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Ein Brief aus Kiew an die westliche Linke

Ein Grossteil der westlichen Linken verfalle bei der Beurteilung des Ukraine-Konflikts einem «Anti-Imperialismus der Idiot:innen». Die westliche Linke habe sich jahrelang nur einseitig auf die imperialistischen Kriegszüge des Superhegemonen USA konzentriert und dabei alle anderen vernachlässigt oder ihre Handlungen als Gegner der USA sogar wohlwollend rechtfertigt. Dies kritisiert Taras Bilous, ein ukrainischer Sozialist, dessen Brief wir an dieser Stelle in der deutschen Übersetzung veröffentlichen. (Red.)

von Taras Bilous; aus opendemocracy.net

Ich schreibe diese Zeilen in Kiew, während die Stadt unter Artilleriebeschuss steht. Bis zur letzten Minute hatte ich gehofft, dass die russischen Truppen keine vollumfängliche Invasion eröffnen würden. Jetzt kann ich nur noch denjenigen danken, die die Informationen an die US-Geheimdienste durchsickern liessen.

Gestern habe ich den halben Tag damit verbracht, zu überlegen, ob ich mich einer Territorialverteidigungseinheit anschliessen soll. In der darauffolgenden Nacht unterzeichnete der ukrainische Präsident Wolodymyr Zelenskyj den Befehl zur vollständigen Mobilisierung, und die russischen Truppen rückten vor und machten sich bereit, um Kiew einzukesseln, was mir die Entscheidung abnahm.

Doch bevor ich meinen Posten antrete, möchte ich der westlichen Linken mitteilen, was ich von ihrer Reaktion auf die russische Aggression gegen die Ukraine halte.

Zuerst einmal bin ich jenen Linken dankbar, die jetzt Protestaktionen vor russischen Botschaften abhalten – sogar jenen, die einige Zeit brauchten, um zu erkennen, dass Russland der Aggressor in diesem Konflikt ist.

Ich bin den Politiker:innen dankbar, die es befürworten, dass Druck auf Russland ausgeübt wird, um die Invasion zu stoppen und seine Truppen abzuziehen.

Und ich bin dankbar für die Delegation britischer und walisischer Abgeordneter, Gewerkschafter:innen und Aktivist:innen, die gekommen waren, um uns in den Tagen vor der russischen Invasion zu unterstützen und anzuhören.

Ich danke auch der Ukraine Solidarity Campaign im Vereinigten Königreich für ihre jahrelange Hilfe.

In diesem Artikel wird es aber um den anderen Teil der westlichen Linken gehen. Diejenigen, die sich die „NATO-Aggression in der Ukraine“ vorstellen konnten und die russische Aggression nicht sehen konnten – wie die Ortsgruppe New Orleans der Democratic Socialists of America (DSA).

Oder das Internationale Komitee der DSA, das eine beschämende Erklärung veröffentlichte, in der kein einziges kritisches Wort gegen Russland fiel (ich bin dem US-amerikanischen Professor und Aktivisten Dan la Botz und anderen sehr dankbar für ihre Kritik an dieser Erklärung).

Oder diejenigen, die die Ukraine dafür kritisierten, dass sie die Minsker Vereinbarungen nicht umsetzte, aber Schweigen bewahrten, wenn Russland und die so genannten „Volksrepubliken“ dagegen verstiessen.

Oder diejenigen, die den Einfluss der extremen Rechten in der Ukraine überbewerteten, aber die extreme Rechte in den „Volksrepubliken“ nicht erkannten und die Kritik an Putins konservativer, nationalistischer und autoritärer Politik vermieden. Sie tragen einen Teil der Verantwortung für das, was hier geschieht.

Dies ist Teil eines umfassenderen Phänomens in der westlichen „Anti-Kriegs“-Bewegung, das von linken Kritiker:innen gewöhnlich als „Campismus“ bezeichnet wird. Die britisch-syrische Autorin und Aktivistin Leila Al-Shami fand dafür stärkere Worte: den „Anti-Imperialismus der Idiot:innen„. Lest ihren wunderbaren Essay von 2018, falls ihr das noch nicht habt. Ich werde hier nur die Hauptthese wiederholen: Die Aktivitäten eines grossen Teils der westlichen „Anti-Kriegs“-Linken im Zusammenhang mit dem Krieg in Syrien hatten nichts mit der Beendigung des Krieges zu tun. Sie wandten sich lediglich gegen die Einmischung des Westens, während sie das Engagement Russlands und des Irans ignorierten oder sogar unterstützten, ganz zu schweigen von deren Haltung gegenüber dem „rechtmässig gewählten“ Assad-Regime in Syrien.

