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Belarus: Arbeiter*innen unterstützen Demonstrant*innen mit immer mehr Streiks

Die Präsidentschaftswahlen in Belarus am 9. August bestätigten den amtierenden Präsidenten Aleksander Lukaschenko nicht nur erneut in seinem Amt, sondern auch gleich mit einem unglaubwürdigen Ergebnis von angeblich 80 Prozent. Doch die belarusische Bevölkerung liess sich das nicht bieten und ging trotz gewaltsamer Repression durch die Behörden auf die Strasse für ein jähes Ende der gewaltsamen Unterdrückung, die Freilassung der verhafteten Demonstrant*innen und erhob sogar die Forderung nach Neuauszählung der Wahlzettel und Neuwahlen. Diktator*innen wollen uns oft weismachen, dass diejenigen, welche nach mehr Freiheit rufen, die Ordnung gefährdeten, die gesellschaftliche und vor allem wirtschaftliche Stabilität bedrohten. Damit scharren sie oft den Rest an Billigung in der eigenen Bevölkerung um sich. Belarus ist zurzeit aber das beste Beispiel dafür, dass der Ruf nach mehr Demokratie und nach mehr Arbeiter*innenrechte Hand in Hand gehen. Die Welt wird gerade Zeuge, wie sich die belarusischen Fabrikarbeiter*innen den Demonstrationen und ihren Forderungen anschliessen. Der Artikel aus globalvoices vom 13. August gibt einen Einblick in die Ursachen, weswegen sich die Arbeiter*innenschaft in einem Land, wo der Staat einen Grossteil der Arbeitsplätze stellt, gegen ihren letztlich obersten Chef wendet, und warum das Mitmarschieren der Arbeiter*innenschaft für die Demokratiebewegung schliesslich essentiell ist. (Red.) 

Wenn sich Massenstreiks ausbreiten, könnten sie den Druck auf die Autoritäten vergrössern 

Heute in Belarus auf die Strasse zu gehen, erfordert Mut. Einsatzkommandos haben extreme Gewalt gegen Bürger*innen eingesetzt und dabei über 6’000 festgenommen. Diese Bürger*innen protestieren gegen einen Versuch des langjährigen Präsidenten Alexander Lukaschenko, der das Land seit 1994 regiert, nach einer dubiosen Präsidentschaftswahl am 9. August für eine sechste Amtszeit im Amt zu bleiben. Sie weigern sich anzuerkennen, dass Lukaschenko laut offiziellen Angaben 80 Prozent der Stimmen erhalten habe im Vergleich zu nur neun Prozent für seine Herausforderin Swjatlana Zichanouskaja, die mittlerweile ins Nachbarland Litauen geflohen ist. Mindestens zwei Leute sind gestorben; die Gefängnisse sind voll, und es gibt glaubwürdige Anschuldigungen von Folter und Misshandlungen

Sich in Belarus, wo strenge Gesetze, Arbeitskämpfe einschränken, Streikposten anzuschliessen, erfordert ebenfalls Mut. Das Land hat im Prinzip “keine Garantie von Arbeitnehmer*innenrechten”, wie der Internationale Gewerkschaftsbund (IGB) in einer jüngsten Erklärung zu den Unruhen bemerkte. Aber die belarusische Arbeiter*innen liessen sich nicht davon abschrecken; die ersten Unruhen ereigneten sich am 10. August an den riesigen metallurgischen Werken der Stadt Schlobin. Am selben Tag wurde auf dem Telegramkanal Мая краiна Беларусь (“mein Land Belarus”) ein Aufruf geschaltet, der die Arbeiter*innen dazu aufforderte, die Unterstützung ihrer Chef*innen für Neuwahlen und zur Beendigung der Polizeigewalt einzufordern. 

