten sein wird, ist derzeit zweifelhaft, aber nicht ausgeschlossen.

Tatsächlich scheint eine Verdoppelungsrate von 14 Tagen ohnehin nur möglich unter Setzung dermaßen einschneidender Maßnahmen, die letztlich zur gänzlichen Abbremsung führen könnten (siehe China). Die Maßnahmen müssten allerdings neben Ausgangsbeschränkungen für die gesamte Bevölkerung jedenfalls die weitgehende Stilllegung des Wirtschaftslebens einschließlich Industrie, Personenverkehr und nicht erforderlicher Dienstleistungen umfassen. Aktuelle Zahlen zeigen, dass in Österreich die Verdoppelungsrate von anfänglich 2,3 Tagen durch die bereits gesetzten Maßnahmen auf lediglich 4 Tage erhöht werden konnte. Italien, welches seit dem 11. März bereits umfassende und landesweite Ausgangsbeschränkungen eingeführt hat, gelang es damit die Verdoppelungszeit lediglich auf 3,6 Tage zu erhöhen. Die vermehrte Testung ist jedoch zu berücksichtigen.

Die Abschätzungen bleiben vorerst ungenau. Dennoch vermitteln sie eine Grundlage, um die Tragweite der Situation zu erfassen und auch dramatische Einschätzungen und Konsequenzen in unseren Köpfen nicht als bloße Weltuntergangsszenarien und Panikmache zu verbuchen. So wie die Menschheit weit in der Zukunft liegende Gefahren schlecht erfassen kann (wir denken an die drohende Klimakatastrophe), so tut sie sich schwer damit exponentielle Prozesse als wahrscheinlich einzustufen.

Nun ist anzunehmen, dass den europäischen Regierungen deutlich ausgefeiltere und akkuratere Modellrechnungen für ihre jeweiligen Länder zur Verfügung stehen, und dass diese, trotz unterschiedlicher Voraussetzungen in den Ländern, ähnliche Konsequenzen skizzieren. Dennoch lassen sich in der Reaktion deutliche Unterschiede festmachen. Bevor wir die Politik einiger Regierungen in Europa und der EU einer Kritik unterziehen (dazu mehr in Abschnitt 3), stellen wir hier kurz die Strategie der chinesischen Behörden in der Stadt Wuhan und der Provinz Hubei vor. Das ist wichtig, um die Dimensionen der Herausforderung zu erfassen.

2.2 Was in Hubei geschah

In China beschlossen die Regierung und die Behörden am 23. Januar 2020 den totalen Lockdown der Stadt Wuhan mit 11 Millionen Einwohner*innen und innerhalb kürzester Zeit der gesamten Region Hubei, die mit knapp 60 Millionen ähnlich groß ist wie Italien oder Frankreich. Zu diesem Zeitpunkt wurden um die 400 Neuinfektionen an einem Tag festgestellt. Allerdings war die Dunkelziffer zu diesem Zeitpunkt bereits deutlich höher – eine Tatsache, die jedoch für alle Länder gilt. Zum Vergleich: Italien überschritt diese Zahl von 400 gemessenen Neuinfektionen am 3. März. Deutschland, Frankreich und die Schweiz übertrafen diesen Wert zwischen dem 11. und 14. März (Abbildung 2). Am 19.3 wies Italien bereits 5322, Deutschland (je nach Quelle) 2801- 5781, Spanien 3308 und Frankreich 1358 Neuinfektionen auf. Das verdeutlicht wie ungenügend und unangemessen die Regierungen dieser Länder seit Beginn der Infektionswelle reagieren.


Abbildung 2: Ausbreitung und Eindämmung der Ausbreitung der SARS-CoV-2 Virus und der Convid-19 Erkrankungen in China.

Die Abbildung zeigt deutlich, dass es gelungen ist, die Ausbreitung des Virus ab dem 4. Februar (Linie), rund zwei Wochen später die Erkrankungen ebenfalls und schließlich die Todesfälle zu reduzieren.
Quelle: Wikipedia


Der Lockdown beinhaltete die komplette Abschottung der Stadt Wuhan sowie nachfolgend der Region Hubei. Sämtliche Verbindungen per Bahn, Bus oder Flugzeug wurden gekappt, auch mit dem Auto durfte niemand mehr ein- oder ausreisen. Innerhalb von Wuhan wurde eine Ausgangssperre verhängt. Die Menschen durften ihre Wohnung nur mehr verlassen um nötige Lebensmittel zu besorgen oder in medizinischen Notfällen. Auch der individuelle Autoverkehr sowie der Nahverkehr wurden unterbunden, und damit die Mobilität der Menschen sehr engräumig begrenzt. Büros und Fabriken, Schulen, Geschäfte, Gastronomie, Parks, Öffentliche Plätze wurden geschlossen. Diese Maßnahmen wurden ausgesprochen restriktiv überwacht – teils digital über Handyüberwachung, teils mittels Sicherheitsdiensten, die Straßen und Nachbarschaften sicherten. Diese massive soziale Abschottung war zwar ein wesentlicher Faktor bei der Eindämmung des Virus in der Provinz Hubei, jedoch – so ist sich eine Expert*innenkommission der WHO in der aktuellen Beurteilung einig – war sie nur erfolgreich aufgrund zahlreicher Begleitmaßnahmen. So wurde weiterhin und beinah lückenlos getestet: Freiwillige Helfer*innen gingen von Tür zu Tür und haben kategorisch die Bevölkerung nach ihrem Gesundheitszustand befragt, Fieber gemessen und vielfach Tests durchgeführt. Erkrankte Personen wurden augenblicklich in Quarantäne-Einrichtungen, die massenhaft in Sportstätten, Messehallen etc. eingerichtet wurden oder sogar in 16 neue, in nur zwei Wochen errichtete Krankenhäuser verlegt und isoliert. Zudem waren 1800 Teams mit mindestens fünf Personen im Einsatz um jeweils zehntausende Kontakte der Infizierten aufzuspüren und unter Quarantäne zu stellen und somit die Übertragungsketten einzudämmen.

Diese umfangreichen und harten Maßnahmen wurden bisher über rund acht Wochen hinweg durchgesetzt. Damit gelang es China rasch die Epidemie einzudämmen und die unkontrollierte Ausbreitung des Virus auf das weitere Land, insbesondere die Metropolen Schanghai, Beijing und das Pearl River Delta bei Guangzhou zu verhindern. Seit Mitte März kommen kaum mehr Neuinfektionen hinzu. Angesichts der positiven Entwicklungen steht die Region vor einer Lockerung der Ausgangssperren. Jedoch droht einigen asiatischen Ländern eine zweite Infektionswelle – von außen. Nun ist es China, das sich vor dem Rest der Welt und insbesondere Europa in Acht nehmen muss und strikte Einreisekontrollen durchführen wird. Mehr als ein Dutzend Provinzen steckt nun ausländische Reisende in Quarantäne unabhängig von ihrem Gesundheitszustand. In der südkoreanischen Stadt Daegu führen die Behörden erneut Massentests durch. Taiwan schließt die Grenzen für fast alle Ausländer*innen und intensiviert die Quarantänemaßnahmen in den Städten. (5) Das zeigt, dass die Erfolge erst vorläufig sind.

Wir weisen auf die Erfahrungen in Wuhan und Hubei hin, nicht, weil wir die autoritäre Politik der bürokratischen staatskapitalistischen Diktatur gutheißen, ganz im Gegenteil, wir stellen uns auf die Seite derjenigen, die für demokratische und soziale Rechte kämpfen. Wir wollen damit zeigen, dass entschlossenes, großräumig koordiniertes und geplantes Handeln wirksam sein kann und eine wichtige gesellschaftliche Dimension im Dienste der Menschen einnimmt. Zu bedenken ist, dass die chinesischen Behörden ein umfangreiches Testprogramm initiierten und rasch die nicht unmittelbar erforderlichen Produktionsbereiche stilllegten. Die Versorgung wurde durch andere Regionen in China gewährleistet. Wir gehen davon aus, dass sich eine emanzipatorische und demokratische Orientierung mit gesamtgesellschaftlicher Planung verbinden muss. Dazu entwickeln wir in Abschnitt 5 erste Vorschläge.

3. Sehenden Auges in das herbeigeführte gesellschaftliche Desaster

3.1 Prioritäten gesetzt: Aufrechterhaltung der Wirtschaft und der Profiterzielung

Die Ausbreitung des Coronavirus offenbart den totalen politischen und moralischen Bankrott der neoliberalen Gesundheitspolitik, wie sie in allen Ländern, zwar mit Unterschieden, jedoch ungeachtet der jeweiligen Regierungskonstellation, vollzogen wird und wurde. Das zögerliche Krisenmanagement in nahezu allen Ländern Europas und vor allem der Europäischen Union führte dazu, dass Europa zum Zentrum der Pandemie wurde. Entgegen der Erfahrungen aus China und Südkorea und den Warnungen von vielen Expert*innen, ergriffen die Regierungen über mehrere Wochen hinweg keine wirksamen Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus. Wertvolle Zeit verstrich. Jetzt drohen überstürzte, nicht sachgemäße und von Panik getriebene autoritäre Entscheidungen. Die Regierungen haben zu Beginn der Ausbreitung des Virus in Italien eine bewusste Wahl getroffen: die Aufrechterhaltung der Wirtschaft – also der Mehrwertproduktion und der Profiterzielung – steht vor dem Schutz der Bevölkerung. Diese Politik setzen sie bis heute fort, allerdings fragmentiert, unkoordiniert, bisweilen in Konkurrenz zueinander und chaotisch. Vielfach erst unter dem Druck der öffentlichen Meinung begannen sie entschlossener zu handeln. Es war also der Druck aus der Bevölkerung und die sich dramatisch entfaltende Realität, die sie zum Handeln zwingen, nicht der Wille einen autoritären Großversuch durchzuführen.

Die EU hat die Menschen in Italien alleine gelassen. Sie hätte Italien dazu drängen können sofort zu Beginn der Virusausbreitung Anfang Februar das gesellschaftliche Leben und insbesondere die Wirtschaft in der Lombardei für rund einen Monat stillzulegen. Gleichzeitig hätte sie dem Land die Garantie geben können für alle Ausfälle im Sinne einer Solidargemeinschaft aufzukommen. Die EU sendete nicht das geringste unterstützende Signal aus. Chinas Vorgehen in Hubei, das mit 60 Millionen Einwohner*innen mit Italien vergleichbar ist, hätte eine wichtige Orientierung sein können. Mit entschlossenem Handeln wäre es möglich gewesen, die Ausbreitung des Virus in Italien frühzeitig massiv zu verlangsamen und letztlich sogar einzudämmen. Nun breitet sich in ganz Europa eine riesige und teilweise vorhersehbare Gesundheitskatastrophe aus. In ihrer Weigerung von den Erfahrungen in China und in anderen asiatischen Ländern zu lernen – damit meinen wir nicht deren Methoden kopieren – spielte sicherlich auch eine eurozentristische Überheblichkeit eine Rolle. Vielfach nahmen die Regierungen, auch Expert*innen und Medienschaffende an, die europäischen und insbesondere die deutschsprachigen Länder seien den asiatischen Ländern oder auch den südeuropäischen überlegen und vor einer Krise gefeit.

Die Krise nimmt in vielen Ländern einen ähnlichen Verlauf wie in Italien, nur um rund 10 Tage verzögert. Doch obwohl die Regierungen und die Öffentlichkeit in Europa die zunehmend dramatischere Entwicklung in Norditalien verfolgen konnten, haben weder die Regierungen noch andere gesellschaftliche Kräfte angemessen reagiert. Die Gewerkschaften haben nicht einmal ansatzweise die Dynamik erkannt. Viele linken Organisationen und die Aktivist*innen in sozialen Bewegungen sahen die Krise nur unter dem Gesichtspunkt der Einschränkung individueller Freiheitsrechte. Auch sie gingen vielfach davon aus, dass unsere reichen Länder mit ihrer vorzüglichen technischen Infrastruktur eine solche Herausforderung schon meistern würden. Einige tun das immer noch, womit sie sich ähnlich verhalten wie die sogenannten „Klimaleugner*innen“. Das ist Ausdruck einer völligen Verkennung der Ausbreitungsdynamik des Virus, der beschränkten Leistungsfähigkeit unserer Gesundheitsinfrastruktur sowie der ökonomischen und sozialen Konsequenzen, die diese Krise mit sich bringen wird.

Diese Katastrophe läutet eine Zeitenwende historischen Ausmaßes ein. Die Gesellschaften Europas erleben das erste Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 eine derartige Zäsur. Sie durchleben gerade einen unermesslichen Bruch aller bisherigen Gewissheiten.