Eine Reihe von Anti-Kriegs-Organisationen haben ihr Schweigen zu den russischen und iranischen Interventionen mit dem Argument gerechtfertigt, dass „der Hauptfeind zu Hause sitzt“, schrieb Al-Shami. „Das entbindet sie davon, eine ernsthafte Machtanalyse vorzunehmen, mit der festgestellt werden könnte, wer die Hauptakteure des Krieges tatsächlich sind.“

Ein ukrainischer Soldat zeigt auf ein Gebäude im Osten des Landes, das durch russischen Granatbeschuss beschädigt worden ist. | Jakub Podkowiak/PRESSCOV/Sipa USA

Leider haben wir erlebt, wie sich dasselbe ideologische Klischee in Bezug auf die Ukraine wiederholt hat. Selbst nachdem Russland Anfang dieser Woche die Unabhängigkeit der sogenannten „Volksrepubliken“ anerkannt hatte, verfasste Branko Marcetic, ein Autor der US-amerikanischen linken Zeitschrift Jacobin, einen Artikel, der fast ausschliesslich Kritik an den USA äusserte. In Bezug auf Putins Handeln bemerkte er lediglich, dass der russische Führer „nicht gerade gutartige Ambitionen“ geäussert habe. Ernsthaft?

Ich bin kein Fan der NATO. Ich weiss, dass der Bündnisblock seit dem Ende des Kalten Krieges seine defensive Funktion verloren hat und eine aggressive Politik betrieb. Ich weiss, dass die Osterweiterung der NATO die Bemühungen um nukleare Abrüstung und die Schaffung eines gemeinsamen Sicherheitssystems untergraben hat. Die NATO versuchte, die Rolle der UNO und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa zu marginalisieren und sie als „ineffiziente Organisationen“ zu diskreditieren. Aber wir können die Vergangenheit nicht zurückholen, und wir müssen uns bei der Suche nach einem Ausweg aus dieser Situation an den aktuellen Umständen orientieren.

Wie oft hat die westliche Linke die informellen Versprechen der USA gegenüber dem ehemaligen russischen Präsidenten Michail Gorbatschow in Bezug auf die NATO zitiert („nicht einen Zentimeter nach Osten„), und wie oft hat sie das Budapester Memorandum von 1994 erwähnt, das die Souveränität der Ukraine garantiert? Wie oft hat die westliche Linke die „legitimen Sicherheitsbedenken“ Russlands unterstützt, eines Staates, der das zweitgrösste Atomwaffenarsenal der Welt besitzt? Und wie oft hat sie sich an die Sicherheitsbedenken der Ukraine erinnert, eines Staates, der unter dem Druck der USA und Russlands seine Atomwaffen gegen ein Stück Papier (das Budapester Memorandum) eintauschen musste, das Putin 2014 endgültig mit Füssen trat? Ist es den linken Kritiker:innen der NATO jemals in den Sinn gekommen, dass die Ukraine das Hauptopfer der Veränderungen ist, die die NATO-Erweiterung mit sich gebracht hat?

Immer wieder antwortet die westliche Linke auf die Kritik an Russland mit dem Verweis auf die US-Aggressionen gegen Afghanistan, Irak und andere Staaten. Natürlich müssen diese Staaten in die Diskussion einbezogen werden – aber wie genau?

Das Argument der Linken sollte sein, dass 2003 andere Regierungen wegen des Iraks nicht genug Druck auf die USA ausgeübt haben. Nicht, dass es jetzt notwendig sei, weniger Druck auf Russland wegen der Ukraine auszuüben.

Ein offensichtlicher Fehler

Stellen Sie sich einmal vor, Russland hätte sich 2003, als die USA die Invasion des Irak vorbereiteten, so verhalten, wie es die USA in den letzten Wochen getan haben: mit Eskalationsdrohungen.

