Sarah Konrad war im letzten Sommer als Pflegefachkraft auf einem Rettungsschiff im Mittelmeer unterwegs. Sie berichtet von ihrem Einsatz auf hoher See und dem politischen Kalkül der Behörden im Umgang mit Seerettungen im Mittelmeer.
Interview mit Sarah Konrad. Von Lisa Brugger (BFS Basel)
Lisa: Liebe Sarah, wie bist du eigentlich zu diesem Einsatz gekommen?
Sarah: Die Einsätze sind jeweils online ausgeschrieben. Für meinen Einsatz im letzten Jahr habe ich mehrere Organisationen angeschrieben und mich für Einsätze beworben. Es gibt viele verschiedene Positionen zu besetzen. Das variiert auch je nach Grösse des Schiffes. Es gibt grosse Schiffe mit einer Besatzung von ca. 25 Personen oder mehr und dann gibt es auch kleine Schiffe, wo nur 6-7 Menschen benötigt werden. Bei den grösseren Schiffen besteht die Besatzung zur Hälfte aus Seeleuten – Kapitän:in, Offizier:innen Deckmitarbeitende, Maschineningenieur:innen, Elektriker:innen, Logistiker:innen. Diese Besatzung wird grundsätzlich benötigt, damit das Schiff überhaupt rausfahren kann. Der andere Teil der Crew besteht aus Köch:innen, medizinischem Personal, Menschen mit bestimmten Sprachkenntnissen, Medienschaffenden und Menschen, welche für die Rettungsaktionen mit den Schlauchbooten zuständig sind. Ich gehörte zum medizinischen Personal. Die medizinische Crew besteht meist aus einer:em Ärzt:in und zwei Paramedics, das können Pflegefachpersonen wie ich sein oder auch Rettungssanitäter:innen. Bei meinem Einsatz waren wir zu dritt: eine Ärztin, ich und ein Rettungssanitäter; das war eine sehr gute Kombination. Wir haben uns in unseren Fähigkeiten sehr gut ergänzt, da wir unterschiedliche Schwerpunkte bei der Arbeit hatten.
Die Einsätze dauern ja meistens einen Monat. Was passiert in dieser Zeit?
Zunächst geht es darum, das Schiff mit allem nötigen Material auszustatten und sich als Crew kennenzulernen. Manchmal stehen auch noch Reparaturarbeiten am Schiff an. Die ersten Tage verbringt man deshalb im Hafen. Viele Schiffe starten in Spanien, in einem Hafen nahe von Valencia. Von dort dauert es vier bis fünf Tage, bis man vor der libyschen Küste ist. Während dieser Zeit macht man gemeinsame Workshops zu relevanten Themen. Wir als medizinische Crew haben für den Rest der Besatzung Workshops zu möglichen Krankheitsbildern angeboten, welche bei den Rettungsaktionen wahrscheinlich sind. Wir haben darüber informiert, in welchen Situationen wir dringend hinzugezogen werden sollen und haben auch Kurse in Herzmassage angeleitet. Es werden in dieser Zeit auch mehrere Rettungsaktionen durchgespielt zu Übungszwecken, damit sich die Crew einspielt und es im Ernstfall möglichst schnell geht.
Sobald man im Küstengebiet ankommt, beginnt man mit der Suche nach Booten. Man fährt die Küste im Zickzack ab und sucht mit dem Fernglas den Horizont nach Booten in Seenot ab. Zusätzlich hat das Schiff einen Radar, wo man Boote erkennen kann, und man erhält Informationen über Funk von Organisationen wie beispielsweise Alarm Phone. Das können beispielsweise konkrete Koordinaten eines Bootes sein […]. Dann kann man die aktuelle Position in etwa ausrechnen. Dieses Warten und Suchen, die ständige Bereitschaft, war für mich ein sehr angespannter Moment.
Wie muss man sich eine solche Rettungsaktion vorstellen?
