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Israel: Zu den Protesten gegen die Justizreform

Die israelische Regierung plant die Entmachtung des Obersten Gerichts mittels einer Justizreform durchzusetzen. Tausende Menschen protestieren dagegen. Eine Einordnung dieser Ereignisse bleibt unvollständig, wenn der israelische Siedlerkolonialismus und die daraus resultierende Apartheid ignoriert werden.

von Jüdisch Antikolonial

Nach kontinuierlichen, grossen Demonstrationen, einem umfassenden israelischen Generalstreik und immer stärker werdenden Befürchtungen, dass der durch die gegenwärtige Regierung Israels geplante Justiz-Coup am Ende gar die Sicherheit des Staates gefährden könnte, kam es Ende März zu einem politischen Kompromiss: Die Protestierenden erkämpften sich einen weiteren Monat Gewaltenteilung, während der bekennende Faschist Itamar Ben Gvir eine Nationalgarde unter seiner direkten Kontrolle erhielt. Das kann definitiv nicht als Erfolg gewertet werden. Noch ist unklar, was die Aufgabe dieser Nationalgarde sein wird, doch gewiss ist, dass die Institution künftigen Widerstand gegen den israelischen Staat von linken, jüdischen Israelis aber insbesondere von Palästinenser:innen erschweren und mit noch mehr Gewalt beantworten wird.

Innerzionistische Auseinandersetzungen

Ein Grossteil der Protestierenden sieht es als ihre Aufgabe, das zionistische – in ihren Augen demokratische – Projekt Israel bewahren zu müssen. Die Befürworter:innen des Justiz-Coups sehen sich in einer ähnlichen Rolle, basieren ihre Vision Israels aber auf einem reaktionären und oftmals religiösen Weltbild. Die beiden Lager einfach in liberal/säkulär und konservativ/religiös einzuteilen, wie es oftmals geschieht, greift  aber zu kurz. Vielmehr stehen sich zwei unterschiedliche Auslegungen des Zionismus gegenüber. Es ist ausserdem wichtig, sich daran zu erinnern, dass auch religiöse Jüd:innen keine homogene Gruppe bilden und verschiedene politische Ansichten haben.

Die Bewahrungen des kolonialen Status Quo

Es ist auffällig, dass die gegenwärtige Regierungskrise äusserst selten in den grösseren Zusammenhang der zionistischen Kolonisierung Palästinas gestellt wird; weder in Israel noch im internationalen Diskurs. Dies, obschon die geplanten Gesetzesänderung auf den weiteren Ausbau des Apartheid-Regimes sowie auf erleichterten Siedlungsbau und Annexion abzielen; Entwicklungen, die der oberste Gerichtshof gelegentlich verlangsamte. Die zionistsche Kolonisierung Palästinas spielt in der medialen Berichterstattung kaum je eine Rolle, aber auch weite Teile der Protestbewegung, die den Status Quo einer angeblichen Demokratie und damit die eigenen Privilegien zu schützen versuchen, ignorieren das zentrale Problem von Apartheid und Siedlerkolonialismus. Kein Wunder finden die Proteste beinahe ohne palästinensische Beteiligung statt und werden von Palästinenser:innen meistens entweder ignoriert oder kritisiert. Schliesslich hielt während den Protesten die Gewalt gegen Palästinenser:innen nicht inne und wurde im Anschluss an den Kompromiss durch die israelischen Behörden weiter eskaliert.

Dabei hängt die gegenwärtige Krise untrennbar mit dem kolonialen Projekt und der zionistischen Staatsgründung zusammen. Israel hat unter anderem aus bevölkerungspolitischen Gründen keine Verfassung. Die junge Regierung wollte nach der Staatsgründung ihre politische Macht nicht durch ein potentiell lähmendes Dokument einschränken. Insbesondere die Frage, wer im neu gegründeten Staat Bürgerrechte erhält, ist dabei zentral. Es war nicht hilfreich sich an Prinzipien der Gleichheit für alle Einwohner:innen binden zu müssen, während man gleichzeitig einen grossen Teil der im neuen Staatsgebiet wohnhaften Palästinenser:innen loswerden wollte und stattdessen Jüdinnen:Juden aus der ganzen Welt einbürgerte. Zu einer Verfassung, welche sich dieser Frage hätte anehmen müssen sowie die verbleibenden Palästinenser:innen zu gleichberechtigten Bürger:innen gemacht und eine Gewaltenteilung verfassungsrechtlich geregelt hätte, konnte sich bisher keine Regierung Israels durchringen.

Faschistische Visionen und antifaschistischer Widerstand 

Die fehlende Verfassung kann also nur vor dem Hintergrund der andauernden Nakba [Nakba, Arabisch für Katastrophe, bezeichnet eigentlich die Flucht und Vertreibung von ca. 700’000 arabischen Palästinenser:innen aus dem früheren britischen Mandatsgebiet Palästina zwischen 1947- 1949; Anm. d. Red.] verstanden werden. Heute ist es kein Zufall, dass die Macht des obersten Gerichts eben dann eingeschränkt werden soll, wenn eine faschistische Bande die Regierungsgeschäfte übernimmt und sich die Zustände während des Höhepunkts der Nakba zurückwünscht, um die Rechte der verbliebenen Palästinenser:innen noch drastischer einzuschränken bzw. diese endgültig loszuwerden. Die rechtsextreme Regierung hofft zum Beispiel, ohne Einmischung der Justiz weitere Gebiete anektieren zu könnnen, die Todesstrafe für Palästinenser:innen einzuführen oder palästinensische Parteien in Israel nicht zu Wahlen zuzulassen. Faschistische Exponent:innen der Regierung wie zum Beispiel Finanzminister Bezalel Smotrich schrecken auch nicht davor zurück, öffentlich von einem israelischen Grossreich zu träumen.

Für uns ist daher klar, dass der Kampf gegen den Coup nicht die Situation vor der jetzigen Regierung schönreden darf und zwingend mit dem Kampf gegen den kolonialen Staat verbunden werden muss. Uns bleibt die Hoffnung auf eine Stärkung des radikalen Widerstands innerhalb der Bewegung gegen die Justizreform und die Solidarität mit dem palästinensischen Widerstand; auf dass der Kampf gegen Faschist:innen sich auch in einen wahrlich antifaschistischen Kampf für Gerechtigkeit und die Freiheit aller Menschen in Palästina/Israel wandeln wird.


Titelbild: Foto: Ilan Rosenberg/Reuters (2023): Mit einer Anspielung auf „The Handmaid’s Tale“ demonstrierten Menschen am 30. April in Tel Aviv gegen ihre Regierung.

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