Alle europäischen Regierungen stellen ihre Maßnahmen unter die Prämisse, die kapitalistische Produktion, also die gesamte Arbeitswelt und damit die Mehrwert- und Profiterzielung, möglichst gering einzuschränken und soweit es geht aufrechtzuerhalten. Die Regierungen konzentrieren sich in ihrer Eindämmungsstrategie auf die Bereiche der Reproduktion und der Zirkulation von Menschen. Das ist eine politische Wahl und nicht Ergebnis einer epidemiologischen Abwägung. Wenn die Eindämmung der Ausbreitung der Krankheit das oberste Ziel wäre, müssten die Regierungen anders handeln und auch große Teile der gesellschaftlich nicht unmittelbar notwendigen Produktionsprozesse und Verkehrsinfrastruktur für eine gewisse Zeit stilllegen. Welchen Sinn ergibt in dieser Zeit der akuten Gesundheitskrise die Rüstungsproduktion? Welchen Sinn macht es, Werbung für unnötige Dinge zu konzipieren? Warum müssen in Turin, in Vitoria-Gasteiz, in München, in Wolfsburg weiter neue Autos produziert werden? (Die Autokonzerne fahren gerade ihre Produktion runter, allerdings, weil sie befürchten, ihre PKWs nicht mehr los zu werden.) Warum müssen in Zürich weiterhin komplexe Finanzprodukte zur Spekulation konzipiert werden? Warum wollte man in Österreich so lange wider besseren Wissens die Skiorte mit Tourist*innen füllen und sich potentiell anstecken lassen? Das hat mit dem Schutz der Menschen und der Gesellschaft nichts zu tun. Diese Priorität gilt alleine der Profiterzielung, ganz besonders in den exportorientierten Sektoren.

Weil die Regierungen nicht angemessen handeln, stiegen die Zahlen der Infizierten dramatisch an (Abbildung 4 und Abbildung 5). Seit der ersten Märzwoche überschlagen sich die Ereignisse. Städte, Kantone, Provinzen und Bundesländer erließen in größter Eile ihre eigenen Bestimmungen, in der Hoffnung sie könnten auf diese Weise die unmittelbaren Notlagen lindern. Zugleich häufen sich die Appelle von Wissenschafter*innen und Ärzt*innen, die sich selbst direkt per Youtube mit dramatischen Appellen an die Bevölkerung wenden, zu Hause zu bleiben und ihr Verhalten zu ändern. Doch diese individualisierten Appelle übersehen, dass die meisten Menschen strukturellen Zwängen unterliegen. Sie müssen zur Arbeit gehen und sie müssen zu Familienangehörigen, um diese zu pflegen. In der Westschweiz zwang beispielsweise der Einzelhandelskonzern Coop seine Angestellten, ungeachtet allfälliger Vorerkrankungen und der Notwendigkeit Kinder aufgrund von Schulschließungen zu Hause zu betreuen, zur Arbeit zu erscheinen. Andernfalls würden sie fristlos entlassen werden. Nur entschlossene Maßnahmen der Regierungen und kollektives Handeln der großen gesellschaftlichen Organisationen wie beispielsweise der Gewerkschaften kann organisatorische und materielle Antworten auf die Nöte der Bevölkerung bieten. Die ökonomischen Folgen konsequenter, die Wirtschaft umfassender Eindämmungsmaßnahmen dürfen nicht auf die Lohnabhängigen abgewälzt werden.

3.2 Maßnahmen und Strategien im Vergleich

In diesem Abschnitt skizzieren wir kurz den Verlauf und die ergriffenen Maßnahmen einiger Länder. Wir erarbeiten eine Kategorisierung, anhand derer sich die Strategien der jeweiligen Regierungen analysieren lassen. Wir zeigen auf, dass der öffentliche Druck die Regierungen oftmals zu weitergehenden Maßnahmen zwingt, als von ihnen selbst angestrebt.

Wie bereits in Abschnitt 2.2. gezeigt, haben die chinesischen Behörden vergleichsweise früh die Millionenstadt Wuhan und andere Städten isoliert, die Wirtschaft runtergefahren und weitere wichtige Maßnahmen ergriffen. Damit ist es gelungen, die Anzahl der Erkrankungen massiv zu reduzieren. China fährt damit nicht nur menschlich, sondern vermutlich auch ökonomisch besser als die europäischen Regierungen mit ihrem Desaster.

In Italien blieb die Ausbreitung des Virus zunächst verborgen. Auch nachdem das Ausmaß der Verbreitung in Norditalien sichtbar wurde, wurde nicht konsequent gehandelt. Nur zögerlich und Schritt für Schritt wurden zunächst einige lombardische Kleinstädte, dann die Lombardei und 14 weitere Provinzen, schließlich das ganze Land zur Sperrzone erklärt. Doch da war es bereits zu spät. Insbesondere die Lombardei einschließlich der Millionenstadt Mailand sind schwer betroffen. Die Kapazitätsgrenzen von Krankenhauspersonal, Krankenbetten, medizinischer Schutzausrüstung wurden bereits überschritten. Es können nicht mehr alle Menschen behandelt werden. Die Ärzt*innen müssen entscheiden, wen sie noch behandeln. Die Zahl der täglichen Neuinfektionen ist weiterhin hoch und die Infektionszahl verdoppelt sich weiterhin alle 3,6 Tage. Der Anstieg der Toten ist dramatisch und traumatisch (Abbildung 3). Ob die am 10. März getroffenen Maßnahmen zu einer ausreichenden Abschwächung führen, lässt sich noch nicht erkennen. Gemäß Medienberichten vom 19. März erwägt die Regierung noch schärfere Maßnahmen.


Abbildung 3: Anzahl Tote durch Erkrankung an Covid-19 in Italien.

Am 22. Februar wurden die ersten beiden Toten bekannt gegeben. Vom 4. März bis 23. März, also in drei Wochen starben 6000 Personen. Die Hälfte dieser Menschen starb in den letzten fünf Tagen (Quellen siehe Anhang)


Die österreichische Regierung handelt seit dem 13. März entschlossener. Allerdings nachdem sie ein Infektionscluster in den Skitourismusorten St. Anton und Ischgl über eine Woche verdrängte und damit zuließ, dass sich Hunderte von Einheimischen und Tourist*innen infizierten und letztere die Krankheit exportierten und in ihren Heimatländern weiterverbreiteten. Die Maßnahmen kommen seit dem 15. März einer Ausgangssperre für nicht unbedingt erforderliche Tätigkeiten gleich. Bemerkenswert ist, dass die Regierung eine vergleichsweise offene und klare Kommunikation praktiziert. Am 19. März tritt in Tirol eine weitere massive Verschärfung in Kraft. Alle 279 Gemeinden des Bundeslandes stehen unter Quarantäne. Die Menschen dürfen die eigene Gemeinde nur noch für die Arbeit und für die vor Ort nicht verfügbare Grundversorgung verlassen. Zudem darf nur noch nach Tirol einreisen, wer dort zu Hause ist. Offen erklärte Gesundheitsminister Anschober, dass Beschränkungen im Alltag mehrere Monate dauern müssten, um die Ansteckungskurve so flach zu halten, dass das Gesundheitswesen nicht überlastet werde. (7) In Österreich scheint Sebastian Kurz seine Chance erkannt zu haben und sich zum starken politischen Führer in dieser herausfordernden Zeit zu stilisieren. Er agiert rhetorisch geschickt, spricht zu den Menschen und vermittelt Verantwortungsbewusstsein, Führungsstärke, (nationalen) Zusammenhalt und Empathie. Er redet die Krise nicht klein, und macht sie den Menschen in ihrer Dramatik deutlich. All dies kann dazu führen, dass er politisch gestärkt aus der Krise hervorgeht und seinen Regierungsanspruch auf viele Jahre sichert.

Nachdem der Schweizer Bundesrat bereits Ende Februar alle größeren Sportanlässe und die Basler Fasnacht absagte und zumindest symbolisch Entschlossenheit markierte, zögerte er in Folge weitere einschneidende Maßnahmen hinaus. Zumindest teilweise gaben es die Schweizer Behörden frühzeitig auf, die vermutlich infizierten Menschen systematisch auf Corona zu testen. Zielgerichtete Maßnahmen werden damit unmöglich. Am 13. März beschloss die Regierung weitere Beschränkungen für Veranstaltungen, die aber weniger konsequent waren als die Maßnahmen in Österreich. Teilweise unabgesprochen riefen etliche Kantone den Notstand aus und beschlossen härtere Einschränkungen. Am 16. März gab der Bundesrat in einer dramatischen Medienkonferenz den Notstand bekannt, der einer Stilllegung des zivilen Lebens abseits der Berufstätigkeit gleichkommt. Gleichentags machen Meldungen die Runde, dass Krankenhäuser im Tessin die Grenzen ihrer Belastbarkeit bereits erreicht haben.

Komplett merkwürdig und geradezu verantwortungslos verhält sich die deutsche Regierung. Maßnahmen werden schleppend, unkoordiniert und in teils geringerem Ausmaß als in den anderen betroffenen Ländern ergriffen. Bundeskanzlerin Merkel priorisierte bei ihrer Pressekonferenz am Mittwoch, 11. März die Gewährleistung der Arbeit von Polizei und Armee, bevor sie nur ganz kurz die notwendige Aufrechterhaltung des Gesundheitswesens thematisierte. Anschließend fokussierte sie gänzlich auf die Hilfen für die Wirtschaft und Forschungsgelder und die angebliche Solidarität in der EU. „Deutschland wird das, was notwendig ist, tun, um seine Wirtschaft zu schützen.” Das ist ehrlich und direkt. In ihrer ganzen Kommunikation demonstriert die deutsche Regierung unmissverständlich, dass sie den wirtschaftlichen Interessen den Vorrang gibt. Diese Regierung opfert bewusst Hunderte Menschen der alten Generation. Bemerkenswerterweise fällt Dietmar Bartsch, dem Co-Vorsitzenden der Bundestagsfraktion der Partei DIE LINKE, nichts Gescheiteres ein, als der Regierung die Unterstützung seiner Partei zu versichern. Hoffentlich setzt sich diese ausgesprochen dumme Position in der Partei nicht durch. Damit würde sich die Partei Die Linke gerade in einer Zeit höchster Dringlichkeit überflüssig machen. Bemerkenswert ist auch, dass kein*e Exponent*in der Linkspartei Vorschläge eingebracht hat, wie die Bevölkerung sofort zu schützen ist beziehungsweise sich selber schützen kann. Mittlerweile mehren sich dramatische offene Briefe und Appelle von Beschäftigten im Gesundheitswesen, von fahrlässigen Entscheidungen abzusehen und endlich die nötigen Mittel bereitzustellen. 7 Sie zeugen davon, dass sich aktuell akute Fahrlässigkeit mit der jahrelangen strukturellen Verantwortungslosigkeit gegenüber dem Gesundheitswesen paart.

Ab dem 14. und 15. März verschärfte sich die Lage dramatisch. In nahezu allen Ländern Europas zeigte sich eine beschleunigte Ausbreitung des Virus und die Zahl schwerer und tödlicher Verläufe steigt (Abbildung 4 und Abbildung 5). Besonders Spanien verzeichnet einige schnell wachsende Infektionscluster. Die betroffenen Regionen stehen kurz davor, in dieselbe katastrophale Situation wie die Lombardei abzugleiten. Am 14. März gab die Regierung Sanchez ausgesprochen einschneidende Maßnahmen einschließlich einer Ausgangssperre in ganz Spanien bekannt. Das zivile Leben, allerdings nur abseits von Büro und Fabrik, kommt zum Erliegen. Auch in Frankreich geraten in einigen Regionen, wie im Elsass, die Krankenhäuser bereits an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit. Frankreich führte am 15. März unverantwortlicherweise noch die Gemeinderatswahlen mit unzähligen Wahlveranstaltungen durch. Schon am 14. März verkündete Präsident Macron einschneidende Beschränkungen für das öffentliche Leben und tags darauf Maßnahmen, die einem Ausgehverbot in der Freizeit gleichkommen.


Abbildung 4: Kumulierte getestete Infizierte vom 19. Februar bis 21. März 2020 in Italien, Deutschland, Österreich, Schweiz.

Die Zahlen sind äußerst vorsichtig zu beurteilen. Das Testwesen ist sehr lückenhaft und kaum zwischen den Ländern zu vergleichen, nicht einmal zwischen Bundesländern und Kantonen. Die Behörden testen unterschiedlich dicht. Verschiedene Behörden vernachlässigen wegen mangelnder Kapazitäten das Testwesen. Bislang wurden schon mehrfach im Nachhinein die Zahlen nach oben korrigiert. Darüber hinaus gilt es spezifische Sachverhalte zu beachten. Beispielsweise steckten sich in dieser Frühphase mehrere hundert Personen in österreichischen Wintersportorten an, wurden dann aber in Norwegen, Dänemark, Island und Deutschland positiv getestet. Für Deutschland gibt es stark unterschiedliche Zahlen. Das Robert Koch Institut gibt am 23. März 22 672 Infizierte bekannt. Die Berliner Morgenpost gibt für den 23. März (18 Uhr) gar 27 546 bestätigte infizierte Personen an. Wir haben in der Grafik beide Zahlen übernommen. Darum haben wir für die letzten fünf Tage zwei Kurven eingetragen. Die Steigung der Kurven für die Schweiz und Deutschland sind kaum flacher als jene für Italien. Einen besseren Vergleich vermittelt Abbildung 5 (Quellen siehe Anhang).


