Im Februar 2021 putschte sich die Junta, die in Myanmar zwischen 1962 und 2011 eine Militärdiktatur unterhalten hatte, zurück an die Macht. Die riesigen zivilen Protestbewegungen gegen den Militärputsch wurden brutal niedergeschlagen. Viele Aktivist:innen schlossen sich daraufhin dem bewaffneten Kampf gegen die Junta an, der von verschiedenen ethnischen Widerstandsarmeen seit Jahrzehnten geführt wird, oder gründeten neue Widerstandseinheiten. Seither hat sich der Bürgerkrieg in Myanmar stark verschärft. Die Junta-Truppen gehen dabei brutal gegen die demokratische Bewegung und Zivilist:innen vor. Die Schweiz legitimiert das Regime, in dem sie den von der Junta kontrollierten Scheinfriedensprozess unterstützt. Die Bewegung für den Sozialismus veröffentlicht einen offenen Brief von 661 zivilgesellschaftlichen Organisationen aus Myanmar, welcher die Schweiz dazu auffordert sich nicht auf die Seite der Diktatur, sondern auf die Seite der demokratischen Bewegung zu stellen. Der Brief wurde ursprünglich von Progressive Voices Myanmar veröffentlicht.
von Progressive Voices Myanmar; 10. November 2023
An
Ministerin Elina Valtonen
Ministerium für auswärtige Angelegenheiten
Regierung von Finnland
Bundesrat Ignazio Cassis
Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten
Regierung der Schweiz
10. November 2023
Betreff: Finnland und die Schweiz müssen aufhören, die Militärjunta in Myanmar und ihre Scheinfriedensbemühungen zu legitimieren
Sehr geehrte/r Frau Minister Valtonen und Herr Bundesrat Cassis,
Wir, 661 zivilgesellschaftliche Organisationen, fordern die Regierungen Finnlands und der Schweiz auf, jegliche Zusammenarbeit mit und Unterstützung für die Militärjunta in Myanmar zu beenden, insbesondere deren Scheinfriedensbemühungen. Wir fordern Finnland und die Schweiz auf, stattdessen die laufenden Bemühungen des Volkes von Myanmar um eine inklusive föderale Demokratie und nachhaltigen Frieden zu unterstützen.
Erstens haben wir erfahren, dass die finnische Regierung über die CMI – Martti Ahtisaari Peace Foundation vor kurzem Mitglieder des sogenannten Friedenskomitees der Militärjunta von Myanmar zu einem geheimen Treffen nach Helsinki, Finnland, eingeladen und sich dort mit ihnen getroffen hat – und das alles, während die Junta gezielt Zivilisten im ganzen Land angreift und tötet.
Indem die finnische Regierung Vertreter der Junta nach Helsinki gebracht hat, hat sie ihre Anerkennung, Akzeptanz und Unterstützung der Junta signalisiert – in völliger Verletzung aller demokratischen Prinzipien und vor allem des Willens des Volkes von Myanmar.
Um es klar zu sagen: Das Volk von Myanmar hat nicht nur politische Meinungsverschiedenheiten mit der illegalen und illegitimen Militärjunta. Seit dem gescheiterten Putsch vom 1. Februar 2021 hat die Junta mindestens 4.174 Menschen getötet (Stand: 6. November 2023), und mehr als 1,7 Millionen Menschen wurden innerhalb des Landes vertrieben. In den letzten Monaten hat die Junta ihren Einsatz von Luftangriffen zur Terrorisierung und Ermordung der Zivilbevölkerung Myanmars im ganzen Land verstärkt. Allein von Mai bis August 2023 führte die Junta 272 Luftangriffe durch, d.h. mindestens zwei Luftangriffe pro Tag. Dabei wurden 72 Zivilisten getötet und 163 verletzt sowie Schulen, medizinische Einrichtungen und religiöse Gebäude beschädigt.
