Der Latschin-Korridor, die einzige Verbindungsbrücke Armeniens zur mehrheitlich armenisch bewohnten aserbaidschanischen Enklave Bergkarabach, wurde seit Dezember 2022 durch Aserbaidschan blockiert[1]. Dies war ein bewusster Entscheid der aserbaidschanischen Diktatur, den ca. 120’000[2] ethnischen Armenier:innen Bergkarbachs den Zugang zu lebensnotwendigen Bedarfsmitteln und Dienstleistungen zu verwehren. Am 19. September 2023 ging Aserbaidschan schliesslich zur offenen Militäroffensive über, die die Städte Bergkarabachs schwer beschoss und zivile Tote forderte. Die Offensive endete mit dem Sieg Aserbaidschans und die aserbaidschanische Diktatur forderte als Kapitulationsbedingung die Auflösung Bergkarabachs als autonomer Region in Aserbaidschan mitsamt aller seinen staatlichen Institutionen und Organisationen. Daraufhin kam es zu einem Massenexodus ethnischer Armenier:innen. Schätzungen sprechen bisher von 65’000 Geflüchteten, erwarten aber letztlich alle ethnischen Armernier:innen.[3] Jede emanzipatorische Faser in einem gesunden Körper gebietet es da, dass man sich auf der Seite der Vertriebenen stellt und für ihr Recht einsteht, an ihren Lebensort zurückkehren zu dürfen. Denn Selbstbestimmung von Bevölkerungen ist die Basis jeder Gerechtigkeit: Solidarität mit den Opfern der gewaltsamen Vertreibung aus Bergkarabach!
von BFS Zürich
Gestern war kein Tag wie andere zuvor
Bergkarabach wird voraussichtlich per 1. Januar 2024 aufgelöst werden.[4] Das besorgt die in Bergkarabach ansässigen ethnische Armenier:innen, die nun um ihre Sicherheit fürchten. Dazu muss man wissen, die Region Bergkarabach ist durch die Vereinten Nationen als Teil Aserbaidschans anerkannt, aber die grossmehrheitlich von ethnischen Armenier:innen bewohnte Enklave auf aserbaidschanischem Territorium verfügte seit 1994 über autonome Verwaltungsstrukturen und funktionierte damit de facto als autonome Republik Arzach. Und auch wenn dieser Status völkerrechtlich nie anerkannt wurde, schützte er doch die in überwiegender Mehrheit armenische Bevölkerung vor Übergriffen durch die aserbaidschanische Diktatur unter İlham Alijew (oder seinem Vorgänger und Vater Heydər Əliyev).
Tatenlosigkeit mit System
108 Jahre nach dem Genozid an den Armenien:innen, der je nach Schätzung bis zu 1,5 Millionen Leben forderte und zu erheblichen Teilen durch Deportationen oder Todesmärsche verursacht worden war[5], müssen Armenier:innen erneut dieses Trauma der gewaltvollen Vertreibung durchleben. Dabei wiederholt sich die Geschichte nicht bloss, sondern sie wiederholt sich schlicht und einfach als Farce, insofern sich die humanitären Werte der westlichen Bourgeoisien ein erneutes Mal als leere Worthülsen erwiesen haben:
Man wird nun nicht mehr drum herumkommen, zu fragen, weswegen sich die Entscheidungsträger:innen der westlichen Staaten zwar über die Bedrohung der ethnischen Armenier:innen Bergkarabachs besorgt zeigen, seltener gar die aserbaidschanische Diktatur für ihre unprovozierten Angriffe auf zivile Bevölkerung und Infrastruktur kritisieren, aber keine diplomatischen oder wirtschaftlichen Interventionen ergreifen. Doch diese Frage klärt sich auf, sobald man weiss, dass die Gaslieferungen aus Aserbaidschan in die EU bis 2027 auf etwa 20 Milliarden Kubikmeter bzw. 18% des jährlichen Bedarfs aufgestockt, also mehr als verdoppelt werden sollen.[6] Der westliche Imperialismus trifft also stille Übereinkünfte mit regionalen Despoten, um das fehlende Gas aus Russland zu kompensieren. Wobei das Embargo gegen den Invasor Russland gar nicht so absolut ist, da Westeuropa tatsächlich russisches Öl via Indien[7] und russisches Gas via Frankreich, Belgien, Spanien etc. bezieht.[8]
Doch Armenien ist ebenso sehr zum Opfer des anderen europäischen Imperialismus geworden. Russland war traditionell die Schutzmacht Armeniens, und insbesondere Bergkarabachs. Doch die russischen ‘Friedenstruppen’ helfen zurzeit gerademal beim reibungslosen Ablauf der Evakuation der Menschen aus Bergkarabach. Ein Schelm, wer etwas Zynisches denkt, aber es scheint beinahe so, als würden die russischen Friedenstruppen Aserbaidschan unfreiwillig helfen – zumal sie in diesem Konflikt bis Dato nur untätig beigestanden hatten. Doch vieles deutet darauf hin, dass dieses Unterlassen sehr wohl System hat. Es wird wohl kein Zufall sein, dass sich Russland nur wenige Tage nach Gesprächen mit der Türkei, der Schutzmacht Aserbaidschans, so verhält. Am 1. August war der türkische Aussenminister nach Moskau gereist, um Russland dazu zu bewegen, das Getreideabkommens zwischen Russland und der Ukraine, das Russland als Teil seiner Kriegsführung in der Ukraine ausgesetzt hatte, wiederaufzunehmen. Dieses Unternehmen scheiterte letztlich.
