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Algerien: Repressive und heuchlerische Regierung

Die algerische Regierung hat am 20. Januar 2022 unter einem fadenscheinigen Vorwand die Aktivitäten des Parti Socialiste des Travailleurs (PST) ausgesetzt und seine Räumlichkeiten schliessen lassen. Eine Schattenregierung in Form des Militärapparats sowie der selbstgerechte Präsident Tebboune versuchten derweil die Parolen der algerischen Bevölkerung, die nach echter Demokratie ruft, zu vereinnahmen. Dazu nutze die Regierung den Gedenktag an die Demonstrationen von 2019 (genannt «Hirak»), um ihre nicht nennenswerten sozialen Massnahmen als Dienst an der algerischen Bevölkerung zu verkaufen. Doch auch nach zwangsmässiger Aussetzung seiner politischen Tätigkeiten lässt sich der PST keinen Maulkorb anlegen, bekräftigt seine Solidarität mit den Opfern politisch motivierter Repression und fordert in Anknüpfung an den Hirak die Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung! (Red.)

von Parti Socialiste des Travailleurs (PST)

Am Vorabend zum 3. Jahrestag des Hirak, dem 22. Februar 2022 [Reihe an Demonstrationen seit dem 16. Februar 2019, die als Widerstand gegen eine fünfte Amtszeit von Abdelaziz Bouteflika begannen und zu einer Bewegung für die Abdankung des Regimes zugunsten einer echten Republik heranwuchsen. Der Hirak kulminierte am 22. Februar 2019, als über 800’000 Protestierende trotz teilweisem Versammlungsverbot in den grossen Städten Stellung bezogen; Anm. d. Red.], hat die Repression wieder an Härte zugenommen. Das Klima des Terrors, das schon vorher geherrscht hatte, wurde noch weiter verstärkt. Eindrückliche Polizeiaufgebote wurden mobilisiert, wie kürzlich am 16. Februar in Kharata in der Wilaya Bejaïa wieder gesehen wurde, und wie mehrere neue gezielte Verhaftungen junger Aktivist:innen sowie politischer und Menschenrechtsaktivist:innen wieder zeigen. Die Verhaftungen reihen sich in die über 300 bisherigen politischen Gefangenen und Gefangenen aus Gewissensgründen ein, die sich seit dem 28. Januar zu mehreren Dutzend im Hungerstreik befinden und die von den De-facto-Machthaber:innen [de facto deswegen, weil Wahlen und Verfassungsänderung nur eine formelle Fassade sind und seit 1962 tatsächlich ranghohe Militärs ein Staat im Staate sind; Anm. d. Red.] und den Massenmedien nicht wahrgenommen werden.

Es gibt keine polizeiliche Lösung für ein politisches Problem!

Weit davon entfernt, die berühmten „Beschwichtigungsmassnahmen“ umzusetzen, die von einigen Schergen der Machthaber:innen versprochen wurden, verrennen sich die De-Facto-Machthaber:innen in die Sackgasse umfassender Repression und schnallen damit den Maulkorb für die demokratischen Freiheiten in unserem Land fast uneingeschränkt eng an. In diesem Kontext sind mehrere politische Parteien der demokratischen Opposition und regimeunabhängige Vereinigungen zunehmend dem Druck und den Schikanen der Polizei und Justiz ausgesetzt.

Dies gilt auch für unseren Parti Socialiste des Travailleurs (PST): Die vorübergehende Aussetzung seiner Aktivitäten und die Schliessung seiner Räumlichkeiten wurde am 22. Januar 2022 verfügt. Diese Verfügung wurde vom Staatsrat erlassen, obwohl wir das Parteiengesetz eingehalten und unseren Kongress am 24. April 2021 und somit noch innerhalb der vom Innenminister gesetzten Frist abgehalten hatten, wie die Protokolle eindeutig belegen, die dem Gerichtsvollzieher zugestellt worden waren. Aber diese Hetze gegen unsere Partei lässt sich sowieso nicht ernsthaft mit einer allfälligen Verzögerung bei der Organisation eines Kongresses erklären, zudem noch während einer verschärften Pandemiephase. Wenn dem wirklich so wäre, wie ist dann zu erklären, dass der letzte Kongress der FLN [die Nationale Befreiungsfront war massgeblich an der Unabhängigkeit Algeriens von Frankreich 1962 beteiligt, führte dann aber Algerien bis 1989 als Einparteienstaat; Anm. d. Red.] 2015 abgehalten wurde, also auf jeden Fall länger zurückliegt als die gesetzlich vorgeschriebene Frist von fünf Jahren, der FLN aber nicht stillgelegt wurde? So viel zum Thema Gesetzeskonformität! Offensichtlich ist die Geschichte mit dem Kongressdatum nichts als ein Vorwand, um unsere Partei zum Schweigen zu bringen und sie für ihre politischen Stellungnahmen und ihr militantes Engagement im Hirak und in den demokratischen, gewerkschaftlichen und sozialen Kämpfen bezahlen zu lassen. 