In den Tagen seither, weiteten sich die Unruhen im ganzen Land und auf eine Mehrzahl von Industrien aus. In der Hauptstadt Minsk, traten Busfahrer*innen in Streik als Protest gegen die Festnahme eine*r ihrer Kolleg*innen an einer Demonstration. Arbeiter*innen in einer Zuckerfabrik in Schabinka traten in Streik, so auch Ingenieur*innen in der Minsk Traktorenfabrik

Lukaschenko ist nicht der Päsident der Arbeiter*innenschaft 

Die Behörden haben aber nicht nur tatenlos danebengestanden. Mannschaftswagen und Gefängniswagen wurden ausserhalb mehrerer Firmengelände gesehen. Festnahmen folgten. Am 11. August wurden Nikolai Zimin, der ehemalige Präsident der belarusischen Minen- und Chemiearbeiter*innen, und Maxim Sereda, Vorsitzender der Unabhängigen Miner*innern Gewerkschaft in einem Gericht in Soligorsk, wo die Minenarbeiter*innen gestreikt hatten, zu mehreren Tagen Haft verurteilt. In den vergangenen Tagen hatte Lukaschenko die Demonstrant*innen als «Schafe» und als Provokateur*innen auf der Gehaltsliste von ausländischen Mächte abgetan. In einem Meeting am 10. August beschrieb er sie als “Kriminelle” und als Arbeitslose: 

„Die [soziale] Basis all dieser sogenannten Demonstrant*innen sind Leute mit einer kriminellen Vergangenheit oder solche, die arbeitslos sind. Keine Arbeit? OK, “lass uns einen Ausflug auf die Strassen und Alleen machen.” Deswegen frage und warne ich, in gutem Glauben: Wenn ihr nicht arbeitet, müsst ihr losgehen und Arbeit finden.“

Aber es scheint, als sehen viele Arbeiter*innen die Dinge ganz anders. Obwohl die Gewerkschaften von Belarus offiziell stark eingeschränkt und den Behörden unterworfen sind, besitzt das Land eine unabhängige Gewerkschaftsbewegung, die durch den belarusischen Kongress für demokratische Gewerkschaften (BKDP, Belarusian Congress of Democratic Trade Unions, Anm. d. Red.) repräsentiert wird. Diese Bewegung hat Repression und Einschüchterung überlebt und verfügt noch immer über Präsenz an einigen Arbeitsplätzen. Ihr Exekutivkomitee hat am 12. August eine Erklärung mit einer sehr klaren Position veröffentlicht:

„Die belarusische Bevölkerung hat Lukaschenko nicht als ihren rechtmässig gewählten Präsidenten anerkannt, und Massenproteste sind im ganzen Land ausgebrochen. Das herrschende Regime, welches so ruchlos die Macht ergriffen und die ganze Welt schockiert hat, hat zu Vergeltungsmassnahmen gegen Teilnehmer*innen an friedvollen Protesten gegriffen. Die noch nie dagewesene Brutalität der Sicherheitskräfte hat zu Todesfällen geführt. 
Wir fordern die unverzügliche Beendigung der Repressionen, der Gewalt und der Morde von Bürger*innen dieses Landes, die rasche Freilassung all jener, die illegal inhaftiert worden sind, die Einstellung aller Kriminalverfahren in Verbindung mit der Teilnahme an den Massenprotesten, und die Freilassung aller politischen Gefangenen. 
Die Streiks, die im Land gerade im Gange sind, zeigen eine wachsende politische Aktivität seitens der Arbeiter*innenschaft. Das Regime, welches sich illegal an die Macht klammert, führt dieses Land geradewegs in den wirtschaftlichen Kollaps: Geradewegs in den Bankrott und die Schliessung der Betriebe, den Verlust der Arbeitsplätze und die Verarmung der Menschen.“

Indem der besagte Brief erklärte, dass dies zu Massenentlassungen führen würde, rief er die Arbeiter*innen nicht auf, zu streiken. Und doch lässt sich zu Recht behaupten, die Logik des Gewerkschaftsaktivismus dahinter sei in gewissem Masse verschieden von traditionellen Streiks im engeren Sinne: Arbeiter*innen fordern von ihren Chef*innen, im Namen ihrer Arbeitsplätze, Lukaschenko und seine Regierung offiziell zu verurteilen.