Und doch ganz gescheitert scheinen diese Verhandlungen nicht. Denn die Türkei, die sich auch als NATO-Staat nicht immer klar gegen Russland stellt, wollte dort ebenso über bilaterale Angelegenheiten und regionale Entwicklungen sprechen. Konkret heisst das, dass die westlichen Sanktionen an Russland nicht spurlos vorbeigegangen sind. Russland braucht also neue Transit- und Handelskorridore wie bspw. dem Nord-Süd-Korridor durch Aserbaidschan, der in den Iran oder zum indischen Ozean führt, um andere Wirtschaftsbeziehungen zu stärken oder die westlichen Sanktionen über Drittstaaten zu umgehen. Dies würde Russland, das in der historischen Realität ohnehin nie eine derart klare Position als Schutzmacht Armeniens eingenommen hatte, näher an Aserbaidschan rücken; aber auch an die Türkei. Denn die Türkei ist nicht nur ein wichtiger Handelspartner Russlands, sondern eben auch einer jener Drittstaaten, um westlichen Sanktionen zu umschiffen.[9]
Auch daran zeigt sich, wie sehr Werte und Solidarität am Ende des Tages doch nur Einfluss- und Machtinstrumente bleiben, die von wirtschaftlich und/ oder militärisch überlegenen Staaten eingesetzt werden können, wenn sie gerade günstig fürs Eigeninteresse sind. Jenes Russland nämlich, das in der Ukraine diejenigen Menschen, die es eigentlich vor einem angeblichen Genozid bewahren will, zerbombt und zwangsmobilisiert, schaut gerade untätig bei der gewaltsamen Vertreibung der Armenier:innen aus Bergkarabach zu. Das bedeutet, selbst nach Eigenaussage setzt Russland sich ein Janusgesicht auf. Die ganz grosse historische Farce dürfte also sein, dass die bürgerliche Ordnung seit fast 200 Jahren Freiheit, Gleichheit und physische Unversehrtheit verspricht, tatsächlich aber immer wieder nur den eigenen Profit rettet und schützt.
Solange wir in den pseudodemokratischen Staaten des Westens von fossilen Energieträgern abhängig bleiben, sind wir gezwungen von diktatorischen und autoritären Staaten wie Russland zum nächsten zu wechseln, um uns dann bspw. von Saudi-Arabien oder Aserbaidschan im Wechsel für Gas oder Öl dazu erpressen zu lassen, bei Menschenrechtsverletzungen und Völkerrechtsbrüchen wegzuschauen. Hieran zeigt sich in aller Deutlichkeit die Dringlichkeit des ökosozialistischen Umbaus hin zu einer entfossilisierten Energiegewinnung und Produktion. Hieran zeigt sich aber auch, dass Entfossilierung, geopolitische Machtpolitik und internationalistische Solidarität mit den betroffenen Bevölkerungen an der Basis der Gesellschaft eng miteinander verknüpft sind und nur im Dreiergespann sinnvoll angegangen und gelöst werden können.
Was für Tage stehen nun bevor?
Die armenischen Behörden hatten die internationale Gemeinschaft vor der aktuellen Schreckensnachricht im Voraus gewarnt und in Armenien auch voraussichtliche Unterbringungen für mehrere zehntausende Geflüchtete geschaffen. Doch die Appelle Armeniens schienen, letztlich nicht ernst genommen worden zu sein. Warum sollte auch eine europäische Nation eine andere bzw. eine ethnisch verschiedene Bevölkerung angreifen? Es scheint beinahe so, als hätten die westeuropäischen Meinungsmacher:innen und politischen Vertreter:innen ihre eigene Warnung, dass der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine einen Präzedenzfall schaffen könnte, doch gar nicht so ernst genommen. Oder aber – und das scheint wahrscheinlich – die drohende Gefahr wurde durchaus ernst genommen, aber die alte kapitalistische Kosten-Nutzen-Rechnung nimmt alles, was die Profitmehrung aufrechterhält, weiterhin viel ernster.