Die britische Regierung vertritt die Position, es gehe nicht darum, die Ausbreitung der Krankheit abzuschwächen oder zu stoppen. Die Regierung sieht vor, dass sich die Infektionen weitgehend ungebremst ausbreiten und sich in der Bevölkerung möglichst rasch eine Herdenimmunität ausbilden solle. Dieser Plan schließt ein, dass sich 60% der Bevölkerung, das sind 40 Millionen Menschen, in kürzester Zeit infizieren. Der Höhepunkt der Infektionswelle solle im Mai und Juni erreicht werden. Nur alte und chronisch kranke Menschen sollen geschützt werden. Menschen über 70 Jahre sollen sich bis zu vier Monaten weitgehend selbstverantwortlich isolieren oder nötigenfalls zwangsweise isoliert werden. Unternehmen wie Uber und Deliveroo sollen die Versorgung sicherstellen. Weitere Schutzmaßnahmen gibt es bislang kaum in Großbritannien. Die offiziellen Zahlen zu den Infektionsfällen sind weit von der Realität entfernt, weil kaum getestet wird. Johnson kündigte am 12. März unverblümt an, dass sich viele Familien darauf einstellen müssten, „ihre Liebsten vorzeitig zu verlieren“. Richard Horton, Chefredakteur des wichtigen medizinischen Journals „The Lancet“, wirft Johnson und Gesundheitsminister Jeremy Hunt vor, sie würden „Roulette mit der Gesundheit der britischen Bevölkerung spielen“ und „schlafwandelnd in einen Hurrikan spazieren“. (8)

Mit dieser Position gesteht Johnson offen ein, dass die Regierung eine schlichte Kosten-Nutzen-Überlegung anstellt. Die wirtschaftlichen Kosten restriktiver Maßnahmen oder gar eines zeitweisen Runterfahrens der Wirtschaft wären für das Kapital, dessen Interessen er vertritt, viel zu kostspielig. Es kommt günstiger einen Teil der alten Bevölkerung zu opfern. Dies gilt umso mehr als die neoliberale Politik die Altersvorsorge zugunsten privater kapitalgedeckter Pensionsfonds ebenfalls massiv schwächte. Er weiß, dass das Nationale Gesundheitssystem nach der brutalen neoliberalen Austeritätspolitik nicht ansatzweise den Anforderungen einer landesweiten Epidemie genügt. Darum rechnete er unverblümt mit dem Tod vieler Menschen. Angesichts der rasch ansteigenden Zahl der Infizierten wird das Nationale Gesundheitssystem (NHS) mit größter Wahrscheinlichkeit aber längst früher als „vorgesehen“ an die Grenzen der Leistungsfähigkeit gelangen. Mit nur 6,6 Intensivbetten auf 100 000 Einwohner*innen ist Großbritannien noch wesentlich schlechter auf eine große Gesundheitskrise vorbereitet als andere Länder in Europa (Tabelle 1). Demzufolge ist davon auszugehen, dass sich in Großbritannien bereits in kurzer Zeit eine teilweise bewusst herbeigeführte gesellschaftliche und menschliche Katastrophe ereignen wird. Auf Druck der Opposition, der empörten Bevölkerung und von zahlreichen Wissenschafter*innen kündigte Johnson am 16. März allerdings schärfere Maßnahmen an.


Abbildung 5: Kumulierte getestete Infizierte normiert ab Tag 1

Tag 1 entspricht etwa der 100. infizierten Person in einem Land. In Italien war das der 23. Februar (152 Fälle), in Deutschland der 1. März (117 Fälle), in der Schweiz der 5. März (87 Fälle) und in Österreich der 8. März (99 Fälle). Diese Abbildung vermittelt einen Eindruck über den Verlauf der Ausbreitungsdynamik nachdem die 100. Person positiv getestet wurde. Es gelten die gleichen Einschränkungen wie bei Abbildung 4. Diese Grafik zeigt, dass sich Deutschland und die Schweiz auf einem ähnlichen Ausbreitungspfad wie Italien befindet, nur um rund 10 Tage zeitversetzt. Die Dynamik verstärkt sich seit dem 18. Tag (18. März) massiv (Quellen siehe Anhang).


Abbildung 6: Anzahl Tote durch Erkrankung an Covid-19 in Deutschland, Österreich und der Schweiz.

Für die Anzahl der Todesfälle in Deutschland zirkulieren stark unterschiedliche Angaben. Das Robert Koch Institut publiziert jeweils zeitverzögert um 0:00 Uhr am Folgetag. Die Berliner Morgenpost berichtet für den 23. März von 115 Toten in Deutschland. Der in den letzten Wochen starke Anstieg der Infizierten wird die Anzahl der Toten in der kommenden Zeit ebenfalls stark ansteigen lassen. (Quellen siehe Anhang)


Trotz der zahlreichen, durchaus drastischen Maßnahmen, welche viele Regierungen Europas nun ergriffen haben, ist zweifelhaft, ob sie ausreichend wirksam sind. Es ist zu erwarten, dass in den nächsten Wochen mehrere tausend Menschen in Europa an der Covid-19 Erkrankung sterben werden. Die Daten in der Abbildung 6 vermitteln nur eine frühe Tendenz. Ob Maßnahmen wie Schulschließungen, die auf den ersten Blick drastisch wirken, tatsächlich den erhofften Effekt erzielen, wird in Expert*innenkreisen widersprüchlich diskutiert. Ein WHO Epidemiologe, der als Chef eines Expert*innenteam in China war, schildert, dass beim Ausbruch in Hubei die Kinder ohnehin in den Schulferien waren, die Schulen als Teil des absoluten Shutdowns dann weiterhin geschlossen blieben. In Singapur und Südkorea blieben die Schulen jedoch offen, weil man zu dem Ergebnis kam, dass Schulen nicht die treibende Kraft der Virusausbreitung seien. Dennoch haben beide Länder die Ausbreitung weitgehend gestoppt. Die Erfahrungen in diesen Ländern können darauf hindeuten, dass die entscheidenden Maßnahmen zur effektiven Eindämmung oder Verlangsamung, andere sind, als die von den europäischen Regierungen zu Beginn ergriffenen. Zugleich muss zugestanden werden, dass angesichts der in Europa nun viel fortgeschritteneren Ausbreitung des Virus, ohnedies in vielen Ländern nur mehr ein konsequenter Shutdown erfolgreich sein wird. China ging mit dem verordneten Stillstand in Wuhan und anschließend der Provinz Hubei sehr weit und war letztlich erfolgreich. Das ist ein starkes Argument dafür, dass ein temporärer Stillstand der gesellschaftlich nicht unmittelbar notwendigen Sektoren der Wirtschaft erforderlich ist.

Zusammenfassend lassen sich mehrere Strategien erkennen, wie die Regierungen mit der Ausbreitung des Coronavirus umgehen.

Die erste Strategie besteht darin, die Ausbreitung des Virus zu verhindern und dieses gewissermaßen auszuhungern und einzudämmen. Entsprechend wird von Containment gesprochen. Taiwan, Singapur, Hongkong, Japan, Südkorea und China, aber auch Länder wie Vietnam und Thailand verfolgen diese Strategie mit vergleichsweise großem Erfolg. Doch die internationale Ausbreitung des Virus stellt den Erfolg dieser Strategie in Frage. Italien verfolgte diese Strategie zu Beginn ebenfalls, allerdings zaghaft und mit völlig ungenügenden Schritten. Eine gemeinsame und auf viele Wochen oder Monate ausgelegte gemeinsame Aktion der europäischen Länder hätte aber durchaus erfolgreich sein können.

Die zweite Strategie will die Verbreitung des Virus bremsen und damit die Geschwindigkeit der Erkrankungszunahmen vermindern, um den Höhepunkt der Erkrankungen abzuschwächen und hinauszuzögern. Hier wird von Mitigation gesprochen. Der Hashtag #flattenthecurve erfasst bildlich den Kern dieser Strategie. Es wird das Ziel verfolgt, die gleichzeitige Belastung der Gesundheits- Infrastruktur zu reduzieren. Diese Strategie wenden in unterschiedlichen Ausprägungen die meisten Regierungen in Europa mehr oder weniger konsequent an. Unter dem Druck der Bevölkerung wollen sie die Gesellschaft zusammenhalten.

Die dritte Strategie beschränkt sich auf die nur schwach abgebremste Durchseuchung eines Großteils der Bevölkerung. Die damit erreichte Herdenimmunisierung führt dann zur Abschwächung der Ausbreitung. Das ist die Strategie der britischen und der niederländischen Regierung. (9) Sie entspricht der hyperliberalen Orientierung und nimmt wissentlich den Tod von noch mehr Menschen in Kauf als diejenigen, die die zweite Strategie eingeschlagen haben. Eine Studie des Imperial College London kommt in einer Modellrechnung zum Schluss, dass diese Strategie selbst unter der absolut unwahrscheinlichen Annahme, dass alle Patient*innen ausreichend behandelt werden können, innerhalb kürzester Zeit 250.000 Tote in Großbritannien und 1,1-1,2 Millionen Tote in den USA bedeuten würde. (10) Allerdings gilt es zur Herdenimmunisierung einzuwenden, dass diese bislang im Kontext von Impfkampagnen diskutiert und verfolgt wurde. Sandro Mezzadra, Professor für politische Theorie in Bologna, bezeichnet diese Strategie als malthusianisch und vom Sozialdarwinismus inspiriert, die letztlich einen Teil der Gesellschaft im Sinne einer scheinbar „natürlichen Selektion“ opfert. (11)

Die zweite und dritte Strategie lassen sich nicht scharf voneinander unterscheiden. Möglicherweise verfolgen Deutschland und die Schweiz auch Elemente der dritten Strategie. Der öffentliche Druck und die länderübergreifende Dynamik brachte sie womöglich ab 14./15. März dazu, stärker auf Maßnahmen zur Abbremsung der Virusverbreitung zu setzen. Wobei die deutsche Regierung, trotz des extrem starken Anstiegs der Infizierten, auch bis zum 19. März weiterhin irritierend wirkungslos reagiert. Wir nehmen an, dass die Dynamik der Ereignisse und Druck aus der Bevölkerung alle Regierungen zu einschneidenderen Maßnahmen bringen wird. In diesem Kontext ist es umso unverständlicher, dass die Partei DIE LINKE nicht energisch kurzfristig wirksame Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung einfordert.

Boris Johnson, Donald Trump und die Regierung Rutte in den Niederland scheinen nun derart unter Druck ihrer Bevölkerung zu geraten, dass sie Elemente der zweiten Strategie zumindest kosmetisch in ihr beschränktes Repertoire einbauen. Die Abbremsung und die (liberale) Herdenimmunisierung lassen sich also nicht streng voneinander abgrenzen. Es zeigt sich, dass der öffentliche Druck und das gesellschaftliche Kräfteverhältnis die Maßnahmen zur Krisenbewältigung beeinflussen können.

Auch neoliberale Leitmedien wie die Neue Zürcher Zeitung schreiben nun, dass wirksame Maßnahmen zu spät ergriffen wurden. (12) Doch gleichzeitig nehmen sie die Regierungen vor Kritik in Schutz. Denn niemand habe in Europa bereits solche Erfahrungen gemacht und konnte demnach auch keine Lerneffekte vorweisen wie beispielsweise Taiwan. Das ist richtig. Doch ist es falsch, dass niemand die Ausbreitungsdynamik des Virus hätte erkennen können. Es gab genügend Warnungen und Ausbreitungsmodelle von Epidemiolog*innen. Und vor allem wäre es möglich gewesen von Erfahrungen aus Asien und der laufend beobachtbaren Katastrophe in Italien zu lernen. Entscheidend ist, dass alle Regierungen von Anfang an von der Prämisse ausgegangen sind, die für die Wettbewerbsfähigkeit relevanten Sektoren der Wirtschaft von den Maßnahmen auszunehmen. Das ist das zentrale Kennzeichen der Strategien aller Regierungen. Das haben alle Regierungen, auch die sozialdemokratisch-linkspopulistische Regierung in Spanien, in den Tagen hektischer Entscheidungen zwischen dem 13. und 16. März nochmals bekräftigt. Allen Regierungen ist zudem gemeinsam, dass sie mit ihrer Politik die Verantwortung individualisieren. Das überrascht nicht. Die Strategie der Individualisierung entspricht dem neoliberalen Dogma, das übrigens auch in der Klimapolitik seinen Niederschlag findet. Kritische Stimmen, die nun den autoritären Staat heraufbeschwören, individualisieren die Herausforderung letztlich ebenfalls.