Der alte Burgfrieden hat ausgedient 

Diese Aktion hat eine kraftvolle politische Bedeutung in einem Land wie Belarus, welches weltweit eine der höchsten Bevölkerungsanteile im Staatssektor beschäftigt. Im Gegensatz zu Russland hat Belarus nicht die “Schockdoktrin” der Privatisierung der 1990er durchgemacht und viele Schlüsselindustrien in Staatsbesitz belassen. Dies hatte Lukaschenko eine gewisse Zustimmung für die verhältnismässig hohe soziale Stabilität eingebracht, selbst noch als er einen unbeugsam autoritären Staat aufbaute. Doch in den letzten Jahren begann sein Teil der Abmachung zu schwinden, als das Sozialwesen reduziert und den Arbeitslosen sogar eine Steuer auferlegt wurde, was Wellen des Protestes entfachte. Tadeusz Giczan, ein Doktorand zum Thema Belarus am University College in London erzählte der Globale Voices, dass der Grossteil der Arbeiter*innen langsam seinen Glauben in diesen einst machtvollen Gesellschaftsvertrag verloren hätten: 

„Lukaschenko hat die Unterstützung der “einfachen Leute” seit seiner Steuer gegen die “sozialen Parasiten” in 2017 verloren. Aber vor allem konnte die Wirtschaft seit 2010 keinen Wachstum mehr verzeichnen und es gibt keine Regierungspläne, um dies zu ändern. Die Unzufriedenheit wächst jetzt schon seit einiger Zeit und brach jetzt gerade hervor wegen einer Vielzahl an indirekter Ursachen wie etwa der fehlerhaften Handhabung der COVID-19-Krise und der Aufkommen starker Oppositionsleader*innen.“ 

Anders als in der Ukraine befinden sich solche riesigen Fabriken und Arbeitsplätze gemeinhin nicht in den Händen mächtiger Oligarch*innen mit der Macht, unabhängig um politische Macht zu rangeln. Stattdessen sind ernannte Manager*innen gegenüber der Staatsmacht über ihnen rechenschaftspflichtig – und nun auch gegenüber ihren Arbeitnehmer*innen unter ihnen. Hier ist ein Beispiel der Art von Petition, welche die Arbeiter*innen des Belkard Metallwerks im Westen der Stadt Hrodna unter sich zirkulieren und mit der sich die Manager*innen jetzt konfrontiert sehen müssen:

„Im Augenblick sind rund 200 Arbeiter*innen von Balkard JSC, der Grossproduzent*innen von Autobestandteilen, auf das Firmengelände gekommen, um einzufordern, dass sich die Direktor*innen an die lokalen Behörden und das Innenministerium wenden und verlangen, dass der Brutalität und den Gewalteinsatz, sowie auch den haltlosen Festnahmen von Leuten durch die Sicherheitskräfte und der Polizei ein Ende gesetzt wird. 
Des Weiteren, verlangen die Arbeiter*innen von Belkard, dass alle festgenommenen Bürger*innen freigelassen werden und dass der Generalstaatsanwalt eine Prüfung der Richtigkeit der Stimmzählung in jedem Wahldistrikt von Hrodna durchführt.“

Soweit das anhand der Medienreporte beurteilt werden kann, werden solche Forderungen in den grössten Unternehmen des Landes, sowohl staatlich wie auch privat, geäussert. Angestellte der des Azot Chemiewerks in Hrodna haben, unterstützt durch die unabhängige Gewerkschaft von Belarus, einen ähnlichen Brief zirkulieren lassen. Ein potentieller Game Changer ist der Streik in BelAZ, eines der grössten und bekanntesten Unternehmen des Landes, welche Schwerindustriefahrzeuge produziert. Die Firma nimmt jährlich um die 970 Millionen Euro an Umsatz ein und verfügt über Kund*innen auf der ganzen Welt. 

Videos zirkulieren zurzeit auf den sozialen Medien, die spannungsgeladene Treffen zwischen den Arbeitnehmer*innen und ihren Chef*innen zeigen. Erstere machen dabei ihre Loyalitäten klar: 

Dieses Video zeigt marschierende BelAz-Arbeiter*innen, die auf Belarusisch: «Nachzählen!», rufen:

Doch bei den Industriearbeiter*innen hört dieser Aktivismus noch nicht auf. Eines der lebhaftesten Videos der jüngsten Tage zeigte Mitglieder der belarusischen Philharmonie dabei, wie sie singend Plakate hochhielten, auf denen stand: «Meine Stimme wurde gestohlen!»