Der Konflikt wird noch lange nicht zu Ende gehen. Vor allem ist noch nicht abzusehen, wie weit die Expansionsbestreben der aserbaidschanischen Diktatur unter İlham Alijew wirklich reichen. Die armenische Historikerin und ehemalige armenische Angeordnete Tatev Hayrapetyan befürchtet etwa, die Machtspiele und Angriffe Aserbaidschans rund um die Enklave Bergkarabach seien nur einer von mehreren Schritten im Zusammenhang mit dem territorialen Anspruchs auf weitere armenische Gebiete. Hayrapetyan beobachtet und untersucht die Narrative des aserbaidschanischen Staates in den aserbaidschanischen Medien. Dort werde Armenien seit 2022 etwa als «West-Aserbaidschan» bezeichnet. Welche tatsächlichen Ambitionen dahinterstecken, ist gegenwärtig natürlich schwer auszumachen. Doch gerade jetzt, wo Alijew sein militärisches Selbstbewusstsein gestärkt sieht, könnte eine reelle Gefahr weiterer Eroberungszüge durchaus bestehen. Ein potentielles Nahziel könnte Sjunik sein. Da ein Teil des aserbaidschanischen Staatsgebietes die Exklave Nachitschewan zwischen der Türkei und Armenien ist, hält Hayrapetyan es etwa für möglich, dass Alijew versuchen könnte, die dazwischen liegende innerarmenische Provinz Sjunik zu erobern, um sich so einen direkten Zugang zu verschaffen.[10]
Forderungen
Als progressive Kräfte, die sich nicht vor den Karren des einen oder anderen Imperialismus und auch nicht vor denjenigen der einen oder anderen Regionalmacht spannen lassen, müssen wir Solidarität mit der vertriebenen armenischen Bevölkerung zeigen. Wir fordern daher
- den Abzug aller aserbaidschanischen Truppen aus Bergkarabach und Einstellung der militärischen Kampfhandlungen
- die Rückkehr aller Geflüchteten in ihre angestammte Heimat
- die sofortige und dauerhafte Öffnung des Latschin-Korridors zur Gewährleistung der Versorgung
- die Garantie der physischen Unversehrtheit sowie der bürgerlichen und politischen Rechte der Bevölkerung Bergkarabachs durch die Regierung in Aserbaidschan ungeachtet der ethnischen Zugehörigkeit
- Etablierung rechtlicher Garantien zum Schutz und politischen Repräsentation der ethnischen Minderheiten Bergkarabachs, Aserbaidschans und Armeniens
- die Wiederherstellung der rechtlichen und politischen Autonomie Bergkarabachs zu einer Republik Arzach, organsiert und beobachtet durch einen Ausschuss mit UNO-Mandat, um unter Einbezug der ansässigen Bevölkerungen eine dauerhafte demokratische und friedliche Lösung zu finden
- freie demokratische Wahlen in Aserbaidschan
[1] Tagesschau (2023): Endet die Blockade Bergkarabachs?, abrufbar hier (09.09.2023).
[2] Tagesschau (2023): Bergkarabach soll aufgelöst werden, abrufbar hier (28.09.2023); 1989 lebten 189‘085 Personen in Bergkarabach, davon 145‘450 ethnische Armenier:innen (76,92%) und 40‘688 ethnische Aserbaidschaner:innen (21,52%), in: Wikipedia (2023): Nagorno-Karabakh, abrufbar hier (28.09.2023).
[3] Tagesschau (2023): Bergkarabach soll aufgelöst werden, abrufbar hier (28.09.2023).
[4] Tagesschau (2023): Bergkarabach soll aufgelöst werden, abrufbar hier (29.09.2023).
[5] Wikipedia (2023): Völkermord an den Armeniern, abrufbar hier.
[6] RND (2023): Angriff auf Berg-Karabach: Kann die EU mit Aserbaidschan Geschäfte machen?, abrufbar hier (20.09.2023).
[7] Tagesschau (2023): Importiert Deutschland weiter russisches Öl?, abrufbar hier (12.09.2023).
[8] Tagesschau (2023): EU importiert mehr Flüssigerdgas aus Russland; abrufbar hier (30.08.2023).
[9] Srf (2023): Putin schweigt: Darum hält sich Russland zurück, abrufbar hier (28.09.2023).
[10] Die Presse (2023): Neuer Krieg im Kaukasus: Aserbaidschan greift armenische Stellungen an, abrufbar hier (28.09.2023).