Die rasche Ausbreitung der Seuche ist nicht zuletzt ein Ergebnis der jahrelangen Austeritäts- und Kürzungspolitik im Gesundheitsbereich in nahezu allen Ländern Europas. Fast überall herrscht ein bewusst herbeigeführter akuter Personalmangel. Das Gesundheitswesen ist generell unterfinanziert. Nahezu überall haben Privatisierungen und unsolidarische Finanzierungsmechanismen dazu geführt, dass die Krankenhäuser nicht funktionieren, um die Menschen zu pflegen und den Bedürfnissen der Gesellschaft zu entsprechen, sondern um Geld zu erwirtschaften, sei es direkt oder sei es durch Fallpauschalen. Allerdings ist einzugestehen, dass auch gut funktionierende Gesundheitssysteme mit dieser Krise Mühe bekunden würden.

Die dringend erforderliche Verlangsamung der Verbreitung der Erkrankungen unter die Kapazitätsgrenzen der Gesundheitssysteme bedeutet jedoch, dass die nun verhängten Maßnahmen der Ausgangssperren und -beschränkungen über viele Monate aufrecht erhalten bleiben müssen. Verschiedenste Modellrechnungen zeigen dies bereits. (13) Die massiven sozialen und ökonomischen Konsequenzen für unsere Gesellschaften sind kaum absehbar. Entscheidend wird in diesem Fall sein, wie hoch die Aussichten auf die rasche Entwicklung, ausreichende Testung, umfangreiche Produktion und Verteilung eines wirksamen Medikaments ist. Einige (bestehende) Medikamente scheinen eine Wirkung zu zeigen und werden bereits in kleinen Studien an Covid-19 Erkrankten geprüft. Doch auch im besten aller Fälle werden etliche Monate vergehen bis ein solches Medikament weltweit einsatzbereit sein wird.

3.3 Klasse, Geschlecht und Virusbekämpfung

Das Corona Virus diskriminiert nicht, die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen es auftritt, jedoch umso mehr. Die Strategien der Regierungen haben einen Klassencharakter und wirken geschlechtsspezifisch. Die strategische Entscheidung die Mehrwertproduktion um jeden Preis aufrechtzuerhalten dient den Kapitalinteressen in den jeweiligen Ländern. Durch die Aufrechterhaltung des Arbeitszwangs werden die Lohnabhängigen bewusst dem Ansteckungs- und Krankheitsrisiko ausgesetzt. Da Lohnfortzahlung und Unterstützungszahlungen für Prekäre und kleine Selbständige zumeist nicht geregelt sind, erfahren die betroffenen Menschen einen ungeheuren Druck sich weiterhin dem Ansteckungsrisiko auszusetzen. Daran ändern auch die individualisierten Appelle, man möge doch zu Hause bleiben, nichts.

Reiche Menschen können sich ihre gut ausgerüsteten Plätze in den Krankenhäusern und sogar eigene Diagnostik- und Beatmungsgeräte kaufen. Teure private Zusatzversicherungen mit erweitertem Leistungsumfang erhöhen in der Krise die Wahrscheinlichkeit auf bevorzugte Behandlung. In vielen Ländern, insbesondere den USA, stellt sich überhaupt die Frage der Krankenversicherung und ob jemand sich jegliche Behandlung, aber auch bereits den Test auf die Infektion leisten kann. Auf die Krankenversicherungen werden zusätzliche Belastungen zukommen. Antworten diese mit Prämienerhöhungen und Leistungsabbau, treffen sie die arme Bevölkerung weit überdurchschnittlich. Menschen mit hohem Einkommen haben eine deutlich höhere Lebenserwartung. Menschen, die unter schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen leiden, sterben früher. (14) Die Quarantänemaßnahmen haben einen Klassencharakter. Sie treffen eine vielköpfige Familie in einem Wohnblock ungleich härter, als Menschen mit eigenem Haus und Garten. Senior*innen mit Mindestrente können sich keinen teuren Lieferservice leisten und bleiben gezwungen sich bei alltäglichen Besorgungen einem erhöhten Ansteckungsrisiko auszusetzen. Migrant*innen arbeiten häufiger unter schlechten Bedingungen und wohnen eher in beengten Verhältnissen. Sie sind daher wesentlich härter von einschneidenden Quarantänemaßnahmen betroffen, als diejenigen, die sich durch Homeoffice im schönen Eigenheim wesentlich leichter und bequemer abschirmen können.

Im Gesundheits- und Pflegesystem sind überdurchschnittlich viele Frauen beschäftigt. Diese Menschen werden in den kommenden Wochen vielfach über ein vorstellbares Maß hinaus sowohl physisch als auch psychisch belastet werden. Sie stehen im Kampf gegen Corona an der Frontlinie, ständig dem Risiko der eigenen Ansteckung ausgesetzt. Umso mehr als adäquate Schutzbekleidung knapp werden kann, wie sich bereits an manchen Orten in Italien zeigt.

Die Schließungen von Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen haben zur Folge, dass vielfach die Frauen die Kinder zu Hause betreuen müssen. Sie werden vor der Herausforderung stehen Berufstätigkeit, Kinderbetreuung, und Haushaltsführung unter erschwerten Bedingungen zu bewältigen. Alleinerzieherinnen sind hiervon besonders hart betroffen. Noch keines der deutschsprachigen Länder hat die Schulschließungen mit ausreichenden Maßnahmen im Bereich von Anspruch auf Betreuungsurlaub, Kündigungsschutz, Entgeltfortzahlung etc. flankiert. So können in Österreich etwa Lohnabhängige mit Betreuungspflichten für Kinder unter 14 Jahren von den Betrieben und Unternehmen bis zu drei Wochen Sonderbetreuungszeit bekommen. Die Entscheidung darüber trifft allerdings das Unternehmen. Ein Drittel der Lohnkosten für diese Zeit übernimmt der Staat.

Frauen sind zudem mehrheitlich zuständig für die Pflege und Sorge der älteren Generation, für die Einkäufe und andere Unterstützung geleistet werden muss.

Auch von den Schließungsmaßnahmen und Einschränkungen im Tourismus, in der Gastronomie, im Handel, in der Kinderbetreuung etc. sind Frauen deutlich stärker betroffen, da all diese Bereiche überdurchschnittlich viele weibliche Arbeitskräfte aufweisen. Vielfach ist noch unklar, welche arbeitsrechtlichen Regelungen getroffen werden. Die Unternehmen drängen bereits auf die Möglichkeit zur augenblicklichen Kündigung der Mitarbeiter*innen.

Verschärfend kommt der zu erwartende Anstieg häuslicher, männlicher Gewalt gegenüber Frauen hinzu. Die Statistik zeigt seit Jahren einen massiven Anstieg rund um die Feiertage, wenn die Familien zusammen sind. Unter den verschärften Voraussetzungen von Isolation oder Ausgangsbeschränkungen werden Gewalttaten von Männern gegenüber Frauen in ihren eigenen vier Wänden womöglich stark zunehmen. Studien über die Situation in Wuhan bestätigen dies bereits. (15)

Die Regierungen kalkulieren mit ihren Strategien zur Abbremsung der Ausweitung der Infektionen und Neuerkrankungen bewusst die höhere häusliche Belastung der Frauen ein und setzen zugleich die Berufstätigen bewusst einem höheren Ansteckungsrisiko aus. Sie tun dies, um die Schlüsselsektoren der Wirtschaft und die Position der Konzerne im internationalen Wettbewerb nicht zu schwächen.

3.4 Bankrott der EU – Nationalstaat gegen Nationalstaat

Eric Gujer, Chefredakteur der NZZ, schreibt am 16. März in der NZZ: „Europa stünde besser da, wenn es koordiniert gehandelt hätte. Das wäre keine Solidarität mit den zuerst betroffenen Italienern gewesen, kein Altruismus, sondern wohlverstandenes Eigeninteresse. Was Italien durchmacht, rollt nun auch auf das Tessin zu, das nun einmal zur Großregion Mailand gehört. Weil jeder Staat alleine handelte, drohen nun alle dieselbe Überwältigung zu erleben – nur zeitlich versetzt.“ (16) Diese Feststellung ist zweifellos korrekt. Als überzeugter Liberaler kann er jedoch keine weitergehenden Schlüsse ziehen als auf die künftigen Lerneffekte der Regierungen und liberalen Demokratien zu setzen.

Die EU hat moralisch und politisch komplett versagt und zwar nicht nur, weil die führenden Politiker*innen den Ernst der Lage nicht erkannten, sondern weil die EU eben keine Solidargesellschaft, sondern eine Organisation zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Stärksten in Europa ist. Die EU war zu keiner Zeit willens und in der Lage die Strategien der Regierungen zu koordinieren. Sie war weit davon entfernt, den Menschen in Italien entschlossen beizustehen. Noch bis vor kurzer Zeit hielt sie konsequent an den neoliberalen Dogmen der Austeritätspolitik, des freien Kapital- und Warenverkehrs fest. In diesen dramatischen Tagen beschließen die EU, die EZB und die Regierungen Rettungspakete in bislang unvorstellbarer Höhe für die Wirtschaft und den Finanzsektor. Sie treiben damit die Staatsverschuldung sprunghaft in die Höhe. Doch wie in früheren Krisen ist zu erwarten, dass sie nach einer Beruhigung der Lage, alles daransetzen werden, die Rechnung auf die Masse der Lohnabhängigen, Prekären, Scheinselbständigen und Armen abzuwälzen.

Die EU kündigte am 10. März 2020 ein mit 25 Milliarden Euro dotiertes Sonderpaket zur Abfederung der wirtschaftlichen Folgewirkungen der Coronakrise und zur Stützung der Wirtschaft an. Das Geld solle vor allem Klein- und Mittelbetrieben (KMU) helfen und Maßnahmen gegen Arbeitslosigkeit unterstützen. (17) Die EU stellt klar, dass das keine zusätzlichen Mittel sind. Es gebe keinen „Corona-Fonds“. Die Gelder würden aus anderen Bereichen umverteilt. Wer dieses Geld für welche Zecke bekommen wird, wird die Öffentlichkeit wohl erst im Nachhinein erfahren. Zumindest in dieser Hinsicht ist US-Präsident Trump ehrlicher, wenn er ganz offen mit seinen „Deals“ mit Großkonzernen prahlt. Doch auch die Präsidentin der EU-Kommission von der Leyen äußert sich unmissverständlich: „Wir werden alle uns zur Verfügung stehenden Mittel nutzen, damit die europäische Wirtschaft diesem Sturm widersteht.“ (18)

Die rasante Verschlechterung der Situation und die Maßnahmen der getriebenen nationalen Regierungen können nun allerdings in Widerspruch zu den Prinzipien des freien Warenverkehrs in der EU geraten. Deshalb nimmt von der Leyen die Situation zum Vorwand, um nochmals in aller Deutlichkeit den freien Warenverkehr zu verteidigen. Gesundheitsschutz dürfe nicht dazu führen, dass wichtige Güter und Personal blockiert würden. „Wenn wir jetzt nicht handeln, werden Läden Schwierigkeiten bekommen, ihre Lager mit bestimmten Produkten zu füllen“, meinte von der Leyen in einem Video vom 15. März 2020 auf Twitter. „In diesem Moment der Krise ist es von äußerster Wichtigkeit, unseren gemeinsamen Binnenmarkt am Laufen zu halten.“ (19) Das ist pure Heuchelei, da ausgerechnet Deutschland Transitlieferungen von medizinischem Material an die Schweiz und an Österreich im Hamburger Hafen blockiert(e?). Ganz offen und brutal will die EU die Lieferung medizinischer Hilfsmittel an Drittstaaten unterbinden. Die Schließung der EU-Außengrenzen ist an Zynismus kaum zu überbieten. Die EU selbst ist Epizentrum und Herd der Pandemie und zentral mitverantwortlich für die laufende gesellschaftliche Katastrophe. Die Probleme kommen nicht von außen, sondern sie entstehen und vermehren sich ausgehend vom Zentrum der EU.

Die EU hätte Anfang bis Mitte Februar Zeit gehabt, mit einer Garantie der solidarischen Übernahme aller Kosten der erforderlichen rund ein- bis zweimonatigen Wirtschaftspause in den betroffenen Gebieten Norditaliens problemlos die Möglichkeit gehabt, entscheidend zur Ausbremsung der Seuche beizutragen. Das hat sie bewusst nicht gemacht und im Gegenteil die Menschen in Italien alleine gelassen. Sie trägt Mitschuld am Tod von bereits 6077 Toten in Italien (Stand am 23. März 2020) und Abertausenden von Toten in anderen Ländern Europas und auf der Welt.