Doch auch mit der konstanten Zunahme an beispiellosen repressiven Übergriffen werden die Machthaber:innen ihre Defizite und ihre fehlende demokratische Legitimität nicht aus der Welt schaffen können, sondern sich nur noch weiter diskreditieren und unser Land angesichts der herausfordernden Entwicklungsschwierigkeiten und der äusseren Bedrohungen weiter schwächen.

Es gibt keine wirtschaftsliberale Lösung für unser Entwicklungsproblem!

Angesichts der Tatsache, dass ein gewisser finanzieller Wohlstand unerwartet zurückgekehrt und der Ölpreis auf über 93 Dollar pro Barrel angestiegen ist, erweisen sich die von Tebboune angekündigten „sozialen“ Massnahmen – insbesondere die Aussetzung einiger Steuern, die er im Rahmen des Haushaltsgesetz von 2022 selbst erlassen hatte, sowie die Einführung einer Arbeitslosenunterstützung, die von der Arbeitslosenbewegung und der Plattform von El-Kseur seit mittlerweile mehr als 20 Jahren gefordert worden waren – als lächerlich und unzureichend. Derartige Massnahmen können weder die soziale Katastrophe verstecken noch den wirtschaftlichen Zusammenbruch unseres Landes abmildern. Sie werden auch den Leidensdruck unserer Jugend nicht kaschieren können, die von der Verzweiflung über eine ungewisse Zukunft und der Not einer bitteren Gegenwart getrieben zwischen Harga und Hogra [aus dem algerischen Arabisch, in etwa: zwischen illegaler Emmigration übers Mittelmeer und der Unerbittlichkeit der unterdrückerischen Mächtigen; Anm. D. Red .] zerrieben wird. Diese katastrophale Situation ist die Bilanz mehrerer Jahrzehnte liberaler Wirtschaftspolitik, die das Regime hartnäckig fortsetzt, um seinen Fortbestand zu sichern. Diese katastrophale Situation, das sind auch die sogenannten „Massnähmchen“, die am Vorabend zum Gedenken an den 22. Februar verkündet wurden, um eine soziale Explosion zu entschärfen, die sich im ganzen Land breit macht. Es geht vor allem darum, die mögliche Verbindung einer solchen sozialen Explosion mit einer neuen Mobilisierungswelle des Hirak um jeden Preis zu vermeiden. Denn wenn die Zentralität der sozialen Frage wieder in den Vordergrund der morgigen Hirak-Mobilisierungen der Arbeiter:innen und Bevölkerung rückt, wird das gesamte liberale Wirtschaftsprojekt in Frage gestellt, das den algerischen Staat in den Dienst einer Kleinstminderheit von Oligarch:innen, einiger weniger Privatunternehmer:innen und multinationaler Konzerne, stellt. Warum sonst sollten nur Steuern eingefroren werden, während die Bestimmungen zur Streichung von staatlichen Zuschüssen und Sozialleistungen beibehalten werden? Beides übrigens von ein und demselben Entscheidungsträger vor einigen Wochen unterzeichnet! Warum sonst sollte man die Entscheidung über eine Arbeitslosenunterstützung gerade jetzt ankündigen, wo sie doch bereits (heimlich?) mit dem Haushaltsgesetz vom November 2021 budgetiert und danach mit einer journalistischen Sperrfrist belegt wurde? 

Weit mehr als solche „Massnähmchen“, die nur aus der Sichtweise der Staatsspitze als Sozialpolitik angesehen werden können, hätte Algerien ein wirkliches wirtschaftliches und soziales Projekt und eine tatsächliche Entwicklungsstrategie nötig, die dem legitimen Streben der Mehrheit der Algerier:innen nach der Befriedigung ihrer gesellschaftlichen Bedürfnisse entsprechen.

Weit mehr als die Aussetzung einiger Steuern hätten die Lohnabhängigen und die breiten Massen eine konsequente Erhöhung ihrer Löhne und Renten nötig, die mindestens eine Verdoppelung des Mindestlohns beinhalten sollten, damit auch die Kaufkraft auf ein angemessenes Niveau erhöht wird.

Weit mehr als diese unzureichende und begrenzte Arbeitslosenunterstützung hätte unsere Jugend, die heute die Gefängnisse füllt oder auf dem grossen Friedhof liegt, zu dem das Mittelmeer geworden ist, eine stabile, dauerhafte und nicht prekäre Beschäftigung mit einem echten Gehalt nötig, das ihre Würde garantiert. Sie hätte es nötig, ein Studium oder eine Ausbildung machen zu können, die kostenlos, für alle zugänglich und qualitativ hochwertig sind, sowie eine Gesundheitsversorgung zu geniessen, die ebenfalls kostenlos und qualitativ hochwertig ist. Sie hätte Wohnraum nötig, der für alle erschwinglich ist, und Freizeitangebote, die es ihr ermöglichen, sich in einem Land zu entfalten, das ihr eine bessere Zukunft bietet.

