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Argentinien unter Javier Milei: Interview mit Lus Sbriller

Angesichts der liberalen Schocktherapie, die der rechtsextreme argentinische Präsident Javier Milei durchzusetzen versucht, rufen Gewerkschaften und soziale Bewegungen zum Generalstreik am 24. Januar auf. Lucia Sbriller, Rechtsanwältin, sozialistische und feministische Ni Una Menos-Aktivistin in Argentinien, bietet in einem Interview einen Einblick in die Gefahren, die Milei für die argentinische Bevölkerung verheisst.

Interview mit Lus Sbriller; von Guy Zurkinden; aus lecourrier.ch

Am 10. Dezember 2023 begann Javier Milei seine Amtszeit mit einem Paukenschlag. Der ultra-liberale und rechtsextreme neue argentinische Präsident versucht, ein umfassendes Programm zur wirtschaftlichen und sozialen Deregulierung durchzusetzen. Diese Schocktherapie stösst auf heftigen Widerstand. Nach grossen Demonstrationen rufen Gewerkschaften und soziale Bewegungen zu einem Generalstreik am 24. Januar 2024 auf. Lucia Sbriller, Anwältin, feministische und sozialistische Aktivistin aus Argentinien, wird am alternativen Forum und Gegenkonferenz zum World Economic Forum in Davos, dem Anderen Davos teilnehmen, das vom 19. und 20. Januar in Zürich stattfindet. Dort wird sie über die explosive Situation in Argentinien berichten. Zuvor hat sie uns in einem Interview einen tieferen Einblick in die prekäre Page Argentiniens unter einem rechtsextremen und ultra-wirtschaftsliberalen Präsidenten gegeben, der versprochen hatte, die Rolle des Staates auf einen Garant für einen ungezügelten Markt zu reduzieren.

„Ein Test für den Widerstand gegen Milei“.

Guy Zurkinden: Wie hat Javier Milei sein Amt angetreten?

Lucia Sbriller: Mit einem beschleunigten Angriff auf die Rechte einer Mehrheit der Bevölkerung. Zwei Tage nach seinem Amtsantritt kündigte der Präsident eine Abwertung des argentinischen Peso um 50%, einen brutalen Sparkurs und die Entlassung von Tausenden von Staatsbediensteten an. Anschliessend erliess er ein „Not- und Dringlichkeitsdekret“ (DNU), in dem unter anderem die Aufhebung der Preisbindung für Grundnahrungsmittel und Mieten, ein Frontalangriff auf das Arbeitsgesetz und die Privatisierung staatlicher Unternehmen vorgeschlagen wurden.

Eine Woche später schickte Milei einen Gesetzentwurf mit über 600 Artikeln an den Kongress. Das sogenannte „Omnibus-Gesetz“ würde es dem Präsidenten ermöglichen, in den Schlüsselbereichen – Finanzen, Renten, Wirtschaft usw. – den „öffentlichen Notstand“ auszurufen, um dort bis zum Ende seiner Amtszeit anstelle des Parlaments Gesetze zu erlassen.

Natürlich ist noch nicht alles entschieden. Milei wird verhandeln oder sogar einige Massnahmen aufgeben müssen, da seine politische Koalition Freiheit geht voran keine Mehrheit im Parlament hat. Und die argentinische Justiz, die von den Gewerkschaften aufgerufen wurde, hat die von der DNU geplanten Reformen des Arbeitsrechts ausgesetzt. Doch der Kurs steht fest: eine neoliberale und reaktionäre Schocktherapie.

Lus Sbriller wird am diesjährigen Anderen Davos, der Gegenkonferenz zum World Economic Forum, am 19./ 20. Januar 2024 über die Perspektive des weltweiten feministischen Streiks sprechen.

Welche Sektoren werden von diesen Massnahmen am stärksten betroffen sein?