Diese Krise zeigt einmal mehr, dass die EU ein wesentliches Hindernis für jegliche Art solidarischer und ökologischer Politik ist. Nun sind Ärzt*innen aus China und Kuba mit Hilfslieferungen (31 Tonnen medizinischer Güter inklusive tausende Beatmungsmaschinen) in Norditalien zur Unterstützung der Bevölkerung eingetroffen. Abgesehen vom unmittelbaren Nutzen, vermittelt dieser Schritt eine ungeheure Symbolwirkung. Europa lässt Italien im Stich, Ärzt*innen aus China und Kuba treffen ein. Die EZB-Chefin Christine Lagarde verlautbarte in einer Zeit höchster Not und Dringlichkeit in einer Pressekonferenz am 12. März, dass es nicht Aufgabe der EZB sei, die Haushaltsprobleme und die Herausforderung der stark ansteigenden Zinszahlungen Italiens zu lösen. Damit verschärft sich Italiens wirtschaftliche Situation und der politische Handlungsrahmen zur Bewältigung der Krise verkleinert sich massiv. Die EU ist in ihrem Kern eine unsolidarische, undemokratische und autoritäre Organisation, die sich gegen eine wirkliche Kooperation zwischen den Gesellschaften in Europa und auf globaler Ebene richtet. Die EU ist nicht reformierbar. Es gilt das Bewusstsein zu schärfen, dass die EU grundsätzlich in Frage zu stellen ist. Mit ihr lässt sich keine solidarische und ökologische Wende einleiten.

Die nationalen Regierungen befinden sich nun gewissermaßen in einem absurden Wettlauf die Grenzen zu schließen. EU-Ländern halten sich gegenseitig medizinische Schutzausrüstung, Medikamente aber auch Personal vor. Die Schweizer Regierung fürchtet, dass Frankreich auf die vielen Tausend französischen Beschäftigten im Schweizer Gesundheitswesen zugreift und sie zwingt im Heimatstaat zu arbeiten. Allein in Österreich sind sechzigtausend Pfleger*innen aus Osteuropa in der 24-Stunden-Pflege tätig. Können (oder wollen) diese nicht mehr einreisen, stellt das die österreichische Regierung aber auch viele Familien vor akute Herausforderungen. In der deutschen und österreichischen Landwirtschaft arbeiten Tausende von Erntehelfer*innen aus Osteuropa. Ohne diese Arbeitskräfte wird die Landwirtschaft unter den gegebenen Bedingungen nicht funktionieren können, was rasch zu Versorgungsengpässen führen kann. Werden deshalb (arbeitslose) Arbeitskräfte in den Ländern (zwangs)rekrutiert oder werden die Grenzen doch wieder selektiv geöffnet? Die Speditionsfirmen kommen in Bedrängnis, weil sie auf billige Arbeitskräfte aus Osteuropa setzen und diese nun nicht mehr einreisen dürfen oder wollen. Ungarn hat den Arbeitskräftekorridor zwischen Ost- und Westeuropa geschlossen. Diese geradezu grotesk und verrückt anmutenden Vorgänge offenbaren, wie sich die Widersprüche in Europa dermaßen zugespitzt haben, dass ein Wettlauf gemäß der Maxime „rette-sich-wer-kann“ eingesetzt hat. Wenn die Regierungen und die EU nicht in der Lage sind, diese Widersprüche zu lösen oder zumindest zu moderieren, entsteht ein weiterer Krisenprozess, der schließlich in das teilweise Zerbrechen der EU münden kann.

4. Auf dem Weg in die globale Wirtschaftskrise – Widerstand entwickeln

Bereits vor Ausbruch der Coronakrise kühlte sich die Konjunktur in vielen Ländern der Welt ab. Die Industrieproduktion setzte zum Sinkflug an. Die Höhenflüge an den Finanzmärkten hatten keine reale Basis in Bezug auf künftiges Wachstum und Profitentwicklung. Sie waren im Gegenteil Ausdruck der heranziehenden Krise, weil die Kapitaleigentümer*innen es vorzogen, waghalsige Wetten abzuschließen anstatt in Produktions- und Dienstleistungserweiterungen zu investieren. Das heißt, die latente Überakkumulation drohte bereits vor der Ausbreitung des Coronavirus in eine akute und offensichtliche Akkumulationskrise zu gleiten.

Das ist der Kontext in dem sich nun die Coronakrise mit ihrer spezifischen und extrem schnellen Dynamik entfaltet. Die Ausbreitung des Virus und die verzweifelten Versuche diese einzudämmen waren der entscheidende Schlag, der das aufgeblähte fiktive Kapital an den Finanzmärkten in sich zusammensacken lässt. Stockungen bei den Lieferketten und noch vielmehr die schrumpfenden Absatzmärkte führen nun in rascher Folge zu bedeutsamen Produktionsstilllegungen, die wiederum bei den Zulieferfirmen eine Kettenreaktion auslösen. Überstürzt kündigte Volkswagen am 16. März an, die Produktion an vielen Standorten in Europa stillzulegen. Das ist ein dramatischer Schritt. Mittlerweile sind auch in mehreren VW-Werken Coronainfektionen aufgetreten. Das ist jedoch nicht der Grund für das Runterfahren der Produktion. Beinahe alle Automobilhersteller Europas haben auf absehbare Zeit ihre Produktion teilweise bis weitgehend stillgelegt. Das betrifft auch die große Zulieferindustrie. Airbus setzt vorerst für einige Tage die Produktion aus. Österreichs größter Baukonzern stellt die Bauarbeiten an sämtlichen Baustellen ein. Mehrere Fluggesellschaften reden vom „Grounding“. In Österreich wurden alleine an den zwei Tagen, die unmittelbar dem Erlass der Ausgangsbeschränkungen folgten, dem 16. und 17. März 49.000 Menschen arbeitslos gemeldet. Das ist ein Zuwachs der Arbeitslosigkeit um über 12% in nur zwei Tagen. Nun geht es Schlag auf Schlag. Kein Tag vergeht, ohne dass nicht viele kleine unscheinbare und große in den Medien sichtbare Entlassungen stattfinden. Die Arbeitslosigkeit nimmt rasch zu. Der österreichische Gesundheitsminister spricht bereits offen aus, dass die getroffenen Maßnahmen über Monate hinweg durchgehalten werden müssen, um die Kapazitätsgrenzen des Gesundheitssystems nicht zu sprengen. Das wird unvorstellbare Auswirkungen haben. Die Kosten der Krise dürfen nicht auf die Gesellschaft und die einzelnen Arbeiter*innen abgewälzt werden.

Der unkontrollierte Shutdown der Wirtschaft, wie er sich nun nach und nach aus der Anfälligkeit der just in time Produktionslogik entwickelt, führt nun zu einem größeren volkswirtschaftlichen Schaden und gesellschaftlichen Härten, als die Kosten, die aus einem geplanten Vorgehen entstanden wären. Die Stilllegung aller gesellschaftlich nicht akut notwendigen Betriebe muss kontrolliert und zielgerichtet für einen überschaubaren Zeitraum stattfinden. Dieser Stillstand der Fabriken und Büros muss als bewusste politische Maßnahme im Rahmen einer umfassenden Strategie gesetzt werden, die das Ziel der Eindämmung des Virus verfolgt. Ein solcher Schritt macht nur Sinn, wenn er zumindest europaweit koordiniert stattfindet. Er muss von politischen Maßnahmen begleitet werden, die sicherstellen, dass die Beschäftigten in dieser Zeit nicht gekündigt werden dürfen und ihre materielle Existenz gesichert ist. Es gilt Lösungen zu finden, die auch kleinen Gewerbetreibenden und Selbstständigen Sicherheit geben. Die Schwäche der Gewerkschaften, sozialen Bewegungen, sozialdemokratischen und sozialistischen Organisationen macht einen solch geordneten Shutdown unmöglich. Nicht auszuschließen ist mittlerweile, dass ganze Bereiche der Wirtschaft schrittweise, fragmentiert, chaotisch und von Region zu Region unterschiedlich ihre Geschäftstätigkeit massiv reduzieren und damit weitere schlimme Verwerfungen auslösen.

Ein paradoxer Effekt der nun katastrophalen Dynamik dürfte sein, dass es wohl auch zum Vorteil des Kapitals gewesen wäre, wenn die Regierungen und die EU spätestens bis Mitte Februar entschlossen, geplant und solidarisch die Wirtschaft Norditaliens für mindestens einen Monat runtergefahren hätten und gleichzeitig den Menschen und Unternehmen alle Ausfälle garantiert hätten. Das wäre finanziell, technisch und organisatorisch möglich gewesen. Die EU und die Regierungen waren weit von diesem Schritt entfernt. Die vermeintlichen Sachzwänge der Kapitalakkumulation, des kapitalistischen Wettbewerbs und der „Budgetdisziplin“ beschränken nicht nur den Handlungsrahmen der Regierenden, sondern schränken diese bereits in der Vorstellung des Möglichen ein. Die Nationalstaaten befinden sich seit der zweiten Märzwoche sowohl bei der Bekämpfung der Virusausbreitung als auch bei ihren Antworten auf die anrollende Krise in einer Logik des „rette-sich-wer-kann“. Das wird die globale Dynamik noch stärker beeinträchtigen. Dieser Unwille und die Unfähigkeit sowohl der Staaten als auch der EU angemessen zu handeln, offenbart einen weiteren äußerst weitreichenden und widersprüchlichen Prozess. Das Kapital und die neoliberalen Kräfte haben seit den späten 1970er Jahren mit ihrer Privatisierungs- und Austeritätspolitik die staatliche Infrastruktur dermaßen ausgehöhlt, dass die Staaten nicht einmal die ihnen zugewiesene Funktion des ideellen Gesamtkapitalisten zu erfüllen vermögen. Das heißt, sie sind nicht mehr in der Lage die grundlegenden Akkumulationsbedingungen für das Kapital aufrechtzuerhalten. Zu diesen Grundvoraussetzungen für kapitalistische Geschäftstätigkeit zählt eben auch, dass die Menschen einigermaßen gesund sind und die Natur nicht allzu stark geschädigt wird. Diese Unfähigkeit der Staaten und der EU bildet ein weiteres Krisenmoment. Diesen Aspekt haben all jene zu bedenken, die nur auf den Aspekt der autoritären staatlichen Maßnahmen blicken. Es gilt beide Aspekte miteinander verschränkt zu verstehen.

Die Gewerkschaften sind leider ausgesprochen schlecht auf diese gigantische Herausforderung vorbereitet. Da es aufgrund des grassierenden Virus nicht möglich ist, zu großen Versammlungen aufzurufen, müssen die Gewerkschaften umgehend herausfinden, wie sie auf telefonischem und digitalem Weg mit den Beschäftigten in Kontakt treten können. Entscheidend ist es, Informationen über die Situation in den Betrieben einzuholen und die Beschäftigten mit konkreten Ratschlägen zu unterstützen. Kreative Streikformen abseits von Massenversammlungen müssen erdacht und erprobt werden. Zudem gilt es, allen Versuchen der Unternehmen und der Regierungen die Krise zu nutzen, um weitgehende Flexibilisierungen der Arbeit durchzudrücken, einen Riegel vorzuschieben. Die Gleichzeitigkeit der Krisen wird zur gigantischen Herausforderung.

In der enorm zugespitzten Situation wehren sich zahlreiche Arbeiter*innen in Fabriken Norditaliens gegen die Bedrohung für ihre Gesundheit. Sie sehen nicht ein, warum sie trotz der Gefahren in der Fabrik zusammenkommen müssen und führen spontane und wilde Streiks durch. Sie protestieren dagegen, dass die Produktion trotz der schlimmen Ausbreitung des Coronavirus nicht gestoppt wird. „Wir sind kein Vieh, das zur Schlachtbank geführt wird“. Diese spontanen und selbstorganisierten Streiks offenbaren die Stimmung unter den Menschen. Die Menschen müssen sich und ihre Familien vor Ansteckung schützen können. Von Brescia bis Mantova wird von spontanen Streiks berichtet. Die Gewerkschaften sind in Alarmbereitschaft, um die Gesundheit der Beschäftigten zu gewährleisten. Die Gewerkschaften betonen, dass „die Arbeiter*innen das Recht darauf haben besorgt zu sein“, und warnen, dass sie „bereit sind, wenn nötig zu streiken“. (20)

Auch die Beschäftigten des Mercedes-Werks im baskischen Vitoria-Gasteiz haben am 16. März die Produktionslinien gestoppt. Das Unternehmen mit 5.000 Beschäftigten hatte sich geweigert, den Betrieb zu schließen und erhielt so die Ansteckungsgefahr aufrecht. (21) Mittlerweile hat auch die Daimler-AG europaweit den Großteil ihrer Produktion aufgrund von Lieferschwierigkeiten und des zu erwartenden Nachfrageeinbruchs ausgesetzt.

Die Frage wird auch nördlich der Alpen rasch akut werden. Es gilt sofort darüber zu diskutieren und zu entscheiden, welche Produktionsbereiche eine Pause einlegen können und welche Bereiche für die Gesundheit der ganzen Bevölkerung wichtig sind. Die Menschen im Gesundheits- und Pflegesektor brauchen massive Unterstützung. Leben geht vor Profit!

