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Italien: Die Tragödie von Bergamo

Das von Covid-19 am meisten verwüstete Gebiet Italiens ist ein großes Industriezentrum. Auf Druck der Unternehmen wurde Bergamo aber nie zur roten Zone erklärt, obwohl die Sterblichkeit im März 568% höher war als im März 2019. Die Kosten an Menschenleben waren katastrophal und hätten vermieden werden können. (Red.)

von Alba Sidera; aus SoZ

Es gibt Bilder, die eine Epoche prägen und tief in die kollektive Fantasie eines Landes eingraviert bleiben. Was die Italiener*inen auf Jahre hinaus nicht werden vergessen können, sind die Bilder, die Bürger*innen von Bergamo in der Nacht des 18. März 2020 aus ihren Fenstern heraus aufnahmen. Siebzig Militärlastwagen durchquerten die Stadt in Grabesstille, einer nach dem anderen, langsam, zum Zeichen des Respekts: Sie transportierten Leichen. Sie brachten sie in Städte außerhalb der Lombardei, denn der Friedhof, das Leichenhaus, die zum Leichenhaus umgewandelte Kirche und das Krematorium reichten nicht mehr.
Die Bilder zeigen das Ausmaß der Tragödie in diesem vom Corona-Virus am schwersten betroffenen Gebiet Italiens. Am folgenden Tag kam die Nachricht, dass das Land nun die meisten offiziellen Todesfälle durch Covid-19 zu verzeichnen hätte, die meisten davon in der Lombardei. Aber warum war gerade in Bergamo die Situation so dramatisch? Was ist in diesem Gebiet geschehen, dass es hier im März 2020 viermal so viel Todesfälle gab wie im März des vorhergehenden Jahres?

Private Interessen

Am 23. Februar verzeichnete die Provinz Bergamo zwei Fälle von Corona-Infizierten. Eine Woche später waren es schon 220, fast alle im Seriana-Tal, einem breiten Tal, das sich von Bergamo aus nordostwärts erstreckt. In Codogno, der lombardischen Gemeinde, in der am 21. Februar der erste offizielle Fall von Corona-Virus auftrat, genügten 50 diagnostizierte Fälle, um die Stadt dicht zu machen und zur roten Zone zu erklären. Warum geschah dasselbe nicht im Seriana-Tal? Weil sich im Tal des Flusses Serio eines der wichtigsten Industriezentren Italiens befindet und die Industriebosse auf alle Institutionen Druck machten, um die Schließung ihrer Fabriken und finanzielle Verluste zu verhindern.

Und so ist, so unglaublich es auch scheinen mag, das Gebiet mit den meisten Corona-Toten je Einwohner in Italien (und Europa) nie zur roten Zone erklärt worden – zum Entsetzen der Bürgermeister, die dies gefordert hatten, und der Bürger, die jetzt Maßnahmen fordern. Wenn das Gebiet zur roten Zone erklärt worden wäre, wozu alle Experten geraten hatten, wären Hunderte Menschenleben gerettet worden.

Die Geschichte ist noch schmutziger: Diejenigen, die ein Interesse haben, dass die Fabriken weiter in Gang gehalten werden, sind dieselben, die an privaten Kliniken verdienen. Die Lombardei ist die Region Italiens, in der das Gesundheitswesen am stärksten kommerzialisiert wurde, es wurde dadurch Opfer eines korrupten Systems großen Ausmaßes. An dessen Spitze stand 18 Jahre lang (von 1995 bis 2013) der Präsident der Lombardei, Roberto Formigoni, führendes Mitglied von Comunione e Liberazione, einer katholisch-fundamentalistischen Bewegung. Er gehörte der Partei Berlusconis an, der ihn zum «Präsidenten der Lombardei auf Lebenszeit» ernannte, doch er stützte sich auch stets auf die Lega, die die Region seit Formigonis Abgang im Jahr 2013 regiert. Formigoni ist der Korruption im Gesundheitswesen angeklagt und verurteilt worden.
Sein Nachfolger im Amt wurde Roberto Maroni von der Lega. Er begann 2017 mit einer Gesundheitsreform, die die öffentlichen Investitionen noch stärker zusammenkürzte und die Gestalt des Hausarztes praktisch abschaffte und ihn durch einen «Geschäftsführer» ersetzte.