Im Wahlkampf hat Milei wiederholt betont, dass er die „politische Kaste“ für seine Sparmassnahmen bezahlen lassen würde. Seine Regierung ist jedoch weit davon entfernt, einen Bruch mit der „Kaste“ zu vollziehen, sondern seine Regierung umfasst viele Beamt:innen, die mit Mauricio Macri verbunden sind, dem schwerreichen Ex-Präsidenten, der von 2015 bis 2019 an der Spitze des Landes stand. Mileis massives Deregulierungsprojekt wird die Situation der Arbeiter:innenklasse massiv verschlechtern und Tausende von Familien in die Prekarität stürzen. Die grossen Wirtschaftsunternehmen hingegen werden davon profitieren.

Um die Auswirkungen zu verstehen, muss man sich vor Augen halten, dass in Argentinien 30% der Arbeiter:innen arm sind und 40% der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebt. Besonders betroffen sind Frauen, LGBTQI+ und Trans-Personen, deren durchschnittliche Lebenserwartung in Argentinien bei nur 35 Jahren liegt.

Die Regierung wird auch im Bereich Sicherheit repressiver…  

Mitte Dezember kündigte Sicherheitsministerin Patricia Bullrich – ebenfalls ein Teil der „politischen Kaste“, der Milei den Kampf angesagt hatte, aber jetzt mit Milei paktiert – mehrere Massnahmen zur Einschränkung des Demonstrationsrechts an: Erleichterung der Polizeirepression, Verbot von Strassenblockaden unter Androhung von Sozialhilfekürzungen, Sanktionen gegen Eltern, die mit ihren Kindern mobilisieren, und Polizeikosten, die von den Organisator:innen der Demonstrationen zu tragen sind. Diese Massnahmen kommen zu den härteren Strafen gegen Demonstrant:innen und den Einschränkungen des Streikrechts durch das „Omnibusgesetz“ hinzu. Sie zielen darauf ab, jede Protestbewegung zu entmutigen.

Wie sieht es mit dem Widerstand gegen diese Politik aus?

Nach der Ankündigung der ersten Massnahmen wurden im ganzen Land spontan „Cacerolazos“ organisiert – eine Protestpraxis, bei der auf leere Kochtöpfe eingeschlagen wird. An den grossen Demonstrationen beteiligten sich zehntausende von Menschen. In vielen Städten und Stadtvierteln wurden auch Volksversammlungen einberufen.

Für den 24. Januar rufen mehrere Gewerkschaften zu einem Generalstreik gegen die Regierung Milei auf. Dies wird ein wichtiger Test für den sich im Aufbau befindenden Widerstand sein.

Welches sind die am stärksten mobilisierten Sektoren?

An vorderster Front stehen kämpferische Gewerkschaften, linke Parteien, die feministische Bewegung und die „Piquetero“-Bewegung, welche Erwerbslose und bewusste Arbeiter:innen organisiert und deren geschichtsträchtigen Kampfmittel die Strassenblockade, der Piquete ist. Auch Kulturschaffende, Umwelt- und Menschenrechtsbewegungen sowie Rentner:innen sind in den Protesten stark vertreten.

Der Widerstand geht jedoch über den Rahmen dieser Organisationen hinaus. In weiten Teilen der Gesellschaft ist der Wille zu spüren, gegen die Angriffe der Regierung zu kämpfen.

Ein ultraliberaler und rechtsextremer Präsident regiert Argentinien, ein Land, das über soziale Bewegungen und kämpferische Gewerkschaften verfügt. Wie ist es dazu gekommen?

Wir versuchen immer noch zu verstehen, was mit uns passiert. Es ist wichtig, dass die progressiven Kräfte diese Debatte ernsthaft führen, denn Javier Milei wurde nicht nur von den Reichen gewählt. Zahlreiche Bevölkerungsteile haben für ihn gestimmt. Und die Linke war nicht in der Lage, eine glaubwürdige Alternative zur sozialen Unzufriedenheit zu bieten.