Ein spezifischer Irrsinn der kapitalistischen Rivalität zeigt sich derzeit in der Erforschung und Entwicklung von Medikamenten und Impfstoffen gegen das SARS-CoV-2 Virus. Mehrere universitäre und staatliche Forschungseinrichtungen erarbeiten wichtiges Grundlagenwissen. Pharma- und Biotechfirmen in Europa, Nordamerika und Asien wetteifern nun darum, um mit ihren Projekten als Erstes die klinischen Studien erfolgreich zu durchlaufen. Die Arzneimittelzulassungsbehörden setzen dabei übliche Standards aus, um die Prozesse zu beschleunigen. Die US-Regierung spitzt den Irrsinn noch zu. Gemäß Medienberichten soll sie der Heidelberger Firma Curevac eine hohe Geldsumme für exklusive Vermarktungsrechte in den USA für einen künftigen Impfstoff angeboten haben. Die Firma hat ein Übernahmeangebot dementiert, allerdings nicht ein exklusives Lizenzangebot. Eine vernünftige Strategie sähe ganz anders aus. Die Forscher*innen, Institute und Unternehmen teilen weltweit ihre Kenntnisse und Ergebnisse und wägen gemeinsam ihre nächsten Forschungs- und Entwicklungsschritte ab. Eine derartige Vernunft widerspricht allerdings den Grundmechanismen der kapitalistischen Produktionsweise.

Die Diskurse können sich rasch verschieben und zugleich voller Widersprüche bleiben. Der französische Präsident Macron kündigte am 16. März an, die umkämpfte Rentenform vorerst auszusetzen. Zugleich sprach er von einer Kriegssituation und versprach blumig niemanden zurückzulassen und die Arbeitslosenhilfe massiv aufzustocken. Nicht mehr der Markt solle alles regeln, vielmehr brauche es eine starke öffentliche Infrastruktur. Am selben Tag informierte der spanische Ministerpräsident Sanchez, dass fortan auch private Krankenhäuser unter staatliche Kontrolle gestellt würden. Allerdings zeigen gerade Macron und Sanchez, aber auch Kurz in Österreich, dass sie die Situation zu nutzen wissen, um sich der Bevölkerung direkt als starke Männer jenseits der Parlamente und sogar der Koalitionspartner in der Regierung anzubieten. Darin offenbart sich, dass Teile der herrschenden Klassen durchaus mit autoritären „starken bonapartistischen Lösungen“ liebäugeln und damit die parlamentarische Demokratie schwächen wollen.

Niemand kann den Verlauf dieser Krise voraussehen. Doch es gibt Anhaltspunkte dafür, dass jene Länder und Kräfte, die ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Koordination und Planung aufweisen, sich am ehesten der Abwärtsspirale entgegenstellen können. Sofern es China gelingt, die Ausbreitung der Covid-19 Erkrankungen im Zaum zu halten und es gleichzeitig schafft, die Produktion nicht einbrechen zu lassen, die gesellschaftliche Nachfrage einigermaßen zu stabilisieren und die enorme Verschuldung von Unternehmen und regionalen Regierungen zu meistern, wird es seinen Einfluss als aufstrebende imperialistische Macht stärken. Doch gerade die Verschuldung könnte sich auch in China als großes Problem erweisen. Auf der anderen Seite sind die EU und vor allem die USA komplett unfähig, die Herausforderungen zu meistern. Im Gegenteil, der marode Zustand der gesellschaftlichen Infrastruktur und vor allem der Gesundheitsinfrastruktur in den USA, deuten leider stark darauf hin, dass sich in der einzigen militärischen Supermacht gesellschaftliche Dramen unermesslichen Ausmaßes ereignen werden. Die EU tritt angesichts der Entwicklungen, die wir in Abschnitt 3.4 skizziert haben, und der Verwerfungen die sich bei der Bearbeitung der ökonomischen Krise abzeichnen, in eine massive Destabilisierung. Ein Bruch erscheint möglicher denn je. Diesen Bruch so zu gestalten, dass er nicht mit einer weiteren Erosion sozialer Rechte und ökologischer Standards einhergeht, wird eine umso dringlichere Aufgabe emanzipatorischer Kräfte.

5. Das gesamte Gesundheitswesen gesellschaftlich aneignen – ökosozialistische Perspektiven zur Sicherstellung unserer Gesundheit und unseres Lebens

Um auf die Bedrohung unseres Lebens und unserer Gesellschaft durch die Ausbreitung der Covid-19 Erkrankung zu reagieren, unterbreiten wir hier einen programmatischen Vorschlag. Dieser stützt sich auf das Grundprinzip, dass unsere Gesundheit und unser Leben mehr wert sind als die Profite der Unternehmen und die geopolitischen Interessen der Staaten. Mit diesem Vorschlag wollen wir zu einer europaweiten Diskussion über ein solidarisches Dringlichkeitsprogramm zur Bekämpfung der Ausbreitung des Coronavirus anregen. Der geschäftsführende Vorstand der Partei DIE LINKE hat am 16. März 2020 ein Aktionsprogramm zur Bewältigung der Gesundheitskrise beschlossen.(22) Allerdings genügt dieser Beschluss den akuten Herausforderungen nicht. Er erwähnt mit keinem Wort die dringend notwendigen Maßnahmen, um die Virusausbreitung sofort wirksam abzubremsen. Das ist entscheidend, um eine solidarische Politik glaubwürdig zu entwickeln. Welche Bereiche können sofort gestoppt werden, um die Menschen und die gesamte Gesellschaft zu schützen? Alle gesellschaftlichen Bereiche der Reproduktion, Zirkulation und Produktion sind zu überprüfen. In dieser akuten Notlage ist es auch unverzeihlich, dass der Parteivorstand der LINKEN die privaten Kliniken nicht in seine Überlegungen einbezieht, geschweige denn die private Profitmacherei auf Kosten der Kranken in Frage stellt. Die Zeiten der Routineantworten sind vorbei!

Wir stellen dieses Dringlichkeitsprogramm in den Rahmen unserer Vorstellungen über den dringend erforderlichen ökosozialistischen Umbau unserer Gesellschaften in Europa. Wir wollen mit der Logik des Profits brechen. Dieser Bruch erschöpft sich nicht in abstrakten und akademischen Analysen, sondern muss sich in konkreten Kampf- und Widerstandsperspektiven und gemeinsamen Aktionen zur Stärkung der Solidarität von unten äußern.

5.1 Sofortmaßnahmen um Leben zu retten und die Gesundheit der Menschen sicherzustellen

Die folgenden Maßnahmen dienen der unmittelbaren Eindämmung der Ausbreitung des SARS-CoV-2 Virus. Sie sollen dazu beitragen, die Anzahl der Toten möglichst zu beschränken und zugleich die gesellschaftliche Solidarität zu stärken.

  1. Es muss eine möglichst umfassende Informationsbasis über den Ausbreitungsverlauf des Virus geschaffen werden. Die Gesundheitsbehörden müssen sofort ein flächendeckendes Testwesen für SARS-CoV-2 herstellen. An vielen Orten wurde konsequentes Testen wegen Kapazitätsmängeln aufgegeben. Das ist unverantwortlich. Die Tests müssen für die Menschen kostenlos sein. Die regionalen und nationalen Regierungen müssen unverzüglich die erforderlichen Mittel bereitstellen, um in der Lage zu sein, umfangreiche Tests auf SARS-CoV-2 Viren durchzuführen. Dezentral organisierte Teams, die zu den Menschen nach Hause und an die Arbeitsplätze gehen und auch im öffentlichen Raum Tests anbieten, können ein sinnvoller Ansatz sein. Die erfolgreiche Eindämmung der Covid-19-Erkrankungen in Südkorea und Taiwan beruht auch auf umfangreichen Testergebnissen. Das ist Grundlage um gezielte Maßnahmen durchzuführen. Die Organisationen der Beschäftigten (Gewerkschaften und Berufsverbände) und Patientenverbände müssen die Testorganisation kontrollieren, um sicherzustellen, dass die Bevölkerung korrekt informiert wird.
  2. Die Informationen für Gesundheitsdienste und materielle Unterstützungen sind in allen erforderlichen Sprachen bekannt zu geben. Das ist unabdingbar, um alle Menschen, die in einer Region leben, in die Maßnahmen einzubeziehen.
  3. Die Fachleute verlangen, dass die direkten sozialen Kontakte aufs Nötigste reduziert werden. Konsequent und angemessen umgesetzt heißt das, dass nicht nur Schulen und Universitäten ihren Präsenzlehrbetrieb einstellen, sondern auch die Betriebe und Unternehmen, die nicht unmittelbar gesellschaftlich wichtige Güter und Dienstleistungen anbieten, die erforderliche Pause einlegen müssen. Es gibt keinen Grund dafür, die Schulen zu schließen, nicht aber Institutionen und Unternehmen, in denen sich ältere und damit auch stärker betroffene Menschen aufhalten. Das gilt für alle Bereiche der Produktion, Zirkulation und Reproduktion. Selbstverständlich sind alle für die Versorgung und die Gesundheit der Menschen notwendigen Tätigkeiten auszuführen und nötigenfalls sogar massiv auszubauen. Das gilt auch für notwendige medizinische Güter, die exportiert werden und wichtig für die Versorgung der Bevölkerung in anderen Ländern sind. Ein umfassender Ansatz zur Bekämpfung der Virusausbreitung, der die Produktion einschließt, ermöglicht auch Maßnahmen zur Entlastung der Frauen von ihrer noch intensiveren und umfangreicheren Sorge- und Pflegearbeit durch die Männer. Menschen, die aufgrund der Schulschließungen Betreuungspflichten oder andere Pflegeaufgaben erfüllen müssen, darf ihre Arbeitszeit nicht einfach im Home-Office abverlangt werden, sondern müssen bei vollem Entgelt freigestellt werden.
  4. Die Regierungen müssen sofort Maßnahmen ergreifen, um die gesamte Gesundheitsversorgung sicherzustellen. Dazu zählen die Beschaffung und die Beschlagnahmung medizinischer Güter. Die öffentliche Hand muss Schutzkleidung, Operationsmasken, Kittel, Schutzbrillen, Handschuhe, usw. zum Schutz des medizinischen Personals bereitstellen. Die Lagerbestände von medizinischen Geräten, Schutzkleidung und Material sind generell der öffentlichen Kontrolle zu unterstellen. Alle erforderlichen Medikamente, Geräte und Einrichtungen sind den Patient*innen kostenlos bereitzustellen. Die Beschäftigten übernehmen in Kooperation mit Patient*innenverbänden die Verwaltung der Materialien. Private Hortung und Spekulation mit solchen Gütern sind hart zu bestrafen. Die gesamten Lieferketten für wichtige Güter im Gesundheitswesen sind unter öffentliche Kontrolle zu stellen. Allerdings besteht bereits das Problem, dass sich die nationalen Regierungen strategisch wichtige medizinische Güter gegenseitig vorenthalten. Ein international solidarisches Beschaffungswesen ist im Rahmen der kapitalistischen und imperialistischen Rivalität unmöglich. Dennoch können Gewerkschaften und soziale Bewegungen dafür sorgen, dass allfällig blockiertes medizinisches Material an jene geliefert wird, die es dringend brauchen.
  5. Alle privaten Krankenhäuser sind sofort unter öffentliche Kontrolle zu stellen und anschließend in gesellschaftliches Eigentum zu überführen. Ihre Kapazitäten sind vollumfänglich der Behandlung von Kranken – völlig unabhängig von ihrer Kaufkraft und ihrer Krankenversicherung – zur Verfügung zu stellen. Kein Krankenhaus, kein Pflegeheim, keine Krankenversicherung darf Gewinne aus der Krankheit von Menschen erzielen. Damit muss Schluss sein!
  6. Die Infrastruktur in den Krankenhäusern und im ambulanten Pflegebereich ist umgehend auszuweiten, um den Herausforderungen der nächsten Monate gerecht zu werden. So schnell wie möglich ist zusätzliches Gesundheits- und Pflegepersonal anzulernen und einzustellen und mit der erforderlichen Ausrüstung zu versehen. In Deutschland fehlen in den „Krankenhäusern und der Altenpflege jeweils mindestens 100 000 Pflegekräfte. Wir brauchen ein Sofortprogramm, das allen Pflegekräften – und denen, die in den Beruf zurückkommen – 500 Euro im Monat Zulage zahlt. Damit die Reserven mobilisiert werden. Damit sich die Arbeitsbedingungen endlich verbessern. Damit die Gesundheit von Pflegekräften und Patientinnen und Patienten geschützt wird.“ (23)
  7. Sofern die Krankenhäuser ihre Kapazitätsgrenzen erreichen, sind in Abstimmung mit Ärzt*innen, Gesundheitspersonal, Gemeinden und Gewerkschaften geeignete Gebäude und Betten, beispielsweise Hotels, zu beschlagnahmen und in den Dienst der Pflege der Kranken und der Gesundheitsversorgung zu stellen. Nötigenfalls sind Bau- und Ingenieurunternehmen dazu zu verpflichten zusätzliche Notfallkrankenhäuser zu bauen. Kommen sie dieser Aufforderung nicht nach, können sie unter öffentliche Kontrolle und direkte Verwaltung der Beschäftigten gestellt werden. Die Reinigungsdienstleistungen und anderen wichtigen Dienstleistungen in den Krankenhäusern sind unter öffentliche Kontrolle zu stellen. Wenn erforderlich, sind Unternehmen dazu zu verpflichten, ihre Produktionsinfrastruktur umzubauen und medizinische Güter zum Selbstkostenpreis im öffentlichen Interesse herzustellen. Weigern sich Unternehmen, sich in den Dienst der Gesellschaft, also dem Gemeinwohl, zu stellen, sind sie zu vergesellschaften.
  8. Auch mittelfristig und längerfristig ist die Pflege-, Sorge- und gesamte Gesundheitsinfrastruktur massiv auszuweiten und zu verbessern. Die aktuellen Engpässe im Gesundheitswesen sind ein Ergebnis der jahrelangen neoliberalen-sozialdemokratischen Kürzungspolitik. Die Finanzierung der Krankenhäuser über Fallpauschalen, die zu perversen und unsozialen Strategien mit einem Abbau von Kapazitäten geführt hat, ist sofort zu beenden.
  9. Wo immer möglich, sind die Unternehmen und Betriebe zu Telearbeit zu verpflichten. Die Beschäftigten dieser Bereiche müssen aber weiterhin ihre Löhne erhalten. Die Unternehmen müssen nach der Maßgabe ihrer Gewinne der letzten fünf Jahre in einen Fonds einbezahlen, der zur Finanzierung der Löhne in jenen Unternehmen beiträgt, die aufgrund der Corona-Krise und der beginnenden Wirtschaftskrise vom Bankrott bedroht sind oder nicht mehr weiter arbeiten können.
  10. Alle Unternehmen sind zu verpflichten, umgehend die erforderlichen materiellen und organisatorischen Arbeits- und Gesundheitsschutzmaßnahmen für die Beschäftigten umzusetzen, die arbeiten müssen. Aufgabe der Gewerkschaften ist es, sich bedingungslos für die Gesundheit aller Arbeitenden und der gesamten Bevölkerung einsetzen. Sie müssen zusammen mit den Beschäftigten Sofortpläne zur Gewährleistung der Gesundheit der Arbeitenden, ihrer Angehörigen und der Gesellschaft ausarbeiten. Sie müssen alle Beschäftigten unterstützen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr arbeiten können.
  11. Die Löhne der Menschen, die von Quarantänemaßnahmen betr offen sind oder Kinder betreuen müssen, sind zu 100 Prozent zu erhalten. Die Beschäftigten müssen das Recht haben, sich von der Arbeitsstelle zu entfernen, wenn eine unmittelbare Gesundheitsgefährdung vorliegt. Die Gesundheitsschutzmaßnahmen in den Betrieben sind zusammen mit den organisierten Beschäftigten zu konzipieren und durchzuführen. Gewerkschaften, Verbände, Vereine und Nachbarschaftsorganisationen informieren die Menschen in ihrem Umfeld sowie die Lohnabhängigen mit und ohne Arbeitsstelle über Schutzmaßnahmen und ihre Rechte. Sie sollten die Träger*innen unmittelbarer solidarischer gegenseitiger Hilfe am Arbeitsort und am Wohnort sein.
  12. Es darf keine Entlassungen von infizierten Menschen geben. Die Löhne sind fortzuzahlen, auch bei vorübergehender Arbeitslosigkeit. Die Sanktionen gegen und die Überwachungen von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger*innen sind sofort zu stoppen.
  13. Die erforderlichen Kapazitätserweiterungen im Gesundheitswesen sind über den öffentlichen Haushalt zu bezahlen. All diese erforderlichen Maßnahmen sind solidarisch über progressiv ansteigende Steuern auf große Vermögen und durch die Besteuerung der Unternehmen zu refinanzieren. Darüber hinaus müssen die wirtschaftlich potenten Länder den armen und hochverschuldeten Ländern in und außerhalb Europas zur Realisierung derselben Maßnahmen finanziell direkt unter die Arme greifen.

