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Hygienedemos: Die gefährlichen Ideologien hinter der vermeintlich offenen Bewegung

In Deutschland wird bereits seit März an sogenannten «Hygienedemos» gegen die Lockdown-Massnahmen der Bundesregierung demonstriert. Im Zentrum der Proteste steht die angeblich verfassungswidrige Einschränkung des Grundgesetzes. Die Kritik an der vorübergehenden Einschränkung von demokratischen Grundrechten, wie zum Beispiel dem Versammlungsrecht oder der zunehmenden Überwachung der Bevölkerung, wirkt auf den ersten Blick legitim. Natürlich setzen auch wir uns für das Recht auf freie Meinungsäusserung ein und betrachten beispielsweise das repressive Vorgehen der Polizei in Zürich am 1.Mai 2020 als skandalös und demokratiefeindlich. Sollten wir als Linke also auf diese Demonstrant*innen, die auch in der Schweiz immer mehr werden, zugehen und liegt in dieser Bewegung womöglich sogar das Potential, um eine progressive Zivilbewegung mitaufzubauen?

von Nicola Bueb und Tahliah Sutter (BFS Jugend Zürich)

Gefährliche Toleranz im Kampf gegen die Elite

Genau das wünschen sich vordergründig die Teilnehmer*innen dieser Demos. Sie fühlen sich ständig missverstanden. In ihrem Selbstverständnis als weisse Ritter, die in einem heroischen Kampf die bedrohte Demokratie verteidigen, schauen sie ungläubig auf linke Organisationen, welche die neue Bewegung kritisch und mitunter auch als gefährlich betrachten.

Dass die an ihnen geübte Kritik absolut gerechtfertigt und Menschen, die sich an solchen Demos versammeln, keine potenziellen Bündnispartner*innen sind, wird schnell klar, wenn man sich anschaut, was für Meinungen an diesen Demonstrationen propagiert werden.

Gegen aussen präsentieren sich die Demos als tolerant und weltoffen. Jede Meinung hat einen berechtigten Platz. Sie wollen niemanden ausschliessen und verstehen sich selbst als «buntes» Gemisch von Bürger*innen, dass in seiner Zusammensetzung scheinbar alle Teile der Bevölkerung, unabhängig von politischer Haltung oder sozialer Stellung, umfasst.

Dieser Mix aus esoterischen Yogis, Impfgegner*innen, Rechtsextremen und selbsternannten «Linken» ist nur möglich durch die komplette Abwesenheit gemeinsamer politischer Forderungen. Sinnbildlich dafür steht der Versuch in Deutschland, mit «Widerstand 2020» eine Partei zu gründen, welche jegliche politischen Standpunkte vermissen lässt und als Sammelbecken für die verschiedenen an den Demos vertretenen Ansichten dienen soll.

So beschränkt sich der politische Konsens der Beteiligten auf einen Diffusen Kampf gegen «die da Oben». «Die da Oben», ein sehr schwammiger Ausdruck, lässt viel Raum für verschiedene Interpretationen. Was diese gemeinsam haben, ist die Darstellung einer unnahbaren Elite, welche im Hintergrund die Fäden zieht. Die parlamentarische Politik verkommt in dieser Wahrnehmung zu einer Inszenierung, welche, gestützt durch «Main-Stream Medien», den Glauben an eine Demokratie aufrechterhält. Je nach Präferenz der beteiligten Demonstrant*innen wird diese Elite durch die Gates Foundation, einen zionistischen Kinderhändler*innenring oder gar durch eine andere «Spezies» gelenkt. Was auf den ersten Blick wie dummes, nicht ernstzunehmendes Geschwurbel von ein paar Verwirrten wirkt, vermittelt oftmals ein rassistisches, antisemitisches und menschenverachtendes Weltbild. Seit dem Corona-Lockdown verbreiten sich diese Theorien wie ein Lauffeuer. Die Gefahr, die von einem unsichtbaren Virus ausgeht und die Bevölkerung plötzlich dazu zwingt, zuhause zu bleiben, stellt einen fruchtbaren Nährboden für solche Verschwörungsideologien[1] dar. Dass diese Ansichten eine grosse Verbreitung geniessen – in Deutschland glaubt mittlerweile jede*r Dritte, dass Politiker*innen von einer überstehenden Macht gesteuerte Marionetten seien[2] – muss mit Sorge betrachtet werden und verlangt nach einer politischen Antwort.

