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HTS- und SNA-Milizen überrennen den Westen Syriens: eine Einordnung

Seit Tagen greifen islamistische und dschihadistische Milizen im Westen Syriens verschiedene Städte an und überrennen ganze Landstriche im Westen Syriens. Es handelt sich dabei hauptsächlich um die Hay‘at Tahrir al-Sham (HTS) sowie die Syrian National Army (SNA). Bisher wurden grosse Teile der Stadt Aleppo und Shahba – der letzte Ort der Afrin-Region – welche zuvor von der autonomen Administration Nord- und Ostsyrien (Rojava) kontrolliert wurden, erobert. Die teilweise direkt von der Türkei unterstützten Milizen (bspw. SNA) koordinierten sich unter anderem über eine Koordinationsstelle auf türkischem Boden. Gegenüber diesem koordinierten Angriff zogen sich die Regimetruppen Assads überstürzt aus ihren Stützpunkten zurück und hinterliessen grosse Waffenbestände. Aleppo war schon 2014-16 hart umkämpft und wurde vom Assad-Regime mithilfe Russlands dem Erdboden gleichgemacht. In Shehba lebt derzeit ein Grossteil der binnen-Geflüchteten aus Afrin, die 2018 nach der türkischen Besetzung fliehen mussten. Viele fürchten sich also vor erneuten Angriffen und Übergriffen durch türkische Soldaten oder Dschihadisten. Sie fürchten erneut um ihr Leben. Die SDF/YPG/YPJ organisieren derzeit Widerstand in Sheik Maqsoud und Ashrafiya (Aleppo) und in Tel Rifaat (Shahba). Aus ganz Rojava begeben sich SDF-Truppen aber auch Freiwillige in die umkämpften Gebiete, um der Bevölkerung Schutz zu bieten und ihnen eine Flucht durch die Errichtung humanitärer Korridore zu ermöglichen.
Gleichzeitig kursieren auch Videos von HTS-Kämpfern, die durch die Gebietseroberungen das erste Mal seit langem ihre Familie wiedersehen. Und es gibt Nachrichten, dass die lokale Bevölkerung sich über die Vertreibung der Regierungs-Truppen freut. In vielen Medien werden ausserdem die HTS und die SNA als „Rebellen“ benannt und es fällt den Berichterstattenden schwer, die Situation einzuordnen. Wir veröffentlichen hier einen kürzlich erschienen Artikel aus Medya News, den wir übersetzt und gekürzt haben. Der Artikel ordnet die Milizen ein und stellt die oftmals als „überraschend“ bezeichneten Angriffe in den grösseren Kontext des Krieges in Palästina, Israel, Libanon sowie der Repressionswelle in der Türkei. (Red.)

von Sarah Glynn; aus Medya News

In Syrien hat der Bürgerkrieg den benachbarten und internationalen Mächten die Möglichkeit gegeben, um Reichtum und Kontrolle zu konkurrieren. Seit dem letzten Einmarsch der Türkei im Jahr 2019 befindet sich das Land in einer Phase des instabilen und blutigen Gleichgewichts, mit anhaltenden Kämpfen in vielen Gebieten. Israels Krieg hat dieses Gleichgewicht gestört. Es wurde viel über mögliche Szenarien spekuliert, aber in dieser Woche haben die Türkei und ihre islamistischen Verbündeten den ersten Vorteil erlangt.

Die politische Landschaft Syriens

Bevor ich auf die Geschehnisse eingehe, möchte ich einen kurzen Überblick über die verschiedenen Staaten und militärischen Organisationen geben, die in dem Land aktiv sind.

Die Kurd:innen sind im Norden Syriens konzentriert. Sie wurden von der syrisch-arabischen Regierung Assads unterdrückt, konnten aber das Machtvakuum des Bürgerkriegs nutzen, um die autonome Kontrolle über ihre Region zu übernehmen. Die Autonomiebehörde kontrolliert heute auch viele nicht-kurdische Gebiete, die ihre Streitkräfte von ISIS befreit haben, und sie hat die Kontrolle über einige kurdische Gebiete durch die türkischen Invasionen verloren. Das derzeitige Gebiet der Autonomieverwaltung besteht aus einem großen Dreieck, das den Nordosten Syriens abdeckt – wobei in der Mitte der Nordgrenze ein Streifen fehlt, der 2019 von der Türkei erobert wurde – sowie aus Gebieten, die von der syrischen Regierung in den Städten Qamischli und Hasaka kontrolliert werden. Es gibt auch autonome Exklaven in Shahba – dem kleinen Teil von Afrîn, der nicht von der Türkei erobert wurde – und in den nördlichen Stadtteilen von Aleppo, Sheikh Maqsoud und Ashrafiya, die unter den von der syrischen Regierung verhängten Blockaden leiden. Die AANES (Autonome Administration Nord- und Ostsyrien, besser bekannt als Rojava, ANm. d. Red.) betont, dass sie keine Unabhängigkeit anstreben, sondern regionale Autonomie innerhalb eines demokratischen und dezentralisierten Syriens; ein solches Syrien ist jedoch nicht Teil von Assads Vision, und er hat ihre Forderungen nach Verhandlungen mit unbegründeten Anschuldigungen des Separatismus zurückgewiesen.