Die Hinterhand

Die Epidemie in der Region Bergamo begann offiziell am Nachmittag des 23. Februar, obwohl die Hausärzte versichern, dass sie schon Ende Dezember sehr viele Fälle von anomalen Lungenentzündungen behandelt haben. Im Hospital Pesenti Fenaroli von Alzano Lombardo, einer Gemeinde mit 13’670 Einwohner*innen nahe Bergamo, lagen an diesem 23. Februar die Testergebnisse von zwei Patienten vor: sie waren positiv. Weil beide Kontakt zu anderen Patient*innen und zu Ärzt*innen und Pflegepersonal gehabt hatten, beschloss die Klinikleitung, das Krankenhaus zu schließen. Doch wenige Stunden später wurde es wieder geöffnet – ohne irgendeine Erklärung, ohne die Einrichtung zu desinfizieren oder die Covid-19-Patienten zu isolieren. Mehr noch: das medizinische Personal arbeitete eine Woche lang ohne Schutz; ein großer Teil des Personals steckte sich an und verbreitete das Virus in der Bevölkerung. Die Infektion breitete sich im ganzen Tal aus.
Die Klinik wurde so zum ersten großen Infektionsherd: Patient*innen, die wegen eines bloßen Hüftleidens eingeliefert wurden, starben, weil sie sich in der Klinik mit dem Corona-Virus angesteckt hatten.
Die Bürgermeister der beiden am stärksten betroffenen Gemeinden im Seriana-Tal, Nembro und Alzano Lombardo, hofften jeden Tag, um 19 Uhr die Anordnung zur Absperrung der Ortschaft zu erhalten. Alles war bereit: die Verordnungen ausformuliert, die Armee mobilisiert; der Polizeichef hatte den Gemeinden die entsprechenden Dienstpläne übermittelt; die Zelte waren aufgebaut. Aber die Anweisung ist nie gekommen, und niemand konnte erklären, warum. Stattdessen gab es ständig Aufrufe von Unternehmer*innen und Fabrikdirektor*innen, um jeden Preis die Schließung ihrer Fabriken zu verhindern. Sie versteckten sich nicht.

Die Kampagne der Unternehmen

Nach fünf Tagen waren bereits 110 Infizierte in dem Gebiet registriert, das Virus war nun außer Kontrolle. Dem zum Trotz und ohne jede Scham begann der italienische Unternehmerverband Confindustria am 28. Februar eine Kampagne in den sozialen Netzen mit dem Hashtag #YesWeWork. «Wir müssen den Ball flach halten und der öffentlichen Meinung zu verstehen geben, dass die Lage sich normalisiert, dass die Leute wieder leben können wie zuvor», sagte der Vorsitzende der lombardischen Confindustria, Marco Bonometti, gegenüber den Medien. Am selben Tag startete die Confindustria Bergamo eine eigene, an ausländische Investoren gerichtete Kampagne des Inhalts, es sei nichts passiert, es werde nicht dichtgemacht. Die Parole lautete: «Bergamo non si ferma – Bergamo bleibt nicht stehen».

Weitere fünf Tage später hatte sich die Zahl der Infizierten und Toten verdoppelt. Aber auch jetzt wurde die Kampagne nicht gestoppt, die Fabriken nicht geschlossen. Zur Confindustria Bergamo gehören 1200 Betriebe mit über 80000 Beschäftigten. Alle wurden dem Virus ausgesetzt, gezwungen arbeiten zu gehen, zum großen Teil ohne adäquaten Schutz. Der Bürgermeister von Bergamo, Giorgio Gori von der Demokratischen Partei (PD), hatte sich ebenfalls dem Ruf angeschlossen, die Stadt nicht dicht zu machen. Noch am 1. März rief er dazu auf, die Geschäfte im Zentrum aufzusuchen – getreu der Parole «Bergamo bleibt nicht stehen». Später bereute er dies und gab zu, zu zaghafte Maßnahmen ergriffen zu haben, um die wirtschaftliche Aktivität der Unternehmen nicht zu stören.

Der Premier – ein Spielball

Am 8. März war die Zahl der offiziell Infizierten innerhalb einer Woche von 220 auf 997 gestiegen. Am Nachmittag wurde bekannt, die Regierung wolle die Lombardei abriegeln. Nach Stunden des Chaos, in denen viele Menschen Mailand hastig verließen, verkündete Giuseppe Conte das Dekret im Morgengrauen auf einer Pressekonferenz über Facebook. Es war nicht das, was die Bürgermeister der Gemeinden des Seriana-Tals erhofft hatten: keine rote Zone; nur der Zugang und der Ausgang der Gemeinden wurde beschränkt, doch alle konnten weiter zur Arbeit gehen. Nach zwei Tagen wurde dies auf ganz Italien ausgedehnt.

In der Provinz Bergamo änderte sich nichts. Am 21. März, genau einen Monat nach dem ersten offiziellen Corona-Virus-Fall in Italien, gab es den traurigen Rekord von fast 800 Toten täglich. Die Präsidenten der Regionen Lombardei und Piemont erklärten, die Lage sei unhaltbar, die Produktion müsse eingestellt werden. Premierminister Conte, der bislang gegen eine solche Maßnahme war, verkündete nun in der Nacht, man werde «alle nicht essentiellen Produktionsaktivitäten» einstellen.

Die Confindustria ging sofort in die Offensive und schrieb einen Brief an den Premierminister: «Es können nicht alle nicht essentiellen Aktivitäten eingestellt werden.» Es gelang ihr, das Dekret um 24 Stunden zu verschieben und Conte dazu zu bewegen, ihre Bedingungen zu akzeptieren. Die Regierung entschied, auf welche Seite sie sich stellen würde, und es war nicht die der Beschäftigten.

