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Covid-19: Eine globale Systemkrise

Die Corona-Krise ist beispiellos. Sie kann weder als Gesundheitskrise noch als sozioökonomische Krise und nicht einmal als eine Kombination aus beidem begriffen werden, sondern nur als wahrhaft globale Krise, die zugleich Gesundheits-, Sozial-, Wirtschafts- und Umweltkrise, d.h. eine systemische Krise ist.

von Daniel Tanuro; aus intersoz.org

Ein historischer Wendepunkt

Diese Krise ist in der Tat die erste wirklich totale Krise, die erste Krise des Anthropozäns.[1] Als solche markiert sie einen historischen Wendepunkt von großer Bedeutung und stellt die Menschheit deutlicher als je zuvor vor die grundlegende zivilisatorische Entscheidung: Ökosozialismus oder Barbarei.

Der systemische Charakter dieses außergewöhnlichen Ereignisses wird durch den Ursprung des Virus, seine Ausbreitungsart und seine sozialen Auswirkungen deutlich.

In den letzten Jahrzehnten hat man festgestellt, dass Viren die Artenbarriere durchbrechen, sich an den Homo sapiens anpassen und ihn kontaminieren und Zoonosen verursachen können. SARS-CoV2 ist keine Ausnahme: Neben HIV sind Ebola, Chikungunya, Zika, SARS1, MERS, Vogelgrippe und einige andere Viren bekannt. Es besteht jedoch ein breiter Konsens unter Fachleuten, dass der Artensprung auf die Entwaldung, die Fleischindustrie, die monokulturelle Agrarindustrie, den Wildtierhandel, das Goldschürfen [im Regenwald] etc. zurückzuführen ist. Das heißt, im Allgemeinen auf die Zerstörung der natürlichen Umwelt durch den kapitalistischen Extraktivismus und Produktivismus. COVID-19 ist also kein Fluch, der uns in die Zeit der Schwarzen Pest und anderer gesundheitlicher Geißeln der Antike zurückverweist; im Gegenteil, er versetzt uns in die Pandemien der Zukunft. Selbst wenn das Virus verschwindet oder ein Impfstoff entwickelt wird (was keineswegs gewiss ist, wie HIV und Hepatitis C zeigen), werden weitere Pandemien auftreten, und zwar solange die dafür verantwortlichen Mechanismen nicht ausgerottet sind.

Auch die Verbreitungsart des Virus ist von den grundlegenden Merkmalen des zeitgenössischen Kapitalismus geprägt. In der Tat ist die Geschwindigkeit, mit der sich die Krankheit weltweit verbreitet hat, nicht nur auf die intrinsischen Eigenschaften von SARS-CoV2 zurückzuführen (geringere Letalität als SARS-CoV1, verbunden mit hoher Ansteckungsgefahr). Sie ist auch in entscheidender Weise auf die Globalisierung und den extrem dichten und schnellen Warenaustausch auf dem Luftweg entlang der Wertschöpfungsketten zurückzuführen, der die Metropolen der kapitalistischen Produktion miteinander verbindet. Ohne dieses entscheidende Element wäre die Epidemie wahrscheinlich nicht zu einer Pandemie geworden.

Armut und Luftverschmutzung – die entscheidenden Parameter

Innerhalb dieser Metropolen ist die Ansteckung offensichtlich durch die Bevölkerungsdichte befördert worden. Aber dieser Faktor gilt nicht absolut, sondern muss in Verbindung mit zwei anderen Parametern gesehen werden. Der erste ist die Zunahme der sozialen Ungleichheit. Das Beispiel von New York ist aufschlussreich: Die Bevölkerungsdichte ist im reichen Manhattan höher als in der Bronx, aber in diesem Viertel, das von armen, in der Regel nicht-weißen Menschen bewohnt wird, hat COVID-19 proportional gesehen die meisten Opfer gefordert. Der zweite Parameter ist die Luftverschmutzung: Italienische und amerikanische Analysen haben die Schlussfolgerungen chinesischer Forscher bestätigt, die bereits 2003 bei SARS-CoV1 einen Zusammenhang zwischen der Feinstaubbelastung in der Luft, den daraus resultierenden Atemwegserkrankungen und den Folgeschäden des Virus festgestellt hatten.