Das Ziel der Rettung ist es, alle Menschen vom Boot auf unser Schiff zu bringen, bevor das Boot sinkt. Es ist sehr unterschiedlich, wie viele Rettungsaktionen man während eines Einsatzes macht, manchmal nur eine, manchmal vier bis fünf. Es kommt natürlich auch etwas auf die Kapazität des Mutterschiffes an, also wie viele Gäste überhaupt aufgenommen werden können. Bei unserem Einsatz hatten wir nach kurzer Zeit bereits sehr viele Gäste auf dem Schiff und haben unsere Kapazitätsgrenze eigentlich auch weit überschritten. […] Die Regel ist, dass man nie ins Hoheitsgebiet der sogenannten libyschen Küstenwache reinfährt, aber sich immer möglichst nah an dieser Grenze bewegt, die 24 Meilen von der Küste entfernt ist. […]
Die Rettungsaktionen können sehr unterschiedlich lange dauern. Es gibt Boote mit nur 15 Personen an Bord, es gibt andere mit 500 Personen an Bord. Da kann es viele Stunden dauern, bis alle evakuiert sind. Auch bei der Dringlichkeit der Rettungen gibt es grosse Unterschiede. Es gibt Boote, die sind überfüllt und nicht für die Überfahrt tauglich, aber sie sind noch nicht gekentert. Dann gibt es andere Seenotrettungen, wo das Boot schon sinkt und die Menschen schon im Wasser sind. Die Situation kann sich auch sehr schnell verändern. Denn bei einem überfüllten Schlauchboot, welches Luft verliert, kann es für die Menschen an Bord innert Minuten lebensgefährlich werden. Und bei Booten, die zweistöckig sind, haben die Personen unter Deck keine Chance, sich selbst zu retten, wenn das Wasser eindringt.
In welchem gesundheitlichen Zustand waren die Menschen, die ihr an Bord holen konntet?
Wir haben eine Rettungsaktion bei einem Boot durchgeführt, welches bereits am Sinken war. Es hätte nicht viel länger gedauert und das Boot wäre vollständig im Wasser gewesen. Im Innern des Bootes sammelte sich eine Brühe aus Benzin und Salzwasser. Dieses Gemisch hatte eine ätzende Wirkung auf die Haut und wir hatten zahlreiche Menschen mit teils schweren Verätzungen. Man nennt diese typischen Verletzungen «fuel burns». Fast die Hälfte der Menschen an Bord hatte schwerwiegende Verätzungen an Gesäss, Bauch, Rücken und im Intimbereich. Diese grossflächigen Hautverätzungen sind extrem schmerzhaft für die Betroffenen und auch sehr aufwändig zu behandeln. Wir haben auch Ohrenentzündungen und Bindehautentzündungen behandelt. Eine Person litt an Diabetes, jemand benötigte Medikamente wegen Epilepsie und eine Person musste Antibiotika einnehmen wegen einer Lungenentzündung. Was auch sehr oft vorkam, war Scabies, also Krätze. Da konnten wir nur die Symptome behandeln. Es gab ausserdem mehrere schwangere Frauen auf dem Schiff, welche wir regelmässig untersucht haben.
Nach dieser Rettung wart ihr als Pflegepersonal wohl stark ausgelastet?
Ja, definitiv. Zunächst werden nach jeder Rettung die dringenden Fälle behandelt. Aber es ist grundsätzlich auch unsere Aufgabe, dass wir nach der Rettung bei allen Personen einen kurzen Check-up machen. Aber mit mehreren hundert Menschen an Bord war es sehr schwierig, den Überblick zu behalten. Wir haben täglich Sprechstunden angeboten, konnten aber bei der hohen Anzahl an Menschen nicht alles behandeln, sondern mussten auch priorisieren. Es gab natürlich auch viele psychische Leiden aufgrund der Situation, aber es gab kaum Privatsphäre auf dem Schiff und wir konnten nicht wirklich darauf eingehen. Es gab auch niemanden mit einer psychologischen Ausbildung an Bord. Dies gehört nicht zur Standard-Crew, ausser vielleicht bei sehr grossen Schiffen. Es gäbe sicher Bedarf danach, aber die Umstände auf dem Schiff sind schwierig.
Welche Erfahrungen habt ihr mit den italienischen Behörden gemacht?