Anti-Lockdown-Demo am 16. Mai 2020 in Zürich

Die Welt der Verschwörungsideolog*innen

Da sich die Teilnehmer*innen dieser Demos immer wieder «missverstanden» fühlen und nicht müde werden, denn Rest der Bevölkerung dazu zu animieren sich zu «informieren» und sich «eigene Gedanken» zu machen, haben wir uns entschieden, zwei weitverbreitete Verschwörungsideologien, welche ein stark menschenverachtendes und mitunter antisemitisches Weltbild vermitteln, näher zu betrachten.

Dabei haben wir uns für die von Ken Jebsen verbreitete Vorstellung einer durch die Bill Gates Foundation kontrollierten Weltordnung und die Ideologie von Q-Anon, welche die Welt durch einen zionistischen Kinderhändlerring gelenkt sieht, entschieden. Die beiden Ideologien unterscheiden sich sehr stark in ihrer Selbstdarstellung.

Während Ken Jebsen darum bemüht ist, seine «Recherchen» als wissenschaftlich und faktenbasiert zu verkaufen, gleicht die Q-Anon Bewegung schon fast einer Sekte, welche kein Problem damit hat, komplett in die Irrationalität abzudriften und die eigene Vision einer angeblichen jüdischen Weltverschwörung einzig durch den eigenen Glauben daran aufrechtzuerhalten. Im Kern sind jedoch beide Herangehensweisen unwissenschaftlich.

Ken Jebsen der scheinbar seriöse Journalist

Zuerst zur Bill-und-Melinda-Gates Verschwörung: Die Vorstellung, dass die Corona-Pandemie und die damit zusammenhängenden Lockdown-Massnahmen durch die Bill Gates Foundation orchestriert werden, gelangte unter anderem durch Ken Jebsen zu weiter Verbreitung. Ken Jebsen ist «unabhängiger» Journalist, welcher seit Jahren den YouTube Kanal «KenFM» betreibt und damit verschiedensten «Expert*innen», unter anderem auch dem umstrittenen Schweizer «Historiker» Daniele Ganser[3], eine Bühne zur Verbreitung ihrer «alternativen Fakten» bietet. Dabei ist er stets darauf bedacht, als seriöser Journalist aufzutreten. Wortgewandt spricht er in einem irrsinnigen Tempo über die NATO, das imperialistische Amerika und das heraufbeschworene Feindbild Russland. Seit Jahren präsentiert er sich als Putin-Versteher und sieht die Krim-Annexion beispielsweise als legitime Reaktion auf eine «False Flag Attack» der NATO an. Dabei verwebt er historische Fakten mit abenteuerlichen Argumentationssträngen und erzeugt damit ein Bild, welches auf den ersten Blick wissenschaftlich wirkt. Durch seine populistische Teilung der Welt in progressive Staaten mit antiimperialistischer Tradition, wie zum Beispiel Syrien oder Russland, und die imperialistischen Aggressoren der NATO-Staaten, reproduziert er in gewisser Weise das Blockdenken des Kalten Krieges. Dadurch wird die berechtigte Kritik am US-Imperialismus und der NATO zu einem Mittel, um das politische Handeln autoritärer und antidemokratischer Herrscher*innen zu legitimieren und beispielsweise Putin oder Assad zu antiimperialistischen Kämpfern hochzustilisieren. [4]

Dies machte ihn in der Vergangenheit auch immer wieder zugänglich für linke Verehrer*innen des Realsozialismus, welche in ihrem einseitigen Imperialismus-Verständnis oftmals in dieselbe Kerbe schlagen.