Die Gewerkschaften gingen geschlossen in den Kampfmodus über und drohten mit einem Generalstreik, wenn die nicht essentielle Produktion nicht eingestellt würde. Die Confindustria aber hatte erreicht, dass zu der Liste der Unternehmen, die weiter arbeiten durften, viele hinzugefügt wurden, die für die Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Lebens nicht essentiell sind – etwa die Rüstungsindustrie.

Außerdem war eine Klausel eingefügt worden, wonach jede Firma, die von sich behauptete, sie sei für die Aufrechterhaltung einer essentiellen ökonomischen Aktivität «funktional», weiterarbeiten konnte. Dies führte dazu, dass in Brescia, der anderen vom Corona-Virus stark betroffenen Provinz der Lombardei, über 600 Unternehmen, die nicht auf der Liste der essentiellen Betriebe standen, nun begannen, Anträge auf Weiterarbeit auszufüllen.

Die Beschäftigten in den Fabriken fingen an, Proteste und Streiks zu organisieren, und die Gewerkschaften verhandelten mit der Regierung, bis diese schließlich einlenkte. Einige Betriebe wurden von der Liste der über achtzig als essentiell betrachteten gestrichen (z.B. solche der Rüstungsindustrie und der Petrochemie). Auch wurde vereinbart, dass es nicht ausreicht, wenn Unternehmen sich selbst als wichtig für eine essentielle Aktivität bezeichnen. Dennoch sind einige Punkte im Dekret zweideutig geblieben, und es gibt eine Grauzone, die vielen Fabriken erlaubt, weiter zu arbeiten. Und viele Beschäftigte arbeiten weiterhin ohne den nötigen Sicherheitsabstand und adäquaten Schutz.

Die Namen

Die Fabriken in der Provinz Bergamo blieben praktisch alle bis zum 23. März offen, da war die offizielle Zahl der Infizierten in dem Gebiet auf fast 6500 gestiegen. Eine Woche später gab es trotz des Dekrets immer noch 1800 geöffnete Fabriken und offiziell 8670 Infizierte.

Nennen wir Namen von Betrieben, die nicht schließen wollten. Einer ist Tenaris, weltweit führend in der Herstellung von Röhren und Dienstleistungen für die Produktion von Erdöl und -gas, mit einem Umsatz von 7,3 Mrd. Dollar und Sitz in Luxemburg. Die Fabrik in der Provinz Bergamo hat 1700 Beschäftigte und gehört der Familie Rocca, Gianfelice Rocca ist der achtreichste Mann Italiens.

In der Provinz Bergamo wie in der gesamten Lombardei ist die Hälfte des Gesundheitswesens privat. Die wichtigsten Privatkliniken der Zone mit jeweils einem Jahresumsatz von über 15 Mio. Euro gehören zur Gruppe San-Donato – deren Präsident ist kein geringerer als der ehemalige italienische Vizepremier Angelino Alfano – und zur Gruppe Humanitas. Präsident von Humanitas ist wiederum Gianfelice Rocca.

Das Unternehmen Brembo gehört der mächtigen Familie Bombassei, die auch Mitglieder in der Politik hat. Es beschäftigt 3000 Arbeiter*innen, die Bremsen produzieren. Umsatz: 2,6 Milliarden Euro.

Das Seriana-Tal wurde vor über hundert Jahren größtenteils von Schweizer Firmen industrialisiert. Ein solches Unternehmen ist ABB, mit Schweizer und schwedischem Kapital. Es zählt in Italien 6000 Beschäftigte, über 850 in der Provinz Bergamo. Es ist führend in der Produktion von Robotern und macht einen Umsatz von 2 Mrd. Euro. Der Betrieb lief die ganze Zeit normal weiter.

Jetzt, angesichts von Tausenden Leichen und einer Bevölkerung, die anfängt, ihren Schmerz in Wut zu verwandeln, weist jeder alle Schuld von sich. Der derzeitige Präsident der Lombardei, Attilio Fontana von der Lega, gibt der Regierung in Rom die Schuld und versichert, er habe nicht strikter durchgegriffen, weil man ihn nicht gelassen habe. In Wirklichkeit hätte er können, wenn er nur gewollt hätte – die Präsidenten der Regionen Emilia Romagna, Latium und Kampanien haben diese zu roten Zonen erklärt.

In Wahrheit war keine Behörde auf der Höhe der Aufgaben, mit Ausnahme der Bürgermeister*innen der kleinen Gemeinden – sie waren die einzigen, die den Druck der Industriellen erkannten und öffentlich anprangerten. In Bergamo, das noch unter Schock steht, beginnen die Menschen, sich zu organisieren und Aufklärung darüber zu verlangen, wer verantwortlich dafür ist, dass wirtschaftliche Interessen über Gesundheit und Leben der Arbeitenden gestellt wurden.

Der Text erschien am 10. April 2020 auf Spanisch auf ctxt.es/es/. Übersetzung durch Hans-Günter Mull.

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