Die Arbeiter*innenschaft ist nun am Hebel

Da sich die Situation in Belarus verschlimmert, fürchten viele Beobachter*innen, dass sich Lukaschenko von jeder Opposition, die einst noch zu Verhandlungen mit ihm bereit gewesen wäre, entfremdet habe. Daher könnten die Petitionen der Manager*innen zu den Behörden einer der wenigen Kanäle des Dialogs sein, die noch übriggeblieben sind, betonte Volodia Artiukh, Wissenschaftler aus der Ukraine, der sich auf Arbeitsbeziehungen in Belarus spezialisiert hat. Artiukh schrieb kürzlich zur gesellschaftlichen Zusammensetzung der Demonstrant*innen auf openDemocracy:

„Was ich über die organisierte Arbeiter*innenschaft als einzigen Akteur, der fähig sei, klare Forderungen zu artikulieren und durchzubringen und die Behörden zu zwingen, hinzuhören, gesagt habe, kann mit einem Video von einem Treffen der BelAZ-Arbeiter*innen mit dem Bürgermeister ihrer Stadt, welches sich heute Nachmittag ereignet hat, illustriert werden. Mehrere hundert Arbeiter*innen versammelten sich am Werktor und trafen sich mit ihrem Direktor und dem Bürgermeister von Zhodin, der unverzüglich hinging. Die Unterredung war hitzig aber respektvoll. Der Bürgermeister wirkte verwirrt und schüchtern. Die Arbeiter*innen forderten die Freilassung ihrer Kolleg*innen und Familienmitglieder aus den Gefängnissen, die Ausweisung der Spezialeinsatzkräfte aus ihrer Stadt (“Wozu brauchen wir Lohn, wenn wir zusammengeschlagen werden?”) und die Neuauszählung der Stimmen. Sie beharrten darauf, dass ihre Stadt sicher sei, sie würden die Situation unter Kontrolle halten. Der Bürgermeister konnte freilich keine klaren Versprechen machen, aber er einigte sich darauf, sich mit den Arbeiter*innen am Abend ausserhalb der Fabrik zu treffen, um mit ihnen ihre Forderungen zu diskutieren. Er wurde daraufhin mit “Danke!”, und, ”Bürgermeister mit den Leuten!”, bejubelt. Das Werk ist zwar nie zum Stillstand gekommen, doch nachdem, was ich im Video gesehen habe, stehe ich der Möglichkeit von wirklich langandauernden Streiks und Arbeitsniederlegungen weniger skeptisch gegenüber. Bisher ist es der einzige Kanal, mit dem die Arbeiter*innen Behörden zu einer Art von Dialog auf lokaler Ebene zwingen können. Wenn die zentralen Behörden sie mieden, fiele dies zum Nachteil der Behörden aus.“ 

Im Gespräch mit Global Voices warnte Artukh vor einer Überschätzung der Reichweite solcher Streiks, aber betonte, dass sie bisher ohnegleichen und im belarusischen Kontext mutige Aktivitäten seien. Und natürlich war es wegen der Internetblockade in Belarus während der Wahlen und der Proteste zunächst auch schwierig, die wahre Grössenordnung der Streiks zu ermitteln. Sobald das Land aber wieder online ging, wurde das tatsächliche Ausmass aber ersichtlich – und es war beträchtlich. Und wenn streikende Arbeiter*innen vom nationalen Streikfonds, der am 13. August angekündigt worden ist, profitieren könnten, würde deren Zahl noch weiter steigen. 

Währenddessen wächst die Zahl der Unternehmen und Geschäfte, deren Arbeiter*innen ihre Solidarität mit der Opposition bekunden. Am Abend des 13. Augusts haben die Arbeiter*innen der MGTS (Minsk municipal telecommnications network oder Minsker Kommunal-Telekommunikationsanbieter, Anm. d. Red.) einen Streik angesagt

Belarusische Arbeitsplätze sind ebenso sehr ein Ort des Kampfes wie die Strassen und die Plätze des Landes – in der Tat könnten sie in den kommenden Tagen ebenso entscheidend sein. 


Übersetzung und Untertitel durch die Redaktion.

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