Die Handhabung der Pandemie durch die Regierungen würde eine detaillierte Kritik beanspruchen, für die wir hier keinen Platz haben. Beschränken wir uns darauf, dass der Klassencharakter der Maßnahmen auf der Hand liegt. Von Anfang an lagen die Prioritäten erstens in der weitestmöglichen Aufrechterhaltung des Wirtschaftslebens im produktiven Sektor; zweitens darin, eine Kritik an der Sparpolitik zu verhindern, die jahrzehntelang den Pflegesektor in den Krankenhäusern, Pflegeheimen etc. vernachlässigt hat; drittens der Bevölkerung strikte Isolationsmaßnahmen und/oder eine technische Beschneidung ihrer Freiheiten (als das einzige Mittel, um die Epidemiekurve abzuflachen und unter 1 und 2 genannten Aspekte zu berücksichtigen) aufzuerlegen. Die Folgen daraus lagen in der Zunahme der sozialen, Geschlechts- oder Rassenspezifischen Ungleichheit und Diskriminierung.

Die Pandemie (und ihre Handhabung!) beschleunigen den Ausbruch einer sozioökonomischen Krise, deren Ausmaß das von 2008 zweifellos übersteigen wird und sogar dem von 1929 gleichkommen könnte. Aber wir dürfen uns bei Analyse des Phänomens nicht auf strikt quantitative Aspekte beschränken, denn der eigentliche Unterschied liegt in der Qualität der Krise. Natürlich tritt sie im allgemeinen und lehrbuchhaften Zusammenhang mit einer kapitalistischen Überproduktionskrise auf, die bereits vor dem Dezember 2019 zutage getreten war. Aber im Gegensatz zu einer klassischen Krise wird die Vernichtung von überschüssigem Kapital hier nicht ausreichen, um die Profitrate wiederherzustellen und die Wirtschaft wieder ins Laufen zu bringen. Denn das Virus ist viel mehr als nur ein bloß auslösendes Moment: Solange es nicht ausgeschaltet wird, wird es in das wirtschaftliche Getriebe eingreifen.

Mit anderen Worten, eine Rückkehr zur „Normalität” könnte auf unbestimmte Zeit unmöglich bleiben … es sei denn zum Preis der Eliminierung von Millionen Menschen unter den Schwächsten, Ältesten, Ärmsten und chronisch Kranken. Die extreme Rechte zögert nicht, sich für diese „Lösung” stark zu machen, wie die Demonstrationen gegen die Einschränkungen in den USA und Deutschland sowie die Verlautbarungen von Trump und Bolsonaro zeigen. Es liegt an uns, die wir uns als Umweltschützer*innen bewusst sind, dass die Rückkehr zur „Normalität” eine tödliche Sackgasse ist, die Konsequenzen zu ziehen: Der Kapitalismus wird nicht von alleine zusammenbrechen. Wir müssen in den Kämpfen die Alternative verdeutlichen zwischen einem Ökosozialismus, der den Menschen und der Natur gerecht wird, und einem Absturz in die Barbarei.

Ursprünglich publiziert am 18. Mai 2020 in Moins!, einer Zeitschrift der Degrowth-Bewegung in der Westschweiz. Übersetzung durch MiWe.


[1] Der Ausdruck Anthropozän ist ein Vorschlag zur Benennung eines neuen geologischen Zeitalters, in dem die Menschen zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde geworden sind. Das Antropozän löst das Holozän ab, das nach der letzten grossen Eiszeit vor circa 11’000 Jahren begonnen hat. Einige Linke lehnen den Begriff Anthropozän ab und verwenden stattdessen den Begriff Kapitalozän, also das Zeitalter in dem nicht die Menschen im Allgemeinen, sondern das Kapital für diese grundlegenden Prozesse verantwortlich ist. Natürlich sind wir der Meinung, dass die produktivistische kapitalistische Produktionsweise die Hauptverantwortung für die Klima- und Umweltkrise trägt. Das Problem hierbei ist, dass auch wenn wir in den kommenden Jahren die globale Herrschaft des Kapitals stürzen würden und eine ökosozialistische Gesellschaft aufbauen könnten (wovon wir aufgrund der ungünstigen Kräfteverhältnisse zurzeit nicht ausgehen), gewisse atmosphärische Prozesse nicht mehr umkehrbar wären. Somit wäre also auch die sozialistische Gesellschaft eingebettet ins Kapitalozän, was wiederum in Bezug auf die Eigenschaften einer sozialistischen Gesellschaft keinen Sinn ergeben würde. [Anm. d. Red.]

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