Gates Foundation und die geplante Weltherrschaft

Durch den Lockdown bekam Ken Jebsen zusätzlichen Aufschwung und scheint sich nun endgültig von jeglichen Fakten verabschiedet zu haben. Die vermeintlich wissenschaftliche Selbstdarstellung jedoch bleibt. Sein 30 Minuten langes Video «Gates kapert Deutschland»[5], in welchem er die Aufhebung des Grundgesetztes heraufbeschwört, wurde auf YouTube über drei Millionen Mal angeklickt. Bereits in der ersten Minute erschafft er ein romantisierendes Bild des Deutschlands vor dem Lockdown, welches ihm ermöglichte, Journalist zu werden und Meinungsfreiheit und Grundrechte garantierte. Diese seien nun in grosser Gefahr. Schuld daran seien in erster Linie Bill und Melinda Gates, welche die Weltgesundheitsorganisation WHO kontrollieren würden und sich unter anderem auch in Medienhäuser und die Bundesregierung eingekauft hätten und das «Merkel-Regime» nun scheinbar lenken würden. So wird das Corona-Virus als abgekartetes Spiel der Eliten präsentiert. Bill und Melinda Gates würden über die WHO bestimmen, was Gesundheit bedeutet. Gesundheit werde in diesem Fall gleichgestellt mit Impfen. So sei das Corona-Virus nur ein Vorwand, um Grundgesetze auszuhebeln und die ganze Menschheit einer Zwangsimpfung zu unterziehen, mit dem Zweck, die Weltbevölkerung drastisch zu reduzieren, um der drohenden Überbevölkerung unseres Planeten Rechnung zu tragen. So sei der angeblich in Entwicklung stehende Covid-19 Impfstoff in Wahrheit ein Mittel, um Zwangssterilisierungen durchzuführen.

Das Gesetz des Stärkeren

Aber wen spricht Ken Jebsen mit dieser aberwitzigen Darstellung der Welt eigentlich an? Wenn er beispielsweise an einer Hygienedemo in Stuttgart davon spricht, dass seine Zielgruppe der Mensch sei und er die Bühne verlasse, weil die Zeit vorbei sei, in der sich die Teilnehmer*innen von oben herab volltexten lassen müssen, hat das System.[6] Er sieht sich selbst als Philanthropen. Wenn er von der Zielgruppe Mensch spricht, will er damit Offenheit und Toleranz suggerieren. Er versteht sich als «Querdenker». In seiner Vision einer Querfront werden politische Lager obsolet. Links und Rechts sind von den Eliten erschaffene Instrumente, um die Gesellschaft zu spalten. Eigentlich gibt es nur die einfache Bevölkerung, die im Dunkeln gehalten wird und die verschworene Machtelite, welche im Verborgenen agiert und den Rest der Bevölkerung als Spielball ihrer politischen Interessen benützt.

Tatsächlich spricht er lange nicht alle Menschen, sondern eine bestimmte soziale Schicht an. Wenn er davon spricht, dass Bill und Melinda Gates momentan bestimmen, ob wir in den Urlaub fahren, unsere Grosseltern sehen oder ohne Maske in den Supermarkt gehen dürfen, dann spricht er damit vor allem die Sorgen des weissen deutschen Mittelstandes an. Dieses neoliberale, konsumorientierte Ideal von Freiheit lässt gewisse Menschen bewusst aussen vor und ist tief sozialdarwinistisch. So verliert er beispielsweise kein Wort über die momentane Situation von Geflüchteten oder die Realitäten von prekarisiert lebenden Menschen, welche um ihre Existenz kämpfen. Im Gegenteil: Jebsens «Offenheit», welche zum Beispiel auch Rechtsextreme einschliesst, führt zwangsmässig zu einem Ausschluss aller von Rassismus betroffenen Personen. Diese Personen sind ihm schlichtweg egal.

Er bevorzugt es, wohlhabenden Gastautoren auf seiner Website Raum zu lassen, um sich über die fallenden Aktienkurse zu echauffieren.[7] Für Ken Jebsen ist es unverständlich, dass wegen einigen wenigen Toten, die in seiner Argumentation auch sonst bald gestorben wären, persönliche Freiheiten eingeschränkt werden.[8] Es muss also etwas Grösseres dahinter stecken. Mal abgesehen davon, dass Ken Jebsen damit die hunderttausenden Toten in Spanien, Italien oder der USA als kleine «Opferzahl» ansieht und sich spätestens dadurch als ein eher inkonsequenter Menschenfreund entpuppt, geht es ihm vor allem um eines: Macht und Deutungshoheit.