5.2 Stärkung der Solidarität von unten

Die Entwicklung solidarischer Verbindungen und Netze sowie der Aufbau von demokratischen Basisorganisationen in den Betrieben, am Wohnort sowie an der Uni und in der Schule ist unabdingbar, um die Krise zu bewältigen und Alternativen auszuarbeiten. Genau diese Organisierung ist angesichts der erschwerten direkten menschlichen Kontakte ausgesprochen schwierig. Dennoch müssen wir darüber nachdenken, wie wir mit herkömmlichen und neuartigen Kommunikationsmitteln diese Herausforderung bewältigen. Diese Solidarität ist die Grundlage, um weitergehende gesellschaftliche Perspektiven zu entwickeln.

  1. Direkte gegenseitige Hilfe und Solidarität sind entscheidend. Darum sollten Menschen aus sozialen Bewegungen und linken Organisationen zur Schaffung von Selbsthilfegruppen anregen. Sie können Kinderbetreuung und Besorgung von Lebensmitteln an die Nachbarn organisieren. Die Aktivist*innen sollten sich kollektiv verantwortungsbewusst verhalten und dabei besonders darauf achten, dass sie das Virus nicht weiterverbreiten. Menschen in Mailand und anderswo in Italien beginnen solche Erfahrungen zu machen. Sie spielen auf den Balkonen Musik und führen gemeinsame Protestaktionen durch, indem sie mit Töpfen Lärm machen. Es lassen sich auch Poster, Wandzeitungen und Collagen anfertigen und die sozialen Netzwerke bieten viele Möglichkeiten sich zu informieren, zu verständigen und gemeinsam zu demonstrieren.
  2. Die prekärsten Bevölkerungsgruppen brauchen wirksame Unterstützung: Menschen ohne Papiere oder geregelten Aufenthaltsstatus und Obdachlose. Bei Einrichtungen für diese Bevölkerungsgruppen sind strenge Gesundheits- und Sicherheitsrichtlinien anzuwenden. Die geschlossenen Zentren sind in offene Aufnahmezentren mit sanitären Einrichtungen umzuwandeln. Undokumentierte Migrant*innen müssen einen legalen Status erhalten.
  3. Die Ausbreitung des Virus ist nur mit internationaler Solidarität zu stoppen. Der Schutz der Menschen bleibt eine längerfristige Aufgabe. Darum sind die strukturellen Bedingungen zu schaffen, die die Erforschung und Entwicklung von Medikamenten im Dienste der Menschen – und zwar auf der ganzen Welt – ermöglichen. Die Monopolisierung von Wissen durch Patente ist in der medizinischen Forschung abzuschaffen. Stattdessen ist der freie Transfer und freie Export von medizinischen Geräten und Technologien zu ermöglichen, um die am stärksten gefährdeten Länder mit Medikamenten und medizinischen Geräten zu versorgen. Die bereits bestehenden und die neuen Impfstoffe und antiviralen Medikamente müssen kostenlos sein.
  4. Viele Menschen haben Kredite für Ausbildungen und andere wichtige Aufwendungen aufgenommen und geraten nun aufgrund ausbleibender Einkommen zusätzlich unter Druck. Darum ist ein Moratorium für die Zahlung privater Schulden für wesentliche Dienstleistungen (Wasser, Strom, Heizung, medizinische Versorgung usw.) zu erlassen. Desgleichen muss es ein Moratorium bei Zwangsräumungen wegen Nichtzahlung der Miete geben.
  5. Viele Unternehmen, die in den letzten Jahren ausgesprochen profitabel waren und von den niedrigen Löhnen profitiert haben, verlangen bereits staatliche Unterstützung. Die Regierungen haben voreilig nahezu unbeschränkte Kreditgarantien und große Unterstützungspakete geschnürt. Diese Maßnahmen sind einer harten Prüfung nach unmittelbarer gesellschaftlicher Notwendigkeit und ökologischer Verträglichkeit zu unterziehen. Jegliche Form der Vergesellschaftung von Verlusten von Unternehmen, die Menschen entlassen, umweltschädlich produzieren oder unsinnige Finanzspekulationen tätigen, ist abzulehnen. Viele Geschäftsmodelle waren bereits vor der Ausbreitung des Coronavirus nicht nachhaltig; weder sozial, wirtschaftlich noch ökologisch. Bereits fordern spekulative Fußballvereine, Fluggesellschaften, Industrie- und Finanzkonzerne staatliche Unterstützung ein. Das kommt einer Verhöhnung jener Menschen gleich, die in existenzielle Notlagen geraten sind. Diesen Bestrebungen ist ein Riegel zu schieben.
  6. Im Gegensatz dazu, sind kleine Gewerbebetriebe und Selbständige, die jetzt große Einkommensverluste verzeichnen, zu unterstützen. Auch Vereine im Kulturbereich und im Breitensport müssen nötigenfalls öffentliche Unterstützung erhalten.
  7. Viele Staaten in Europa sind als Ergebnis der Rettung des Finanzsektors während der Krise 2008-09 weiterhin hochverschuldet. Nun stehen gigantische öffentliche Ausgaben an, die höher sein werden als jene zur Dämpfung der letzten Krise. Darum gilt es ein Moratorium für die Tilgung und Zinszahlungen durchzusetzen. Ein Großteil der Verschuldung ist durch fragwürdiges Geschäftsgebaren zugunsten des Finanzsektors und unsinnige Rüstungsgeschäfte zustande gekommen. Darum sind die Schulden öffentlich und demokratisch im Sinne eines Audits durch Gewerkschaften und Bürgerinitiativen zu überprüfen.
  8. Die Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus und der Erkrankungen, die Unterstützung der Betreuung und Pflege, die Kurzarbeit, die Stilllegung von Betrieben und Unternehmen verursachen enorme Kosten. Diese Kosten dürfen nicht auf die Armen und Lohnabhängigen abgewälzt werden. Die Kürzungs- und Austeritätspolitik ist sofort zu stoppen. Zugleich gilt es europäisch koordiniert in allen Ländern eine progressiv ansteigende Krisensteuer auf große Vermögen zu erheben. Große Vermögenswerte sind zur Finanzierung der erforderlichen öffentlichen Ausgaben herbeizuziehen. Die Länder müssen Kapitalverkehrskontrollen vorbereiten und durchsetzen.
  9. Die Bekämpfung der Corona-Pandemie muss auf allen geographischen Maßstabsebenen geschehen. Kurzfristige territoriale Quarantänemaßnahmen sind sinnvoll. Zugleich wäre es geradezu absurd zu denken, diese Herausforderung ließe sich auf nationaler Ebene meistern. Es braucht eine solidarische und globale Strategie. Groß ist die Gefahr, dass die Pandemie in den armen Ländern ganze Gesellschaften zerstören kann. Darum müssen wir gleichzeitig mit den Maßnahmen zur Erhaltung der Gesundheit und des Lebens in unseren Gesellschaften immer an die globale Dimension denken und überlegen wie wir den Menschen in den Ländern mit schlechter Infrastruktur unter die Arme greifen können. Das beginnt mit Projekten des gegenseitigen Informationsaustausches und dem gemeinsamen Lernen über wirksame Maßnahmen zur Verhinderung der Virusausbreitung und reicht bis zur Durchsetzung umfangreicher materieller Hilfeleistungen.
  10. Ab sofort ist ein europäischer Gesundheitsfonds zu schaffen. Die Staaten Europas verzichten auf alle ihre im Jahr 2020 und in den kommenden Jahren vorgesehenen Rüstungsausgaben und finanzieren mit den eingesparten Mitteln einen solidarischen Fonds. Dieser stellt sicher, dass vor allem in den stark von der Seuche betroffenen, armen und hochverschuldeten Ländern und Regionen alle erforderlichen Maßnahmen zur Sicherstellung der Gesundheit der Menschen finanziert werden. Der Fonds unterstützt auch die Menschen und Länder außerhalb Europas. Das kann schon bald dringend werden, wenn die Erkrankungen auch im Mittleren Osten und in Afrika zunehmen. Der Fonds wird gemeinsam von Gewerkschaften, Vertreter*innen sozialer Bewegungen und staatlichen Behörden unter Ausschluss des Finanzsektors geleitet.

5.3 Schritte zur gesellschaftlichen Aneignung des Gesundheitssektors und einer ökosozialistischen Umgestaltung

Die kapitalistische Gesellschaft wird auch nach einer Bewältigung oder Abschwächung der Ausbreitung der Covid-19-Erkrankungen nicht in der Lage sein, die elementarsten gesellschaftlichen und gesundheitlichen Bedürfnisse eines Großteils der Menschen zu befriedigen. Darum gilt es umgehend die Weichen für eine viel weitergehende kreative Umgestaltung unserer Gesellschaften zu stellen.

