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Russland: Der Antikriegsaktivismus nach dem Repressionssonntag

Nach der brutalen Knüppelrepression, welche die russische Regierung am Sonntag, 6. März 2022, gegen die landesweiten Antikriegs-Demonstrationen folgen liess, stellt sich die Frage, welche Schlüsse Aktivist:innen vor Ort aus der Situation ziehen. Denn dass staatliche Repression auch in den Tagen nach dem 6. März keinen Abriss genommen hat, verdeutlicht die jüngste Festnahme des Aktivisten Aleksey Dmitriev. Vladislav Siiutkin, Aktivist der Russländischen Sozialistischen Bewegung in Russland, gibt in einem Interview mit der Bewegung für den Sozialismus eine Einschätzung der gegenwärtigen Ausgangslange.

Interview mit Vladislav Siiutkin (RSD) von João Woyzeck (BFS Zürich)

Das Regime um Wladimir Putin verschärft die Repression

Am 4. März reagierte das Regime um Wladimir Putin auf die wachsende Unzufriedenheit der russischen Zivilbevölkerung gegen die Invasion der Ukraine, indem es die Repression gegen die Kriegsgegner:innen verschärfte und legalisierte. Im Eiltempo winkten beide Kammern der Duma ein Gesetz durch, das kritische Berichterstattung über den Krieg gegen die Ukraine, welche die Regierung als Falschnachrichten einstuft, mit bis zu 3 Jahren Haft und umgerechnet bis zu 2’500 Franken ahndet. Wenn kritische Berichterstattungen schwerwiegende Folgen bewirken, kann sogar eine Höchststrafe von bis zu 15 Jahren verhängt werden.

Die legale Ausdehnung des repressiven Handlungsspielraums für das Regime um Putin, dieser massive Einschnitt in die Versammlungsfreiheit, reiht sich nahtlos in die Einschränkung der Pressefreiheit ein. Bereits in der ersten Woche nach dem Kriegsbeginn am 24. Februar liess der föderale Dienst für Medienaufsicht Roskomandsor auf Geheiss der Generalstaatsanwaltschaft die Internetseiten des Radiosenders Echo Moskwy und des Frensehsenders Doschd schliessen, da sich die Sender geweigert hatten, die staatliche Propaganda über den Krieg mitzutragen. Durch solche Sabotage- und Einschüchterungsakte wurden beide Sender schliesslich zur Schliessung gezwungen. Wichtige internationale soziale Netzwerke wurden gesperrt und sind nur noch über VPN, und damit effektiv nicht mehr jede:r Bürger:in zugänglich.

Die Verschärfung der staatlichen Repression führte am Sonntag, 6. März 2022, zu landesweiten Demonstrationen. In 69 russischen Städten zogen russische Bürger:innen gegen den Krieg auf die Strasse. Die Regierung reagierte hierauf unerbittlich. OVD-Info zufolge wurden allein an jenem Sonntag 5’045 Demonstrant:innen festgenommen! Nach Angaben der Organisation OVD-Info, die sich der Überwachung von politischen Festnahmen und Strafverfolgungen widmet, zählte jener Repressionssonntag somit 13’502 inhaftierte Antikriegs-Demonstrant:innen seit Kriegsbeginn.

Unterdessen geht die staatliche Repression munter weiter. Am 9. März durchsuchte die Polizei die Wohnung von Aleksey Dmitriev, Aktivist der russischen Gruppe Marxistische Union, und nahm ihn anschliessend fest. Gründe wurden von offizieller Seite keine genannt. Möglicherweise aufgrund seiner Antikriegstexte. Während der Durchsuchung wurde Aleksey von der Polizei heftig geschlagen, bevor sie ihn unter dem Vorwand ungebührlichen Verhaltens anklagte und über Nacht auf der Polizeiwache in Chimki (Vorstadt Moskaus) behielt. Im Schnelldurchlauf wurde am 10. März eine Verhandlung einberaumt. Die Verhandlung musste aufgeschoben werden, als sich der gesundheitliche Zustand Alexeys verschlechterte. Denn zum Zeitpunkt der Festnahme erlitt Alexey mehrere Anfälle posttraumatischer Enzephalopathie und verlor schliesslich das Bewusstsein. Es wurden zwar Sanitäter:innen zu ihm durchgelassen, diese gingen allerdings wieder, ohne ihm zu helfen. Dass Alexey später wiederbelebt werden musste, zeigt jedoch wie ernst die Situation war. Als die Verhandlung am 10. März fortgesetzt und Alexey aufgrund sogenannt unflätigen Verhaltens zu 15 Tagen Haft verurteilt wurde, befand er sich in einem halbbewussten Zustand. In ihm nahestehenden Kreisen besteht aber die Sorge, dass Alexey nach seiner Freilassung unter Artikel 19 Absatz 3 des Kodex der russischen Föderation über Verwaltungsverletzungen, d.h. wegen vermeintlichem Ungehorsam gegen eine rechtmässige Anordnung einer:s Polizeibeamt:in, erneut inhaftiert werden könnte.