Ken Jebsens Holocaust Verharmlosung

Ken Jebsen möchte, dass die Menschen sein Denken übernehmen und seine Vorstellung vom Funktionieren der Welt als Wahrheit annehmen. Seine Welt ist geprägt von Verschwörungen und einem mitunter sehr fragwürdigen Geschichtsverständnis. Auf seiner Website KenFM schreibt er:

„Wenn der Faschismus wiederkehrt, wird er nicht sagen: „Ich bin der Faschismus“. Nein, er wird sagen: „Ich bin die Pandemie.“[9] Dieser Vergleich kommt einer groben Verharmlosung des Nazi-Terrors gleich. Ken Jebsen glaubt also allen Ernstes, dass 2020 eine koordinierte Dezimierung der Weltbevölkerung durch Impfungen stattfinden wird und stellt dies mit dem Massenmord der Nazis gleich. Seine Anhänger*innen, die einen «Nicht Geimpft» Stern auf ihrer Brust tragen oder bei seinen Reden ein «Nie wieder Faschismus» Banner hochhalten, klatschen Beifall.

Wer felsenfest vom Funktionieren dieser Querfront überzeugt ist, findet es nicht mehr abartig, zusammen mit Rechtsextremen gegen eine drohende faschistische Diktatur zu kämpfen. So versuchen sowohl in Deutschland, als auch in der Schweiz, Rechtsextreme Einfluss auf die Organisation dieser Demonstrationen zu nehmen.[10] Dabei wird der online Messengerdienst Telegram zu einem immer wichtigeren Instrument für rechte Verschwörungsideolog*innen. So ist es kein Wunder, dass in den Telegram-Chats der scheinbar so weltoffenen Bewegung beispielsweise über die angeblich verzerrte Darstellung der Shoa in unserer Geschichtsschreibung diskutiert wird.

Q-Anon: Trump wird zum Erlöser

Die zweite Verschwörungsideologie, auf welche wir in diesem Text eingehen, ist Q-Anon. Diese entstand 2017 in einem Onlineforum namens „4chan“. Diese Seite wird seit längerem unter anderem von Rechtsextremen als Plattform zum anonymen Austausch und Verbreiten von Hasskampagnen benutzt.

2017 gab sich ein Nutzer mit dem Benutzernamen Q als hochrangiger Informant, welcher dem engen Berater*innenkreis Donalds Trumps angehöre, aus und kündigte die angeblich bevorstehende Verhaftung Hillary Clintons an. Zunächst auf „4chan“, dann auf dessen noch radikalerem Ableger „8chan“, entwickelt sich eine wilde Verschwörungserzählung. Darin kämpft Trump angeblich gegen einen „tiefen Staat“ bzw. „deep state“, welcher die Geschicke der USA heimlich bestimme. Es gäbe ein Netzwerk pädophiler Politiker*innen, Banker*innen und Hollywoodstars, welche Kinder entführen und in unterirdischen Lagern foltern und ermorden würden. Dies alles um aus ihnen das „Lebenselixier“ Adrenochrom zu gewinnen, wodurch sie sich ein längeres Leben erhoffen.

Diese Chemikalie ist ein natürliches Stoffwechselprodukt des Adrenalins. Es kommt im Körper vor und kann auch künstlich hergestellt werden, ist aber kein Verjüngungsmittel.[11]

Dieser Kindesmissbrauchsring würde laut dieser Verschwörung hauptsächlich durch Demokrat*innen, Feminist*innen und Jüdinnen und Juden geleitet, vor allem von der Familie Rothschild. Kein Wunder sind die Anhänger*innen dieser Verschwörungsideologie oft stark antisemitisch.

Q’s Erzählungen sind mittlerweile fast nicht mehr zu überblicken; er äussert sich auf „8chan“ mehrmals täglich zu allem möglichen und hinter Allem und Jedem*Jeder steckt eine Verschwörung. Man könne niemandem mehr vertrauen, vor allem nicht den Mainstream Medien. Somit schafft diese Person eine Art Überverschwörungserzählung, welche sich jeglicher Fakten entledigt hat und sich ausschliesslich über den Glauben an das gesagte selbsterhält.[12] Das zieht sich durch alle möglichen Verschwörungserzählungen und ist brandgefährlich. Durch die Ablehnung der Mainstream Medien und die Zuwendung zu alternativen Medien verlieren die Anhänger*innen komplett das Vertrauen in die Gesellschaft, die Wissenschaft und fakten- und quellenbasierte Artikel.