Sobald das Schiff voll ist, fährt man in Richtung Sizilien und Malta und dann werden Anfragen an verschiedene Häfen verschickt, um eine Bewilligung zum Anlegen zu erhalten. Malta antwortet eigentlich nie. Auch Lampedusa antwortet kaum, es kommt nur sehr selten vor, dass man dort anlegen darf. Dann beginnt das lange Warten. Täglich werden Anfragen verschickt und man kann nur abwarten, bis endlich eine beantwortet wird. Das Warten ist sehr anstrengend für alle, insbesondere für die Geflüchteten, die häufig noch Angst haben, dass sie zurück nach Libyen gebracht werden. Man versucht schon, so gut wie möglich zu informieren, aber man kann ihnen diese Angst nicht ganz nehmen. Ich habe Menschen sagen hören, dass sie sich eher ins Wasser werfen würden, als zurück nach Libyen zu gehen. Dies Angst vor einer Rückkehr nach Libyen ist enorm gross und die Stimmung extrem angespannt. Das Warten ist zusätzlich anstrengend, weil der Raum sehr eng ist, die Gruppe überwiegend aus jungen Männern besteht und viele verschiedene Nationalitäten aufeinandertreffen, die sich auch nicht alle gut miteinander verstehen. Es gibt immer wieder Konflikte, beispielsweise um das Essen oder um Decken. Ein grosser Teil der Arbeit ist dann das Informieren der Menschen, aber auch eine gewisse «crowd control», damit es nicht zu grossen Konflikten und Schlägereien kommt, welche die Sicherheit des Schiffes gefährden könnten. Auch das Rauchverbot auf dem Schiff führt immer wieder zu Konflikten. Es ist eine sehr anspruchsvolle Aufgabe, diese Situationen zu regeln. Ich persönlich fand das sehr schwierig. Man hat plötzlich eine ganz neue Aufgabe, man ist plötzlich so eine Art Wächter.
Wie lange habt ihr gewartet?
Wir mussten neun oder zehn Tage warten, bis wir in einer Stadt in Sizilien anlegen durften. Ich denke, dass es so lange dauert, ist eine Mischung aus politischem Kalkül und benötigter Vorbereitungszeit im Hafen. Es ist klar, dass es eine gewisse Infrastruktur benötigt, um hunderte Menschen zu versorgen. Als wir im Hafen angekommen waren, waren viele Organisationen und Behörden mit Zelten und Personal vor Ort: das Rote Kreuz, SOS Kinderdorf, das Migrationsamt, Frontex, die Polizei. Es dauerte drei Tage, bis alle an Land waren, da immer nur fünf Personen gleichzeitig das Schiff verlassen durften. Priorität hatten gesundheitlich angeschlagene Menschen, dann unbegleitete Minderjährige, Familien und danach der Rest. Wenn sie von Bord gehen, ist das meist der letzte Kontakt, den man mit den Menschen hat. Wir haben danach aber noch einige Menschen im Dorf angetroffen. Diese hatten auf jeden Fall neue Kleidung erhalten, die Haare geschnitten und auch Taschengeld und eine SIM-Karte bekommen. Sie sind glaube ich gut angekommen.
Danach muss man auf dem Schiff noch ziemlich viel aufräumen, putzen, Material nachbestellen usw. Und dann kann es eben passieren, und das ist uns leider auch passiert, dass man im Hafen festgesetzt wird. Nachdem du das Schiff wieder bereit gemacht hast, kommt die Hafenbehörde und überprüft, ob das Schiff seetauglich ist und alle Papiere korrekt sind. Und da ist es ganz klar politisches Kalkül, dass die Behörde bei den Rettungsschiffen immer eine lange Liste von Mängeln findet, die verhindern, dass das Schiff ablegen darf. Grundsätzlich sind die Kontrollen schon wünschenswert, aber sie können eben auch missbräuchlich eingesetzt werden, um zu verhindern, dass ein Rettungsschiff erneut vor die libysche Küste fahren und Rettungen durchführen kann. Bei uns wurden 42 kleine Mängel festgestellt, welche zuerst behoben werden mussten, bevor das Schiff weiterfahren durfte. Ich bin dann über den Landweg abgereist und die Schiffscrew ist noch geblieben, bis das Schiff ablegen durfte. Das waren die vier Wochen während des Einsatzes. Die effektive Rettungszeit betrug bei uns nur drei Tage. Der Rest war Vor- oder Nachbereitung bzw. Warten. Früher war es auch möglich, innerhalb dieser vier Wochen anzulegen, die Menschen an einen sicheren Hafen zu bringen und gleich nochmals für einen weiteren Rettungseinsatz vor die Küste zu fahren. Aber mittlerweile hat sich das geändert. Seit Giorgia Meloni Ministerpräsidentin von Italien ist, darf man nur noch einen Rettungseinsatz machen und muss dann einen Hafen anfahren. Die Schiffe werden nun oft einem Hafen ganz im Norden Italiens zugewiesen, sodass sie Tage brauchen, um diesen Hafen anzufahren. So reicht die Zeit dann nicht mehr, um nochmals vor die Küste runterzufahren. Das macht dann natürlich schon einen grossen Unterschied, ob man innert vier Wochen 15 Personen oder 500 Personen retten kann.
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