Mileis Kampagne basierte auf einer Form von „politischem Degagismus“. Der ultraliberale Kandidat griff eine berühmte Parole des Volksaufstandes von 2001 auf: „que se vayan todos!“ („Auf dass sie doch alle gehen!“). Er bot jedoch eine rechtsextreme Version dieses historischen Slogans der Linken an, indem er die Verurteilung der „politischen Kaste“ mit der Verherrlichung des Ultraliberalismus, patriarchalischer Werte und der „Ordnung“ verband. Die Vizepräsidentin Victoria Villaruel ist bis heute eine Fürsprecherin der blutigen Militärdiktatur, die das Land zwischen 1976 und 1983 beherrschte.

„Diese Regierung ist eine Gefahr für Frauen.“

Sein Sieg findet in einem globaleren Kontext statt…

Milei ist Teil der rechtsextremen Strömung, die von Donald Trump in den USA oder Jair Bolsonaro in Brasilien verkörpert wird.

Ich glaube jedoch, dass ein erheblicher Teil seiner Wähler:innenschaft eher den Wunsch nach Veränderung als eine ideologische Überzeugung zum Ausdruck gebracht hat. Die Wahl war auch Ausdruck des Überdrusses einer Bevölkerung, die durch die Wirtschaftskrise, die Schulden und die Inflation, die im letzten Jahr über 140% betrug, verarmt ist. Diese Wut wird von einem Misstrauen gegenüber den traditionellen Parteien begleitet, die sich als unfähig erwiesen haben, die sozialen Bedürfnisse zu befriedigen.

Javier Milei führte eine offen antifeministische Kampagne…

Javier Milei stellt sich offen gegen das Recht auf Abtreibung und leugnet die Lohnungleichheit zwischen Männern und Frauen. Eine seiner ersten Massnahmen war die Verkleinerung des Ministeriums für Frauen, Geschlechter und Vielfalt auf ein einfaches Sekretariat innerhalb eines neuen Ministeriums „für Humankapital“. Seine Regierung ist eine Gefahr für Frauen. Sie wird das Recht auf Schwangerschaftsabbruch und alle Fortschritte, die in den letzten Jahren erkämpft wurden, proaktiv angreifen. Unsere einzige Möglichkeit ist es, unsere Rechte auf der Strasse zu verteidigen.

Die argentinische feministische Bewegung hat in den letzten Jahren weltweit Massstäbe gesetzt. Wie ist der aktuelle Stand der Dinge?

Von 2015 bis 2018 erlebte der Feminismus in Argentinien einen beeindruckenden Höhepunkt mit riesigen Streiks und Mobilisierungen gegen Feminizide, für das Recht auf Abtreibung, aber auch für Lohngleichheit und die Anerkennung von Care-Arbeit. Die Bewegung hat es geschafft, eine neue Generation junger Frauen* mit Aktivist:innen zu verbinden, deren Engagement bis zum Ende der Diktatur zurückreicht.

Ende 2020 haben wir einen grossen Sieg errungen, als ein Gesetz verabschiedet wurde, das Abtreibungen bis zur 14. Schwangerschaftswoche erlaubte. Weitere Erfolge waren: die Einrichtung eines Ministeriums für Frauen, Geschlechter und Vielfalt, die Verabschiedung des Gesetzes über umfassende Sexualerziehung und dessen Umsetzung in den Schulen, die Einführung einer 1%-Quote für Transgender-Personen in der öffentlichen Verwaltung usw.

In anderen Bereichen sind wir weniger weit gekommen: Die staatliche Gleichstellungspolitik ist nach wie vor unzureichend, die Lohnlücke zwischen Männern und Frauen ist nach wie vor gross. Und obwohl Gewalt gegen Frauen* mittlerweile öffentlich diskutiert wird, ist die Zahl der Feminizide immer noch nicht zurückgegangen. In den letzten drei Jahren waren unsere Mobilisierungen weniger spektakulär, aber die feministische Bewegung ist immer noch sehr gross. An unserem letzten nationalen Treffen nahmen über 100’000 Menschen teil! Und seit Dezember sind Frauen und LGBTQI+-Personen in den Mobilisierungen gegen Milei und seine Politik sehr präsent.


Übersetzung durch die Redaktion

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