So absurd diese Verschwörung auch klingen mag, es ist beängstigend, wie viele Anhänger*innen sie hat. Nicht nur wird sie von vielen radikalen Anhänger*innen Trumps verbreitet, auch berühmte Menschen, wie zum Beispiel Xavier Naidoo und Oliver Janich glauben und verbreiten diese Ideologie.

Der rechtsextreme Tobias R., welcher im Februar 10 Menschen in Hanau ermordete, bezog sich ebenfalls auf Q-Anon. Laut einer aktuellen Umfrage haben ein Viertel der US-Amerikanischen Bevölkerung schon davon gehört und auch in Deutschland ist diese Erzählung angekommen. Ein Video Janichs, indem er sie verbreitet, wurde innerhalb von vier Tagen fast eine halbe Million Mal angesehen.

Durch die Corona-Pandemie verbreitet sich diese Erzählung noch weiter. Angeblich seien die Schutzmassnahmen und Grenzschliessungen von Trump und seinen Mitstreiter*innen eingeführt worden, um die bevorstehende Befreiung missbrauchter Kinder aus den Fängen der Verschwörer*innen nicht zu gefährden. Dadurch wirkt Trump auf die Anhänger*innen dieser Verschwörungsideologie wie ein grosses Genie im Kampf gegen die satanisch-pädophile Weltverschwörung. Obwohl er als Präsident komplett inkompetent ist, und die Gefahr, welche von Corona ausgeht, bis heute leugnet und durch seine Unfähigkeit tausende Menschenleben gefährdet. [13] Trump selbst hat natürlich auch Interesse daran, dass Menschen diese Erzählungen glauben. Er verbreitet selbst immer wieder alternative Fakten und hat in der Vergangenheit schon mehrmals Tweets von Anhänger*innen dieser Verschwörungsideologie gepostet.

So wird die Corona-Skepsis nicht nur durch Pseudojournalist*innen oder angeblichen Informant*innen Trumps angefeuert, sondern auch durch reaktionäre Köpfe in Regierungsposition, wie zum Beispiel Trump, Bolsonaro oder Putin.[14][15][16]

Eine linke Antwort zur Corona Krise

Wie bereits am Anfang des Artikels erklärt, greifen Verschwörungsideologien oftmals berechtigte Sorgen in der Bevölkerung auf. So zum Beispiel das Verhältnis von oben und unten, die Verteilung von politischer Macht innerhalb einer bürgerlichen Demokratie oder die stetig ausgebaute Überwachung der Zivilbevölkerung. Die Schlussfolgerungen, die daraus gezogen werden, sind jedoch meist hanebüchen und verkürzt. Das Funktionieren von Politik und Wirtschaft wird so zurechtgebogen, dass klar zwischen «Gut» und «Böse» unterschieden werden kann. Deshalb erinnern so manche Verschwörungsideologien an Geschichten, die wir aus unserer Kindheit kennen. Gut und Böse werden als zwei diametrale Kräfte dargestellt, die in einem ständigen Kampf stehen. So liegt ihrer Interpretation von «oben und unten» auch keine strukturelle, klassenbezogene Kritik zu Grunde, sondern die Verteufelung von Einzelpersonen. Die Kritik richtet sich nicht gegen die generelle Funktionsweise des Kapitalismus, welche zwangsläufig Ungleichheiten schafft, sondern gegen bestimmte «schlechte» Kapitalist*innen, welche den freien Markt aufheben, durch den Lockdown ihre Konkurrenz wirtschaftlich zugrunde richten und die alleinige Macht über die Welt erlangen möchten. Diese Darstellung führt zwangsläufig zu einer Diffamierung einer bestimmten Bevölkerungsgruppe, die angeblich von Grund auf Böse ist und der Menschheit schaden möchte. Dadurch ist sie ein perfekter Nährboden für Rassismus und Antisemitismus.