Stellen Sie sich nun vor, was die russische Linke in dieser Situation getan hätte, gemäss dem Dogma „unser Hauptfeind sitzt im eigenen Land“. Hätte sie die russische Regierung für diese „Eskalation“ kritisiert und gesagt, dass sie „die zwischenimperialistischen Widersprüche nicht verwässern darf“? Es ist für jeden offensichtlich, dass in diesem Fall ein solches Verhalten ein Fehler gewesen wäre. Warum war dies nicht auch im Falle der Aggression gegen die Ukraine offensichtlich?

In einem weiteren Jacobin-Artikel vom vergangenen Monat ging Marcetic so weit, zu sagen, dass Tucker Carlson von Fox News in Bezug auf die „ukrainische Krise“ „völlig Recht“ habe. Was Carlson getan hatte, war, „den strategischen Wert der Ukraine für die USA“ in Frage zu stellen. Sogar Tariq Ali zitierte in der New Left Review zustimmend das Kalkül des deutschen Admirals Kay-Achim Schönbach, der sagte, dass es „wenig bis gar nichts koste„, Putin bezüglich der Ukraine „Respekt zu zollen“, da Russland ein nützlicher Verbündeter gegen China sein könnte. Ist das wirklich Ihr Ernst? Wenn die USA und Russland sich einigen und als Alliierte einen neuen Kalten Krieg gegen China beginnen könnten, wäre das dann wirklich das, was wir wollen?

Die UNO reformieren

Ich bin kein Fan des liberalen Internationalismus. Sozialist:innen sollten ihn kritisieren. Aber das bedeutet nicht, dass wir die Aufteilung der „Interessensphären“ zwischen den imperialistischen Staaten unterstützen müssen. Anstatt nach einem neuen Gleichgewicht zwischen den beiden Imperialismen zu suchen, muss sich die Linke für eine Demokratisierung der internationalen Sicherheitsordnung einsetzen. Wir brauchen eine globale Politik und ein globales System der internationalen Sicherheit. Letzteres haben wir: Es ist die UNO. Ja, sie hat viele Schwachstellen, und sie wird oft zu Recht kritisiert. Aber man kann Kritik entweder üben, um etwas abzulehnen oder um es zu verbessern. Im Falle der UNO brauchen wir Letzteres. Wir brauchen eine linke Vision der Reform und Demokratisierung der UNO.

Das bedeutet natürlich nicht, dass die Linke alle Entscheidungen der UNO unterstützen sollte. Aber eine allgemeine Stärkung der Rolle der UNO bei der Lösung von bewaffneten Konflikten würde es der Linken ermöglichen, die Bedeutung militärisch-politischer Bündnisse zu minimieren und die Zahl der Opfer zu verringern. (In einem früheren Artikel habe ich geschrieben, wie UN-Friedenstruppen dabei hätten helfen können, den Donbass-Konflikst zu lösen. Leider hat dies nun an Relevanz verloren.) Schliesslich brauchen wir die UNO auch, um die Klimakrise und andere globale Probleme zu lösen. Das Zögern vieler internationaler Linker, sich an sie zu wenden, ist ein schrecklicher Fehler.

Nach dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine schrieb der Europa-Redakteur von Jacobin, David Broder, dass sich die Linke „nicht dafür entschuldigen sollte, dass sie gegen eine militärische Antwort der USA ist“. Das war ohnehin nicht Bidens Absicht, wie er mehrmals sagte. Aber ein grosser Teil der westlichen Linken sollte ehrlich zugeben, dass sie bei der Formulierung ihrer Reaktion auf die „Ukraine-Krise“ völlig verkackt haben.

Meine Perspektive

Ich möchte damit abschliessen, dass ich kurz über mich und meine Perspektive schreibe.