Durch die Unterstützung und Legitimierung der mörderischen Junta hat die finnische Regierung ihre internationalen Verpflichtungen zum Schutz des Volkes von Myanmar verletzt und die Widerstandsbewegung des myanmarischen Volkes zur Verteidigung von Demokratie und Menschenrechten aktiv untergraben. Finnlands Handlungen haben auch die internationalen Sanktionen gegen die Junta untergraben und die Junta ermutigt, ihre grausamen Massenverbrechen gegen die Zivilbevölkerung Myanmars ungestraft fortzusetzen.
Zweitens haben wir erfahren, dass die Schweizer Regierung in Zusammenarbeit mit dem Centre for Humanitarian Dialogue und Swisspeace vom 16. bis 18. Oktober 2023 in Naypyitaw einen Workshop über den Friedensprozess im Rahmen des Nationwide Ceasefire Agreement (NCA) organisiert hat.
Durch die Unterstützung der vergeblichen und heuchlerischen NCA-Bemühungen der Junta verleiht die Schweizer Regierung der Junta nicht nur Legitimität, sondern verlängert auch die unerbittliche Gewalt der Junta, die versucht, das Volk von Myanmar zurück unter die Militärdiktatur zu zwingen.
Das gescheiterte NCA ist für die Bewältigung der vielschichtigen Krise in Myanmar völlig irrelevant. Tatsächlich ermutigt die Unterstützung des NCA die Junta und verschlimmert die unfassbare Verwüstung in Myanmar, da das Militär die Quelle der Gewalt und die Hauptursache der Krise ist. Wie drei Erstunterzeichner des NCA erklären, haben der illegale Putschversuch der Militärjunta und ihr Einsatz extremer Gewalt gegen die Zivilbevölkerung das NCA verletzt und außer Kraft gesetzt, insbesondere den Grundsatz der Gewaltlosigkeit.
Das NCA war von Anfang an kein lobenswertes, echtes Friedensabkommen, da der ursprüngliche Prozess zutiefst fehlerhaft und exklusiv war. Die bewaffneten ethnischen Organisationen, die sich weiterhin an den vergeblichen NCA-Bemühungen der Junta beteiligen, verfügen heute weder über Territorium, noch über eine nennenswerte Truppenstärke, noch haben sie das Mandat, ihr Volk zu vertreten. Alle Handlungen der Junta im Zusammenhang mit dem NCA sind daher illusorisch und ungültig und müssen von der internationalen Gemeinschaft verurteilt werden.
Drittens haben wir erfahren, dass die Schweiz und Finnland in Zusammenarbeit mit einigen anderen Ländern versuchen, humanitäre Hilfe über das Technical Secretariat Center (TSC), einer Arbeitsgruppe des Joint Ceasefire Monitoring Committee (JMC), zu leisten.
Humanitäre Hilfe, die über von der Junta kontrollierte Kanäle wie das JMC und das TSC geleistet wird, wird die Menschen in Not nicht erreichen und stattdessen der illegalen Junta Legitimität verleihen, ihre Gewalt gegen die Zivilbevölkerung verstärken und ihre massenhaften Gräueltaten beschönigen.
Die Schweiz und Finnland wissen sehr wohl, dass das Militär derzeit sowohl die JMC als auch die TSC kontrolliert, wie dies auch in der Vergangenheit der Fall war. Als die JMC gegründet wurde, wurde die zuvor bestehende zivile Überwachung des Waffenstillstands verboten, und heute verhindert die Kontrolle der Junta mehr denn je, dass zivile Stimmen gehört werden. Tatsächlich haben die JMC und das TSC seit ihrer Gründung nie dazu gedient, der Zivilbevölkerung zu helfen – und werden es auch nie tun.
Anstatt der Bevölkerung Hilfe zukommen zu lassen, wird die Junta die über das TSC geleistete Hilfe weiterhin als Waffe einsetzen, indem sie Hilfslieferungen blockiert, humanitäre Helfer angreift und sich die Taschen füllt, um ihre Gewalt fortzusetzen. Die Bereitstellung von Hilfsgütern durch das TSC wird auch andere Wege der Hilfslieferung behindern, nämlich über grenzüberschreitende Kanäle, die die vor Ort tätigen humanitären Helfer in ganz Myanmar unterstützen.