Diese Ansicht ist Ausdruck eines kompletten Unverständnisses darüber, wie ein kapitalistisches Wirtschaftssystem funktioniert.

Marxistische Antwort auf eine personifizierte Kapitalismuskritik

Aus einer marxistischen Perspektive betrachtet, sind Kapitalist*innen nicht einfach Schurken, welche das Böse von Natur aus in sich tragen, sondern sind genau wie das Proletariat einem ökonomischen Druck ausgeliefert. Durch Konkurrenzdruck und ständigen Wettbewerb sind sie dazu gezwungen, die Löhne der Arbeiter*innen möglichst tief zu halten und ständiges Wachstum anzustreben. Nur die «Stärksten» können sich in diesem sozialdarwinistischen System durchsetzen. So sind die unnahbaren «Multis», welche scheinbar die Welt regieren, eine logische Folge der zwangsmässigen Konzentration und Zentralisierung von Kapital in den Händen von immer weniger Kapitalist*innen. Diese agieren wegen des oben beschriebenen Konkurrenzverhältnisses auch nicht als eine eingeschworene Gruppe, sondern bekämpfen sich oftmals gegenseitig in der Hoffnung auf einen möglichst grossen Marktanteil. Dass sie durch ihr Eigentum mehr Macht und Einfluss haben als ein*e Arbeiter*in, ist offensichtlich.

Das verbreitete Bild, dass Politiker*innen nur Marionetten dieser Grosskonzerne seien, ist allerdings ein weiterer Beleg für ein verdrehtes Verständnis einer bürgerlichen Demokratie. Politiker*innen sind nicht einfach gleichgeschaltete Schafe, die quasi nur ein Sprachrohr der «Elite» sind, sondern existieren genauso wie die Kapitalist*innen nicht als eine eingeschworene Gruppe. Ohne unser parlamentarisches Politsystem glorifizieren zu wollen, ist es schlichtweg falsch, die Deutsche oder Schweizer Politlandschaft als einheitlich darzustellen. Aber genau das ist die konsequente Schlussfolgerung von «Querdenkern», welche politische Differenzen ja ohnehin nur als von oben geplante Spaltungsversuche verstehen. Statt die bürgerliche Demokratie auf diese komplett irrationale Art und Weise zu kritisieren, gäbe es durchaus auch einen rationalen Zugang zu einer Kritik an unserem parlamentarischen Politsystem. Wenn der Bundesrat in der momentanen Wirtschaftskrise ohne weiteres Milliarden für Unternehmen bereitstellt, ist das Ausdruck einer Politik, welche vor allem die Interessen der Reichen und Mächtigen bedient. Während er die klimaschädliche Flugbranche unter Abwesenheit irgendwelcher Bedingungen mit zwei Milliarden unterstützt, wird gleichzeitig für KITAS nur 65 Millionen bereitgestellt. Dies zeigt einmal mehr, dass der Bundesrat Profite über Mensch und Natur stellt. Unabhängig von der politischen Ansicht und den Zielen, die man als Politiker*in verfolgt, unterliegt man immer einem ökonomischen Zwang. Man bewegt sich innerhalb eines Systems, in welchem Profite und eine funktionierende Wirtschaft oberste Priorität haben. Dort wo vor der unterstellten Alternativlosigkeit dieser Zwänge kapituliert, verkommt auch linke parlamentarische Politik oftmals zu einer Abwägung von verschiedenen Interessen, der Akzeptanz des «kleineren Übels» und zu einer Politik der Kompromisse, welche praktisch immer zu Gunsten von Kapitalist*innen ausfällt. 40 Jahre Neoliberalismus, die damit zusammenhängende Vereinzelung vieler einst organsierten Arbeiter*innen, der sukzessive Abbau von Arbeiter*innenrechten und die laufende Deregulierung der Wirtschaft, haben ein extrem ungleiches gesellschaftliches Kräfteverhältnis geschaffen. Die Kapitalist*innen sitzen durch ihre wirtschaftliche Relevanz an einem viel längeren Hebel, als unorganisierte Arbeiter*innen, welche aufgrund ihrer ökonomischen Situation davon abhängig sind, dass sie von ebendiesen angestellt werden.