  1. Die öffentliche Beschlagnahmung und Aneignung von privaten Kliniken ist der Einstieg in eine große und langanhaltende Auseinandersetzung zur gesellschaftliche Aneignung aller wesentlicher Bereiche des Gesundheitswesens einschließlich der Krankenversicherungen und schließlich auch der Pharma- und Biotechindustrie sowie der gesamten medizinischen und pharmazeutischen Forschung und Entwicklung. Die Gesundheit der Menschen und der Ausbau einer kostenlosen gesellschaftlichen Infrastruktur für Pflege, Sorge und Gesundheit mit guten Arbeitsbedingungen sind Schlüsselelemente einer emanzipatorischen und ökosozialistischen Perspektive. Gesundheit darf keine Ware sein! Das gilt für alle Gesundheits- und Pflegedienste, für die Dienste der Krankenhäuser und letztlich auch für die Medikamente. Alle Krankenhäuser sind unter öffentliche und direkte Kontrolle der Beschäftigten zu stellen. Das wäre ein erster Schritt zur demokratischen gesellschaftlichen Aneignung des gesamten Gesundheitssektors. Damit sind wir auch bei der Frage, wie wir die Pharmaindustrie und den ganzen Bereich, der Gesundheitsprodukte herstellt, in den Dienst der gesamten Bevölkerung stellen können. Diese Industrien müssen das produzieren, was die Gesellschaft benötigt und nicht das, was die höchsten Profite abwirft.
  2. Die Krankenversicherungen sind zu einer solidarischen öffentlichen und demokratisch kontrollierten Einheitskasse zu fusionieren. Sie sind mittels progressiv ansteigender und paritätisch von den Unternehmen mitbezahlter Lohnbeiträge zu finanzieren. Ihre Aufgabe lautet: die Menschen für die Kosten im Krankheitsfall versichern, nicht Profite erzielen.
  3. Nachdem wir die Corona-Pandemie ausgestanden haben, stellt sich weiterhin die Frage, welche Bereiche der Wirtschaft wir aus gesellschaftlichen und ökologischen Erwägungen wieder hochfahren wollen. Das ist der Einstieg in eine Auseinandersetzung, um alle gesellschaftlich nicht notwendigen oder gar schädlichen Bereiche endgültig runterzufahren oder massiv umzubauen. Die Erderwärmung und die mit ihr einhergehenden Klimakatastrophen stellen uns vor eine noch umfassendere Anforderung, unser gesamtes Wirtschaftssystem – also Produktion, Zirkulation und Reproduktion – grundlegend umzubauen. Die Rüstungsindustrie ist abzuschaffen. Ökologisch schädliche Sektoren wie die Luftfahrtindustrie, Automobilindustrie, der Tourismus sowie weite Teile der Unterhaltungsindustrie sind komplett umzubauen. Wir müssen Wege finden, um die Kreativität und die Arbeitskraft der Menschen nützlicheren Bereichen zu Gute kommen zu lassen. Die Gewerkschaften sollten sich zusammen mit den Umweltverbänden überlegen, wie industrielle Produktion und die Dienstleistungen auf sozial und ökologisch sinnvolle Aktivitäten und zwar unter demokratischer Kontrolle der Beschäftigten und der gesamten Bevölkerung umzustellen sind.
  4. Die Bewältigung der Gesundheitskrise und der anrollenden Wirtschaftskrise wird unermessliche finanzielle Mittel verschlingen. Spekulationsgeschäfte sind sofort mit hohen Finanztransaktionssteuern zu belegen, allerdings in der Perspektive diese komplett zu unterbinden. Die strategisch wichtigen Banken sind umgehend unter öffentliche Kontrolle zu stellen. Die Beschäftigten, Gewerkschaften und Wissenschafter*innen erarbeiten gemeinsam konkrete Pläne um die Banken so umzubauen, dass sie den gesellschaftlichen Bedürfnissen zur Bewältigung der Krise, zur Finanzierung gesellschaftlich sinnvoller und ökologisch verträglicher Projekte dienen. Banken sind in den Dienst des ökologischen und gesellschaftlichen Umbaus der Produktion, Zirkulation und Reproduktion zu stellen. Damit werden allerdings bald wesentlich weniger Menschen in diesem Bereich arbeiten. Für diese Menschen müssen gesellschaftlich sinnvolle Jobs in anderen Bereichen geschaffen werden. Wir müssen umgehend die Arbeitszeit radikal verkürzen, damit wir die gesellschaftlich notwendige Arbeit möglichst gerecht auf die Mitglieder der Gesellschaft verteilen können.
  5. Nutzen wir die Krise, um eine Ökonomie der Nähe und Solidarität zu entwickeln. Ändern wir unsere Essgewohnheiten. Kaufen wir von lokalen Bioproduzent*innen. Das umweltschädliche Agrobusiness gilt es zu zerschlagen, während gleichzeitig die biologische Landwirtschaft international massiv ausgeweitet und entsprechend gefördert werden muss. Das ist zu verbinden mit der Selbstbestimmung der indigenen Völker, der Förderung genossenschaftlicher Bauerngemeinschaften und dem Aufbau einer vielfältigen Agrarökologie, die dazu beiträgt, die Ausbreitung von Krankheitserregern einzudämmen. Schließlich sind Schritte einzuleiten, um die Massentierhaltung abzuschaffen und die chemisch und biotechnologisch gestützte Agrarindustrie zu überwinden. Ein System, das sich auf bäuerliche Forstwirtschaft und Agrarökologie stützt wird uns gesunde Lebensmittel bieten, zugleich die Biodiversität wieder steigern, damit die Gefahren neuer Viren vermindern und einen wesentlichen Beitrag gegen die Erderwärmung leisten.
  6. Die Unterstützung der Menschen in Afrika, Asien und Lateinamerika, die ebenfalls bald mit der Ausbreitung des Coronavirus zu kämpfen haben werden, darf nicht vernachlässigt werden. In vielen Ländern haben sich in den letzten Monaten Millionen von Menschen gegen Diktaturen und korrupte Herrscher erhoben, um demokratische Rechte und gesellschaftliche Teilhabe einzufordern. Unterstützen wir diese Bewegungen. Sie werden in den kommenden Monaten vor riesigen Herausforderungen stehen.
  7. Wir leben in einer globalen Ökonomie mit zahlreichen sinnvollen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verflechtungen. Die internationale Arbeitsteilung und die globalen Wertschöpfungsketten sind so solidarisch und ökologisch wie möglich zu organisieren. Das ist eine langfristige Aufgabe, die wir aber angehen müssen. Die konkreten Maßnahmen und Schritte bleiben zu entwickeln.

Die Corona-Pandemie legt mit aller Deutlichkeit offen, dass die auf Konkurrenz und Kapitalakkumulation beruhende kapitalistische Produktionsweise nicht in der Lage ist, die Gesundheit der Menschen sicherzustellen. Unternehmen im Gesundheitsbereich wollen Gewinne mit der Krankheit der Menschen machen. Aus Profitgründen tätigen Unternehmen Investitionen, die gesellschaftlich nicht vordringlich sind und verzichten zugleich auf nötige Vorsorgemaßnahmen, die teuer sind und keine Gewinne abwerfen. Die Regierungen reagieren allesamt zögerlich und selektiv auf die große Bedrohung, weil sie die Wettbewerbsfähigkeit der großen Konzerne und die Geschäfte der lokalen Wirtschaft wie dem Tourismus nicht beeinträchtigen wollen. Das ist verantwortungslos und kriminell. Wir erleben in diesen Wochen, dass Hundertausende von Menschen in Europa an einer Viruspandemie erkranken und Zehntausende sterben. Diese Pandemie wäre politisch, organisatorisch, technisch und wirtschaftlich verhinderbar gewesen. Die Entscheidungsträger, gefangen in ihrer Logik des Kapitals und der Konkurrenz, haben versagt. Nun erleben wir barbarische Prozesse. Handeln wir bevor sich die Barbarei verallgemeinert. Diese unermessliche Gesundheitskrise – wie übrigens auch die heranziehenden Klimakatastrophen, zeigt uns in aller Dinglichkeit, dass wir umgehend eine komplette Kehrtwende einleiten müssen. Die Gesundheit und das Wohl der Menschen gehen vor Profite – jetzt und später, hier und überall. Darum regen wir zu einer internationalen Debatte über die Inhalte und Strategien für einen umfassenden ökosozialistischen Umbruch an. Mit Solidarität und Selbstorganisation gegen Corona und Kapitalismus!

* Verena Kreilinger und Christian Zeller sind aktiv bei Aufbruch für eine ökosozialistische Alternative (www.oekosoz.org). Christian Zeller zählt zu den Initiant*innen der internationalen ökosozialistischen Konferenz für Klimagerechtigkeit, die vom 26. bis 28. Juni in Basel stattfinden wird, sofern es die Bedingungen zulassen (Informationen unter: www.eco-soc.net).

Quellen der Daten in den Abbildungen

Deutschland:

Schweiz:

Österreich:

Italien:

Spanien:

China:

Frankreich:

Tagesaktuelle globale Übersichten:

Endnoten

1 Rosa Luxemburg (1916): Die Krise der Sozialdemokratie.

2 Eine gute Übersicht und Einschätzung über die relevante Studienlage gibt das Robert Koch Institut.

3 Joachim Müller-Jung: Kliniken im Seuchenmodus: „Italienische Verhältnisse können wir händeln“ Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. März 2020

4 Myrte Müller: Tessiner Spitäler am Anschlag – Arzt schlägt Alarm «Wir wissen nicht, wie wir alle versorgen sollen»

Samuel Laurent : Coronavirus : dans les hôpitaux du Grand Est, « la situation est très difficile » Le Monde, 15. März 2020

5 Financial Times: Second wave of coronavirus cases hits Asia. 18. März 2020

6 ORF: Tirol unter Quarantäne, mehr Restriktionen, 18. März 2020

7 Corona-Krise: Gemeinsamer Aufruf von Pflegefachkräften an Jens Spahn!

8 Manuel Escher: Immunität durch Infektionen für Junge, Monate der Isolation für Alte in Großbritannien. Der Standard, 12. März 2020

9 ORF: Herdenimmunität: Niederlande machen nach Kritik Rückzieher. 19. März 2020

10 Neil M. Ferguson, et.al. (2020): Impact of non-pharmaceutical interventions (NPIs) to reduce COVID-19 mortality and healthcare demand. Imperial College COVID-19 Response Team, Imperial College London, 16 March 2020
Anmerkung: Diese Studie basiert auf der Prämisse, dass Maßnahmen zu keinerlei bedeutender Einschnitte im Wirtschaftsleben führen. Entsprechend ist das Fallszenario für Suppression/Containment nicht vergleichbar mit der Strategie wie sie z. B. in China angewandt hatte. Die Maßnahmen der meisten europäischen Länder werden hier als Suppression-Strategie angesehen. Expert*innen und auch die europäischen Regierungen selbst, gehen hier jedoch vom Verlangsamen (Mitigation) und nicht mehr von der gänzlichen Eindämmung aus.

11 Sandro Mezzadra: Eine Politik der Kämpfe in Zeiten der Pandemie. Medico International 17. März 2020 (ursprünglich 14. März auf EuoNomade

12 Eric Gujer: Die Regierungen haben zu spät den Notstand ausgerufen, trotzdem kann man ihnen keinen Vorwurf machen. Nun ist es umso wichtiger, die richtigen Schlüsse zu ziehen. Neue Zürcher Zeitung, 16. März 2020

13 Neil M. Ferguson, et.al. (2020): Impact of non-pharmaceutical interventions (NPIs) to reduce COVID-19 mortality and healthcare demand. Imperial College COVID-19 Response Team, Imperial College London, 16 March 2020

14 Bezogen auf die mittlere Lebenserwartung bei Geburt beträgt in Deutschland die Differenz zwischen der niedrigsten und höchsten Einkommensgruppe bei Frauen 4,4 Jahre und bei Männern 8,6 Jahre.

15 ORF: Alle unter einem Dach: Zu viel Nähe als Konfliktpotenzial. 19. März 2020

16 Eric Gujer: Neue Zürcher Zeitung, 16. März 2020.

17 Thomas Mayer: EU-Sondergipfel beschließt 25 Milliarden Euro gegen Corona-Folgen. Der Standard, 10. März 2020

18 ORF: Mühsam berechnete Milliarden. 12. März 2020

19 ORF: Von der Leyen warnt vor geschlossenen Grenzen. 16. März 2020

20 “ target=“_blank“ rel=“noreferrer noopener“>Spanien: 5000 Arbeiter*innen von Mercedes stoppen die Produktion aufgrund der Untätigkeit des Unternehmens, 16. März 2020

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