Aus Mitteilungen in den Netzwerken der russischen Sektion der Sozialistischen Alternative geht hervor, dass am 12. März Polizist:innen durch Studentenwohnheime der Staatlichen Technischen Universität Moskau streiften und die Studierenden aufforderten, für jedes Zimmer eine Resolution über das Unterlassen unerlaubter Handlungen zu unterschreiben. Besagte Resolution beinhaltete unter anderem das Verbot öffentlicher Erklärungen und Proteste gegen den Krieg gegen die Ukraine (280.3 des russischen Strafgesetzbuches). Tatsächlich hätten solche Dokumente keine Rechtsgültigkeit. Es handelt sich um eine Methode der gewalttätigen Einschüchterung, die sich hinter Pseudorechtskräftigkeit verbirgt.

Der Mut, den die russische Zivilbevölkerung aufbrachte und weiterhin aufbringt, ist beeindruckend. Andererseits darf nicht ausser Acht gelassen werden, dass die legalisierte Repression durch den Staat und die niederschwelligen undurchsichtigen Verfahrensweisen der lokalen Polizei und Behörden darauf abzielen, wirkungsvoll einzuschüchtern und mundtot zu machen.

Unter den Kriegsgegner:innen befindet sich auch die Russländische Sozialistische Bewegung (RSD). Sie steht für Revolution – Sozialismus – Demokratie ein und unterstützt dabei Arbeiter:innenkämpfe aller Form und legt besonderen Wert auf Selbstorganisation in der Bevölkerung.

Nun drängt sich die Frage auf, wie es nach dem 6. März weitergehen soll. Der Zeitpunkt ist zwar noch denkbar früh, dennoch ist es interessant, bewegungsnahen Aktivist:innen vor Ort auf den Zahn zu fühlen. Das Interview mit dem RSD-Aktivisten Valdislav Siiutkin gibt uns einen Einblick in die frischen Eindrücke und Gedanken der progressiven linken Kräfte in Russland.

Interview mit Valdislav Siiutkin (RSD)

In Russland äussern sich zurzeit diverse Kriegsgegner:innen. Wie sieht diese Bewegung aus und aus welchen Gruppierungen setzt sie sich zusammen?

Es gibt unzählige Möglichkeiten, um gegen die von der Regierung so bezeichnete «militärische Sonderoperation» zu protestieren. Die beliebtesten sind Petitionen, Versammlungen und persönliche Erklärungen. In den vergangenen Wochen wurden Petitionen von Hunderten und Tausenden von Lehrer:innen, Akademiker:innen, Produzent:innen, Musiker:innen und sogar Priestern der offiziellen orthodoxen Kirche unterzeichnet. Das ehemalige Team des mittlerweile inhaftierten Nawalny, sowie er selbst, aber auch unsere Genoss:innen von der Sozialistischen Alternative haben zu Versammlungen aufgerufen. Wie aus den Berichten von OVD-Info – einer Organisation, die politischen Gefangenen hilft[1] – hervorgeht, sind es dabei vor allem junge Erwachsene, die an solchen Treffen teilnehmen. Sie werden verhaftet und könnten dafür von den Universitäten verwiesen werden, wie es gerade in Sankt Petersburg geschieht. Der Regierung scheinen widerständige Student:innen zurzeit tatsächlich ein besonderes Anliegen zu sein – ich selbst wurde zum Leiter der Jugendabteilung meiner Universität beordert, weil ich eine Umfrage über die Haltung der Tjumener[2] Student:innen zur „Militäroperation“ veröffentlicht hatte. Und schliesslich gibt es persönliche Erklärungen von fast jeder:m, die:der Zugang zu den sozialen Medien hat: Wir wissen, dass selbst Oleg Deripaska[3], Putins Freund und Oligarch, dazu aufgerufen hat, den Krieg zu stoppen. Die gleichen Aufrufe sehen wir auch von berühmten Künstler:innen und Sportler:innen sowie von normalen Bürger:innn jeden Alters. Zusammenfassend würde ich sagen, dass die Bewegung breit gestreut ist, die aktivsten Teilnehmer:innen aber junge Erwachsene sind.

Welche strategischen Schlussfolgerungen können aus dem 6. März gezogen werden?