Dieses marxistische Grundverständnis führt zur Einsicht, dass eine Umverteilung von Eigentum und die wirtschaftliche und gesellschaftliche Selbstverwaltung der Arbeiter*innenschaft unerlässlich für eine Demokratie ist, welche ihrem Namen auch wirklich gerecht wird.

Ohne dieses Grundverständnis wird die Kritik am Kapitalismus zu einer Kritik an Einzelpersonen, was in eine politische Sackgasse führt. So ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass politische Alternativen von Verschwörungsideolog*innen oftmals nur schwammig oder gar nicht formuliert werden. Wenn man jedoch bedenkt, welches Klientel sie mit ihrer Darstellung der Welt ansprechen, wird rasch klar, dass es eher weniger um eine Verteidigung der Demokratie als um Einfluss und Macht geht. Der Sumpf aus personifizierter Kapitalismuskritik gemischt mit Antisemitismus und Rassismus spielt vor allem Rechtsextremen in die Hände, welche sich in diesem Umfeld gut profilieren können und auf offene Ohren stossen.

Dass diese Menschen kein Interesse an Demokratie haben, sondern im Gegenteil auf die komplette Zerstörung eben dieser abzielen, bedarf keiner weiteren Erklärung.

Die Anfangsfrage, ob man auf die Demonstrant*innen der Anti-Lockdown-Demos zugehen sollte und ob in dieser Bewegung womöglich sogar das Potential liegt, um eine progressive Zivilbewegung mitaufzubauen, ist definitiv mit nein zu beantworten. Diese Bewegung ist gefährlich und die Ideologie dahinter ist so absurd, dass man mit Menschen, welche diese vertreten, gar nicht mehr diskutieren kann, da eine gemeinsame Basis für Diskussionen nicht vorhanden ist. Deshalb positionieren wir uns klar gegen diese Demonstrationen und die Ideologien dahinter.


[1] Wir werden im folgenden Artikel von Verschwörungsideologien statt Theorien sprechen, da der Begriff «Theorie» eine wissenschaftliche Arbeitsweise voraussetzt.

[2] https://www.neues-deutschland.de/artikel/1136757.verschwoerungstheorien-vereint-gegen-den-feind.html

[3] https://www.youtube.com/watch?v=g_03xxwhJHs

[4] https://kenfm.de/tagesdosis-13-7-2018-russland-in-syrien-voelkerrechtskonform-usa-und-westen-voelkerrechtsverbrecher-podcast/

[5] https://www.youtube.com/watch?v=DxzMpNoZOL0&t=113s

[6] https://www.youtube.com/watch?v=tMGpYOAH1Cg

[7] https://kenfm.de/coronavirus-leute-rennt-um-euer-leben/

[8] http://www.salve.tv/tv/Salve/21203/KenFM—Standpunkte—Die-Panikmacher.-Die-Medien-schueren-zum-Coronavirus-die-Angst

[9] https://kenfm.de/corona-diktatur-machtergreifung-im-deckmantel-der-volksgesundheit/

[10] https://www.blick.ch/news/schweiz/fanatiker-heizen-demos-an-das-radikale-netzwerk-hinter-den-corona-protesten-id15894719.html?utm_source=copy&utm_medium=social_user&utm_campaign=blick_app_iOS&fbclid=IwAR2ugxu81cy3-rQYZoGctfFx65mFi0XRhrXh3YlR2seFrYHAdGorSWR3QL0

[11] https://www.rnd.de/politik/qanon-der-aufstieg-einer-gefahrlichen-verschworungstheorie-ORTPE4D5YRFRZKVTMJBTFADJTY.html

[12] https://www.belltower.news/die-ueberverschwoerung-q-ist-endgueltig-in-deutschland-angekommen-82859/

[13] https://www.rnd.de/politik/qanon-der-aufstieg-einer-gefahrlichen-verschworungstheorie-ORTPE4D5YRFRZKVTMJBTFADJTY.html

[14] https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-04/corona-krise-usa-donald-trump-pandemie-ungleichheit

[15] https://euvsdisinfo.eu/the-kremlin-and-disinformation-about-coronavirus/

[16] https://www.watson.ch/international/coronavirus/909373564-jair-bolsonaro-verharmlost-coronavirus-nur-eine-kleine-grippe

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