Russland und der Iran unterstützen beide das syrische Regime und haben den Krieg genutzt, um sich wichtige strategische und wirtschaftliche Interessen zu sichern. Neben Mitgliedern des iranischen Korps der Islamischen Revolutionsgarde (IRGC) gibt es in Syrien auch zahlreiche vom Iran unterstützte Milizen.

Die Türkei – Irans regionaler Rivale – unterstützt die militanten islamistischen Gruppen, die sich gegen Präsident Assad und seine syrische Regierung stellen, und nennt sie die „Syrian National Army“ (SNA). Die Türkei strebt ebenfalls nach mehr Macht und Kontrolle und will darüber hinaus jede Form von kurdischer Autonomie oder selbstbewusster kurdischer Präsenz beseitigen. Sie hat drei Invasionen und Besetzungen in Nordsyrien durchgeführt, um die von den Kurd:innen und ihren Verbündeten eingerichtete autonome Verwaltung zu blockieren und zu zerstören. Sie haben die islamistischen Milizen als Söldner in ihrem Kampf gegen die Kurd:innen eingesetzt und das Wachstum von ISIS als antikurdische Kraft gefördert. Obwohl Präsident Erdoğan ursprünglich Assad absetzen wollte, will er nun die Beziehungen zu ihm wiederherstellen und ihn überreden, sich diesen Angriffen gegen die Kurd:innen und die Autonome Verwaltung von Nord- und Ostsyrien anzuschließen. Aber Assad wird nicht mit Erdoğan reden, solange die Türkei noch immer große Teile Syriens besetzt hält, ohne Pläne für einen Abzug zu haben.

In den von der Türkei besetzten Gebieten wird das tägliche Leben von den Söldnerbanden der SNA brutal kontrolliert, zu denen islamistische Kämpfer aus mehreren Ländern gehören und die sich auf Erpressung und grundlose Gewalt spezialisiert haben. Die Türkei unterstützt auch Hay‘at Tahrir al-Sham (HTS), die aus der syrischen Al-Qaida hervorgegangen ist und über eine besser ausgebildete und diszipliniertere Truppe als die SNA-Milizen verfügt. Die HTS kontrolliert die Region Idlib und hat sich mit einigen der SNA-Milizen verbündet, um ihren Machtbereich zu vergrößern. Trotz der brutalen Realität dieser militanten, islamistischen Gruppen und der Tatsache, dass die HTS von den Vereinigten Staaten (und auch von ihren türkischen Unterstützern) als terroristisch eingestuft wird, werden sie in den westlichen Medien immer noch häufig mit den harmlosen Bezeichnungen „Rebellen“ oder „syrische Opposition“ bedacht, weil sie gegen Assad kämpfen.

Trotz ihrer oft gegensätzlichen Interessen haben Russland, der Iran und die Türkei viele gemeinsame Treffen abgehalten und pragmatische Vereinbarungen getroffen – wie zum Beispiel die Vereinbarung, die der Türkei 2018 den Einmarsch in den kurdischen Kanton Afrin ermöglichte, während sie gleichzeitig versprach, die HTS innerhalb einer entmilitarisierten Zone um Idlib einzudämmen.

Zu Beginn des Bürgerkriegs unterstützten die Vereinigten Staaten auch die islamistischen Gruppen in der Hoffnung, mit ihnen einen Regimewechsel herbeizuführen. Als dies jedoch scheiterte und die ISIS die Region zu übernehmen drohte, ging die USA dazu über, die kurdischen Kräfte zu unterstützen, die als einzige Gruppe erfolgreich Widerstand gegen die ISIS leisten. Die von den USA dominierte „internationale Koalition gegen Daesh“ unterhält Stützpunkte in Nord- und Ostsyrien und ist mit den SDF im Kampf gegen ISIS-Schläferzellen taktisch verbündet. Ihre Präsenz verhindert, dass die Türkei eine weitere groß angelegte Invasion durchführt, aber sie hat nicht eingegriffen, um die kontinuierliche Bombardierung Nord- und Ostsyriens durch die Türkei oder ihre verheerenden Luftangriffe zu stoppen. Aus Sicht der USA gibt ihnen die Anti-ISIS-Mission einen weiteren Fuß in der Region, wo sie weiterhin Druck auf Assad ausüben – vor allem durch Sanktionen, die das Land verarmen lassen – und den Iran als vollendeten Feind sehen.