In den vergangenen acht Jahren war der Krieg im Donbass das Hauptthema, das die ukrainische Linke gespalten hat. Jeder von uns hat seine Position unter dem Einfluss von persönlichen Erfahrungen und anderen Aspekten gefunden. So hätte ein anderer ukrainischer Linker diesen Artikel anders geschrieben. Ich wurde im Donbass geboren, aber in einer ukrainischsprachigen und nationalistischen Familie. Mein Vater begann sich in den 1990er Jahren in der extremen Rechten zu engagieren, als er den wirtschaftlichen Niedergang der Ukraine und die Bereicherung der ehemaligen kommunistischen Parteiführung beobachtete, die er seit Mitte der 1980er bekämpft hatte. Natürlich hat er sehr antirussische, aber auch antiamerikanische Ansichten. Ich erinnere mich noch an seine Worte am 11. September 2001. Als er den Einsturz der Twin Towers im Fernsehen sah, sagte er, dass die Verantwortlichen „Helden“ seien (heute glaubt er das nicht mehr – er glaubt, dass die US-Amerikaner:innen sie absichtlich in die Luft gesprengt hätten).

Ukrainische Flüchtlinge verbringen ihre erste Nacht in Polen in einem Bahnhof in Przemysl, 24. Februar. | Attila Husejnow/SOPA Images via ZUMA Press Wire

Als der Krieg im Donbass 2014 begann, schloss sich mein Vater als Freiwilliger dem rechtsextremen Aidar-Bataillon an, meine Mutter floh aus Luhansk, und mein Grossvater und meine Grossmutter blieben in ihrem Dorf, das unter die Kontrolle der „Volksrepublik Luhansk“ fiel. Mein Grossvater verurteilte die Euromaidan-Revolution in der Ukraine. Er unterstützt Putin, der, wie er sagt, „die Ordnung in Russland wiederhergestellt“ hat. Trotzdem versuchen wir alle, weiterhin miteinander zu reden (wenn auch nicht über Politik) und uns gegenseitig zu helfen. Ich versuche, ihnen gegenüber verständnisvoll zu sein. Schliesslich haben mein Grossvater und meine Grossmutter ihr ganzes Leben lang in einer Kolchose gearbeitet. Mein Vater war ein Bauarbeiter. Sie haben es nicht leicht gehabt im Leben.

Die Ereignisse des Jahres 2014 – eine Revolution gefolgt von einem Krieg – haben mich in die entgegengesetzte Richtung zu den meisten Menschen in der Ukraine getrieben. Der Krieg hat den Nationalismus in mir ausgelöscht und mich nach links getrieben. Ich möchte für eine bessere Zukunft für die Menschheit kämpfen, nicht für die Nation. Meine Eltern mit ihrem postsowjetischen Trauma verstehen meine sozialistischen Ansichten nicht. Mein Vater äussert sich herablassend über meinen „Pazifismus“, und wir hatten eine unangenehme Unterhaltung, nachdem ich bei einer antifaschistischen Demonstration mit einem Protestschild aufgetaucht war, das die Auflösung des rechtsextremen Asow-Regiments forderte.

Als Wolodymyr Zelenskyj im Frühjahr 2019 Präsident der Ukraine wurde, hoffte ich, dass dies die Katastrophe, die sich jetzt abspielt, verhindern könnte. Schliesslich ist es schwierig, einen russischsprachigen Präsidenten zu verteufeln, der mit einem Friedensprogramm für den Donbas gewonnen hat und dessen Witze sowohl bei Ukrainer:innen als auch bei Russ:innen beliebt waren. Leider habe ich mich geirrt. Zelenskyjs Sieg hat zwar die Haltung vieler Russ:innen gegenüber der Ukraine verändert, aber den Krieg nicht verhindert.

In den letzten Jahren habe ich über den Friedensprozess und über zivile Opfer auf beiden Seiten des Donbass-Krieges geschrieben. Ich habe versucht, den Dialog zu fördern. Aber das hat sich jetzt alles in Rauch aufgelöst. Es wird keinen Kompromiss mehr geben. Putin kann planen, was er will, aber selbst wenn Russland Kiew einnimmt und eine Besatzungsregierung einsetzt, werden wir Widerstand leisten. Der Kampf wird so lange andauern, bis Russland aus der Ukraine verschwindet und für alle Opfer und Zerstörungen bezahlt.

Meine letzten Worte richten sich daher an die russische Bevölkerung: Beeilt euch und stürzt das Putin-Regime. Es ist sowohl in eurem als auch in unserem Interesse.

Übersetzung durch die Redaktion.

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