Insgesamt sind wir entsetzt darüber, dass die Schweiz und Finnland diese unethischen Initiativen verfolgen, die es der Junta ermöglichen, ihren Terrorkrieg gegen die Bevölkerung Myanmars fortzusetzen. In asymmetrischen Konflikten kann der Unterdrücker – in diesem Fall die Militärjunta – an keinem Verhandlungstisch ein gleichberechtigter oder vertrauenswürdiger Partner sein. Wie uns die europäische Geschichte gezeigt hat, darf das Privileg, sich an Friedensbemühungen zu beteiligen und humanitäre Hilfe zu leisten, nicht brutalen Unterdrückern gewährt werden, die kein Interesse an einem echten Frieden oder einer Beendigung der Gewalt haben.
Deshalb fordern wir die Regierungen Finnlands und der Schweiz auf, die Junta nicht länger zu legitimieren und anzuerkennen und stattdessen das Volk von Myanmar uneingeschränkt zu unterstützen. Zu diesem Zweck müssen Finnland und die Schweiz sofort jegliche Zusammenarbeit mit der Junta einstellen, einschließlich der oben erwähnten Initiativen, die eine Beleidigung für die Bevölkerung Myanmars darstellen, die jahrzehntelang unter der Gewalt des Militärs gelitten hat.
Um sich dem Willen des Volkes von Myanmar anzuschliessen, müssen sich Finnland und die Schweiz auch den laufenden internationalen Bemühungen anschliessen, um dem Volk von Myanmar Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und das Militär für Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen zur Rechenschaft zu ziehen. In diesem Zusammenhang fordern wir Finnland und die Schweiz auf, die vorgetäuschten Friedensbemühungen der Militärjunta im Zusammenhang mit dem NCA zu verurteilen und stattdessen die Bemühungen der Menschen in Myanmar, einen nachhaltigen und inklusiven Frieden von unten aufzubauen, finanziell und politisch zu unterstützen.
Damit Myanmar einen nachhaltigen Frieden erreichen kann, muss nicht nur das Militär nach internationalem Recht zur Rechenschaft gezogen werden, sondern auch der Zugang der Junta zu Waffen und Devisen muss beendet werden. Daher fordern wir Finnland und die Schweiz auf, eine Resolution des UN-Sicherheitsrates zu empfehlen, die die Krise in Myanmar an den Internationalen Strafgerichtshof verweist oder ein Ad-hoc-Tribunal einrichtet und ein weltweites Waffenembargo sowie robuste, gezielte Wirtschaftssanktionen gegen die Militärjunta verhängt.
Gleichzeitig müssen Finnland und die Schweiz alle Partnerschaften mit der Junta und den von der Junta kontrollierten oder mit ihr verbundenen Organisationen für die Bereitstellung von humanitärer Hilfe beenden. Die humanitäre Hilfe sollte stattdessen direkt an lokale ethnische und community-basierte Organisationen geleistet werden, auch über grenzüberschreitende Kanäle, um die lokal geführten humanitären Hilfsbemühungen zu stärken.
Durch eine starke Volkswiderstandsbewegung im ganzen Land strebt die Bevölkerung Myanmars danach, die Militärjunta zu entmachten und die gewaltsame Unterdrückung durch das Militär zu beenden. Es ist höchste Zeit, dass sich Finnland und die Schweiz unmissverständlich an die Seite des Volkes von Myanmar stellen.
Unterzeichnet von 661 Organisationen der Zivilgesellschaft, darunter 277 Organisationen, die ihre Namen aufgrund der politischen Represseion durch die Militärjunta nicht bekannt geben können/wollen.[1]
[1] Eine Liste der Unterzeichnenden Organisationen ist hier zu finden.