Obwohl ISIS 2019 territorial besiegt wurde, verübt sie immer noch Angriffe auf die Autonomieverwaltung und auf syrische Regierungstruppen. Die Ideologie der ISIS hält sich hartnäckig, und die aus den Angriffen der Türkei resultierende Instabilität ermöglicht es ihr, neue Mitglieder zu rekrutieren, während die von der Türkei besetzten Gebiete den ISIS-Kämpfern einen relativ sicheren Zufluchtsort bieten.

Israel hält einen großen Teil der syrischen Golanhöhen besetzt und führt grenzüberschreitende Angriffe durch. Diese zielen größtenteils auf Ziele, die mit dem Iran verbunden sind, und haben seit Oktober 2023 zugenommen. Obwohl Syrien öffentlich als Teil der „Achse des Widerstands“ zur Unterstützung Palästinas auftritt, hat es sich aus Angst vor einer Ausweitung dieser Angriffe durch Israel zurückgehalten.

Israels Angriffe auf iranische Militärziele und mit dem Iran verbundene Milizen (in Syrien, Anm. d. Red.) sowie der Rückzug der Hisbollah-Kräfte nach Israels Angriffen auf den Libanon haben das Kräfteverhältnis durcheinandergebracht. Die Türkei hat sich durch ihre Freunde in der HTS und der SNA bereit gezeigt, dies auszunutzen.

HTS gegen die syrische Regierung

Trotz eines von Russland und der Türkei vermittelten Waffenstillstands aus dem Jahr 2020 kam es weiterhin zu sporadischen Kämpfen zwischen der von Russland unterstützten syrischen Regierung und der von der Türkei unterstützten HTS, die militärische und zivile Opfer forderten. In letzter Zeit sind diese Kämpfe eskaliert, aber das Ausmaß des am Mittwoch begonnenen und von der HTS geführten Angriffs ist von einer anderen Größenordnung.

Obwohl es viele Berichte über militärische Aufrüstungen in der Region gab und obwohl die North Press Agency am vergangenen Samstag von „erneuten Berichten über die Vorbereitung einer möglichen Militäroffensive der HTS und anderer Oppositionsgruppen gegen Stellungen der Regierung in der Region“ schreiben konnte, wurden die syrischen Regierungstruppen am frühen Mittwochmorgen offenbar von dem Angriff überrascht. Die HTS, die sich mit einer Kombination von SNA-Milizen verbündet hatte, übernahm trotz der russischen Luftangriffe zur Unterstützung der Regierungstruppen rasch die Kontrolle über ein Dutzend Städte und Dörfer.

Am Donnerstag wurde berichtet, dass sich die syrischen Regierungstruppen aus wichtigen Stellungen auf eine sekundäre Verteidigungslinie zurückgezogen haben, aber Verstärkung heranführen. Die HTS- und SNA-Milizen hatten Dutzende von Städten und Dörfern sowie einen großen Militärstützpunkt eingenommen. Der General, der die iranischen Militärberater im Gouvernement Aleppo befehligte, wurde getötet, und die wichtige Verbindungsstraße zwischen Aleppo und Damaskus abgeschnitten.

Am Freitagnachmittag waren die Milizen in die Außenbezirke der Stadt Aleppo vorgedrungen, und syrische und russische Luftangriffe hatten Gebiete in Idlib und West-Aleppo beschädigt. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) meldete für die drei Tage insgesamt 255 Tote, darunter vier Universitätsstudenten, die beim Einschlag einer HTS-Rakete in ihr Studentenwohnheim getötet wurden, sowie zwanzig weitere Zivilist:innen. Tausende von Menschen waren aus dem Konfliktgebiet geflohen, um sich in Sicherheit zu bringen.

Am Freitagabend war klar, dass die syrischen Regierungstruppen zusammengeschmolzen waren und Russland, das einen Großteil seiner Luftstreitkräfte in die Ukraine verlegt hat, nicht in der Lage war, die notwendige Unterstützung zu leisten.

Die Türkei ist nicht offen involviert, aber niemand, der sich in der Region auskennt, bezweifelt, dass sie hinter den Angriffen steckt. Wie der SDF-Sprecher Farhad Shami auf Twitter/X erklärte: „Dieser Angriff wird Schritt für Schritt von der Türkei gesteuert, und um diesen Prozess vollständig zu verstehen, ist es entscheidend, die Rolle der Türkei zu sehen.“ Dies war eine opportunistische Machtübernahme und könnte dazu dienen, Druck auf Assad auszuüben – dessen Schwäche nur allzu offensichtlich geworden ist -, damit er sich mit der Türkei einigt. Allerdings müsste jedes Abkommen auch von den nun gestärkten Milizen akzeptiert werden.