Schon vor den Protestaktionen wurde allgemein erwartet, dass es zu schweren Repressionen kommen würde. Deshalb riefen einige oppositionelle Organisationen auch dazu auf, sich in Gruppen weit weg vom Stadtzentrum zu versammeln, um zumindest eine sofortige Verhaftung vor Ort zu verhindern. Ich denke, dass diese Tendenz zur Dezentralisierung zunehmen wird und es auch sollte.

Die russländische sozialistische Bewegung arbeitet gerade daran, ihre Strategie zu überdenken und von öffentlichen Versammlungen zur Selbstorganisation am Arbeits- und Studienplatz überzugehen, was schliesslich zu Streiks und zur Umverteilung der Macht führen könnte. Da die Wirtschaftskrise durch den Krieg zu Arbeitslosigkeit führen wird und die Repressionspolitik die Student:innen in Gefahr bringt, in die Armee eingezogen zu werden, werden wir intensiver als je zuvor mit den Arbeiter:innen und Student:innen zusammenarbeiten.

Welche Perspektive siehst du in den gegenwärtigen Ressentiments gegen die Kriegspläne der Regierung? Zu was könnte das noch führen?

Einige meinen, dass Russland zu einem faschistischen Staat werden könnte, andere erwarten hingegen das baldige Ende des Regimes und eine anschliessende Demokratisierung. Ich persönlich neige eher zur zweiten Option. Natürlich wird es eine schwere Auseinandersetzung geben, eine blutige Reaktion des Regimes, das sich seines Endes bewusst wird – es gibt sie ja bereits. Aber das wird bald enden, da das Regime durch die Inhaftierung der Aktivist:innen, insbesondere der Antikriegsaktivist:innen, den letzten Rest seiner Legitimation verlieren wird. Ich sehe nämlich, was mit der Generation meiner Eltern passiert, die dem Regime gegenüber extrem loyal waren, ja seine wirtschaftliche und politische Basis stellten. Doch der Gesellschaftsvertrag, den sie im Jahr 2000 mit dem Staat eingegangen waren, indem sie im Gegenzug für wirtschaftliches Wachstum ihre Treue unterwarfen, endete 2014 nach der russischen Invasion auf die Krim. Jetzt sehen sie, wie ihre Kinder verhaftet und zur Armee einberufen werden, weil sie gegen den Krieg protestieren. Ich sehe keinen Grund mehr, warum die Menschen weiter treu bleiben sollten, und ich sehe keine Macht im Regime, um für sich Loyalität zu erkaufen oder sie zu erzwingen.

Solidarität mit der russischen Zivilbevölkerung und Aleksey Dimitriev!

Die Bewegung für den Sozialismus und alle, die hierzulande die Nachrichten aufmerksam verfolgen, sind zu tiefst beeindruckt vom zivilen Ungehorsam der russischen Zivilbevölkerung, die sich weder davon zurückschrecken lässt, dass härtere Repressionen gegen regierungskritische Ansichten legalisiert wurden, noch davon, dass das Regime die Medien ein Stück weit gleichschalten konnte. Ganz im Gegenteil möchten Teile der russischen Zivilbevölkerung die wenigen demokratischen Freiheiten nicht kampflos hergeben.

In tiefster Verbundenheit drückt die Bewegung für den Sozialismus ihre Solidarität mit dem zivilen Widerstand gegen die Geiselhaft aus, in welche die Regierung um Putin die Bevölkerung nimmt, und wünscht der russischen Bevölkerung in ideeller Gemeinschaft mit der RSD baldige demokratische Selbstbestimmung!

Unsere Solidarität gilt in diesem Moment auch ganz besonders dem Aktivisten Alexey Dmitriev. Sein Fall verdeutlicht die prekäre Lage, in welcher sich russische Aktvist:innen gegen den Aggressionskrieg gegen die Ukraine begeben. Er verdeutlicht aber auch die Leidenschaft der russischen Zivilbevölkerung für eine demokratische Selbstbestimmung! Die Schweiz und Westeuropa dürfen nicht wegschauen und schweigen, wenn Menschen für Rechte kämpfen, die hier selbstverständlich scheinen: Versammlungsfreiheit – Pressefreiheit – Rechtssicherheit!


[1] OVD-Info wurde 2011 von Freiwilligen ins Leben gerufen, um Verhaftungen bei Massenprotesten schnell zu überwachen. Es hat sich seitdem aber zu einer umfassenden analytischen Organisation entwickelt, die sich mit Fragen der Strafverfolgung in Russland befasst.

[2] Tjumen ist eine russische Stadt in Westsibirien.

[3] Gründer und Besitzer des Mischkonzerns Basic Element sowie Gründer und Eigentümer des russischen Aluminiumherstellungskonzerns RUSAL.

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4 Kommentare

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