Es geht um den radikalen und friedlichen Systemwechsel, wie ihn Millionen von Algerier:innen während der grossen Hirak-Mobilisierungen gefordert haben, und der die Umsetzung einer demokratischen und sozialen Alternative ermöglicht, die den Interessen der Mehrheit unserer Bevölkerung dient, d. h. den Lohnabhängigen, Jugendlichen, Frauen und allen Unterdrückten und Benachteiligten; nicht bloss einer Handvoll Oligarch:innen, Privatunternehmer:innen und multinationalen Konzernen, die unseren Nationalstaat und unsere Reichtümer plündern und privatisieren. Es geht um die Wiedererlangung der vollen und umfassenden Volkssouveränität über die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entscheidungen unseres Landes.

Nur die Wahl einer souveränen verfassungsgebenden Versammlung kann die Volkssouveränität garantieren! 

Anlässlich des Gedenkens an den dritten Jahrestag des Hirak der algerischen Bevölkerung, der im Februar 2019 begonnen hat, wiederholt der PST seinen Aufruf zur Verwirklichung einer politischen, demokratischen und friedlichen Lösung, die die Wiedererlangung der vollen Souveränität durch die algerische Bevölkerung garantiert. Diese Lösung erfordert die Einführung einer demokratischen Übergangsperiode, in deren Rahmen eine nationale Debatte vor dem Volk organisiert wird, um alle politischen Meinungen und Programme gleichberechtigt zum Ausdruck kommen zu lassen. Ein solcher verfassungsgebender, demokratischer und volksnaher Prozess muss letztendlich zur Wahl einer Verfassungsgebenden Versammlung führen, die souverän ist und die demokratischen und sozialen Ambitionen der Mehrheit unserer Bevölkerung vertritt. Besagte Versammlung, deren Aufgabe es sein wird, eine neue Verfassung auszuarbeiten, um sie der Bevölkerung zur Abstimmung vorzulegen, soll das Land in der Zwischenzeit regieren. Aber zuvor müssen dringende politische Massnahmen von den De-facto-Machthaber:innen, die das Land heute regieren, ergriffen werden. Dazu gehören:

  1. Die Beendigung der Repression und die Rücknahme freiheitsfeindlicher Massnahmen und Bestimmungen!
  2. Die Freilassung und Rehabilitierung aller politischen Gefangenen und Gefangenen aus Gewissensgründen!
  3. Die Aufhebung aller Hindernisse für die effektive Ausübung aller demokratischen und gewerkschaftlichen Freiheiten, insbesondere der Meinungs-, Demonstrations-, Organisations- und Streikfreiheit sowie aller anderen demokratischen Rechte und Freiheiten, und die Öffnung der Medien für alle politischen Strömungen und Meinungen sowie für alle Bürger:innen unseres Landes.
  • Der PST bekräftigt bei dieser Gelegenheit auch seine Solidarität mit den politischen Gefangenen und ihren Familien. Er bringt seine unerschütterliche Unterstützung für die hungerstreikenden Gefangenen zum Ausdruck und hofft, dass sie eine Pause von ihrem Streik in Betracht ziehen, um sich zu schonen und unseren gemeinsamen Kampf besser wieder in Angriff nehmen zu können. 
  • Der PST bekräftigt seine Solidarität mit all jenen, die für Freiheiten und soziale Gerechtigkeit kämpfen, und ruft zur Bündelung der demokratischen und sozialen Kämpfe auf.
  • Der PST bekräftigt seine Solidarität mit all jenen, die weltweit gegen die imperialistische Herrschaft kämpfen, und bejaht seine unerschütterliche Unterstützung für das palästinensische und das saharauische Volk [berberische Ethnie, die im Süden des marokkanischen Hoheitsgebiets ein Dasein ohne Selbstregierung führt; Anm. D. Red.] in ihrem Kampf gegen den Kolonialismus und für ihre Emanzipation, Souveränität und ihre nationalen Rechte.
  • Der PST dankt allen Organisationen und Persönlichkeiten, die in Algerien, im Maghreb und in den verschiedenen Regionen der Welt weiterhin ihre Solidarität mit ihm gegen seine Suspendierung und die Schliessung seiner Räumlichkeiten zum Ausdruck bringen.  

Der Kampf geht weiter!

Das nationale Sekretariat der PST. Algier, den 20. Februar 2022. 


Übersetzung durch die Redaktion.

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