Angesichts der Tatsache, dass die angreifenden Milizen nur 10 km von Sheikh Maqsoud und Ashrafiya entfernt sind und die Befürchtung besteht, dass die Stadt Tel Rifat in Shahba das nächste Ziel sein könnte, schrieb Shami: „Die Entwicklungen im Nordwesten Syriens sind heikel, und wir kümmern uns direkt darum und beobachten sie genau. Was auch immer geschieht, unsere nationale und moralische Priorität bleibt die Verteidigung unseres Volkes und unserer Regionen. Deshalb werden wir eingreifen, wenn es nötig ist, um unser Volk zu verteidigen.“

In geringerem Umfang hatten die SDF am Dienstag eine Vergeltungsaktion durchgeführt, die darauf abzielte, die Aktivitäten der von der Türkei unterstützten Milizen zu stören, deren Beschuss am Vortag ein Mitglied des Militärrats von Manbij getötet hatte. Bei dieser Aktion wurden nach eigenen Angaben 17 türkische Söldner getötet und weitere verwundet.

Die SDF sind eine beeindruckende Kampftruppe, können aber auch hier nicht mit der Unterstützung ihrer amerikanischen Verbündeten rechnen, die die Türkei nicht verärgern wollen und bereit sind, islamistische Milizen zu dulden, wenn diese Assad schwächen und Russland in Verlegenheit bringen.

Lawfare in der Türkei

Obwohl von den Ereignissen in Syrien überschattet, war dies auch eine ereignisreiche Woche in der Türkei, wo die Unterdrückung in der Regel in Form von „Lawfare“ stattfindet.

In der Türkei werden gewählte Volksvertreter weiterhin von den Gerichten verfolgt und die Demokratie wird weiter abgebaut. In dieser Woche wurde der Co-Bürgermeister der Gemeinde Bahçesaray in Van zu drei Jahren und elf Monaten Haft verurteilt und ein staatlicher Treuhänder zu seinem Nachfolger ernannt. Die Klage gegen den Co-Bürgermeister wurde 2015 eingereicht, was ihn jedoch nicht daran hinderte, zu kandidieren. Auf den meisten kurdischen Politikern lasten alte, unbegründete Klagen, die nun genutzt werden, um einen gewählten Bürgermeister nach dem anderen abzusetzen. In Esenyurt, wo der Bürgermeister der Republikanischen Volkspartei (CHP) im Oktober abgesetzt und inhaftiert wurde, wurde nun gegen seinen Stellvertreter ein Haftbefehl erlassen. Sogar ein Dorfvorsteher (mukhtar) wurde zum Treuhänder ernannt. Șahismail Göyük wurde seines Amtes enthoben, nachdem er sich gegen die Behandlung der Aleviten durch die Regierung ausgesprochen hatte. In dem gerade abgeschlossenen Prozess gegen 38 Mitglieder kurdischer Parteien wurden 21 Personen zu Haftstrafen von über sechs Jahren und drei von über einem Jahr verurteilt.

Am Dienstagmorgen wurden bei Razzien in 30 Provinzen 231 Personen festgenommen: Journalisten, Aktivisten und Politiker, darunter bekannte Namen.

Am Montag war der Internationale Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen, der von Frauendemonstrationen in aller Welt begleitet wurde. In Diyarbakir versuchten die Behörden, den Slogan der kurdischen Frauenbewegung „jin jiyan azadi“ zu verbieten, der inzwischen zu einem internationalen Slogan geworden ist. Die Frauen reagierten darauf, indem sie den Slogan noch nachdrücklicher verwendeten.


Wir sind überzeugt: Weder die islamistischen, dschihadistischen und von der Türkei direkt unterstützen Milizen noch die Regierungstruppen unter Assad mit Unterstützung seines Freundes Putin bringen Sicherheit in die Region. Die SDF/YPG/YPJ sind die einzigen Kräfte, die Sicherheit und Stabilität versprechen können und ihnen soll unsere volle Unterstützung gelten!

Bleibt informiert und kommt an die Demos in euren Städten!

Hier einige Orte, wo ihr euch informieren könnt: 
Rojava Information Center
ANF deutsch und englisch
Live Map Syria
The Syrian Observatory For Human Rights
Women Defend Rojava

Telegramkanäle:
@rojavaagenda
@jugendinfo
@ronahi_youth
@International_Rev

Übersetzung durch die Redaktion

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