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Wohin geht Syrien?

Der Sturz von Bashar al-Assad eröffnet ein neues Kapitel in der syrischen Geschichte. Es ist allerdings höchst ungewiss, wie sich das politische Kräfteverhältnis entwickeln wird. Der libanesische Marxist Gilbert Achcar blickt auf die letzten Jahre zurück und skizziert einige Szenarien für die Zukunft. (Red.)

von Gilber Achcar; aus emanzipation.org

Bei der Betrachtung der überraschenden historischen Ereignisse, die sich seit letztem Freitag ereignet haben, war das erste, was uns in den Sinn kam, die Erleichterung und Freude über die Bilder von Gefangenen, die aus der Hölle der Gefängnisgesellschaft befreit wurden, zu der Syrien unter dem Regime der Assad-Familie geworden war. Unsere Gefühle wurden auch von der Freude darüber beherrscht, dass syrische Familien auf einmal in der Lage waren, aus einem benachbarten Exil zurückzukehren – sei es aus einer anderen Region Syriens oder aus Jordanien, dem Libanon oder der Türkei –, um die Städte und Häuser zu besuchen, aus denen sie vor Jahren gezwungen worden waren zu fliehen. Hinzu kommt, dass der Traum von Millionen syrischer Flüchtlinge in den Ländern um Syrien und in Europa, in ihre Heimat zurückzukehren, und sei es nur für einen Besuch, dieser Traum, der noch vor wenigen Tagen unmöglich erschien, begann, realistisch zu erscheinen.

Assads internationale Freunde

Nun ist, wie ein arabisches Sprichwort sagt, nach der Zeit des Jubels die Zeit der Reflexion gekommen. Wir sollten über die bisherigen Ereignisse nachdenken und versuchen, einen Blick auf das zu werfen, was die Zukunft bringen könnte. Zunächst muss gegenüber jenen eine klare Stellung bezogen werden, die das abscheuliche Assad-Regime unterstützt haben, indem sie behaupteten, es repräsentiere den Willen des syrischen Volkes und alle, die sich ihm entgegenstellten, seien nur Söldner:innen im Auftrag einer ausländischen, regionalen oder internationalen Macht. Sie behaupteten auch, dieses Regime, das ein halbes Jahrhundert lang keinen Finger gegen die zionistische Besetzung seines eigenen Territoriums gerührt und das 1976 im Libanon interveniert hatte, um die Kräfte der Allianz aus Palästinensischer Befreiungsorganisation (PLO) und Libanesischer Nationalbewegung zu unterdrücken und die Kräfte der christlich-konfessionellen libanesischen Rechten zu retten, das sich 1990 dem Lager des von den USA und dem saudischen Königreich geführten Krieges gegen den Irak angeschlossen hatte, sei das schlagende Herz der „Achse des Widerstands“. Jenen gegenüber sei gesagt, dass die Realität schlüssig bewiesen hat, dass das verhasste Assad-Regime nur dank zweier der fünf ausländischen Besatzungen auf syrischem Territorium an der Macht geblieben ist.

Die Wahrheit ist, dass ohne die iranische Intervention, die 2013 begann, vor allem mittels der libanesischen Hisbollah, und die russische Intervention, die 2015 begann, sowie das Veto der USA, das verhinderte, dass die syrische Opposition irgendeine Art von Luftabwehrwaffen erhielt, weil man fürchtete, sie könnten gegen die israelische Luftwaffe eingesetzt werden, dass ohne diese drei Faktoren das Assad-Regime schon vor mehr als zehn Jahren gestürzt worden wäre, denn es stand 2013 am Abgrund und 2015 trotz iranischer Unterstützung erneut. Es ist eine erwiesene Tatsache, dass das Regime, sobald die Unterstützung von außen versiegte, wie jedes „Marionettenregime“ zusammenbrach, das von der Macht, die seine Fäden zog, im Stich gelassen wurde. Das jüngste prominente Beispiel für einen solchen Zusammenbruch ist das, was dem Marionettenregime in Kabul angesichts des Vormarsches der Taliban widerfahren ist, nachdem die US-Streitkräfte 2021 ihre Unterstützung aufgegeben hatten.

Russland hat den Großteil seiner Streitkräfte aus Syrien abgezogen, weil es sich im Sumpf seiner Invasion in der Ukraine festgefahren hat (Moskau hat israelischen Quellen zufolge nur 15 Militärflugzeuge in Syrien zurückgelassen). Die libanesische Hisbollah hat eine schwere Niederlage erlitten, die ihr neuer Generalsekretär verzweifelt als „großen Sieg, der den 2006 errungenen Sieg noch übertrifft“ darzustellen versuchte. Daher war sie diesmal nicht in der Lage, ihrem syrischen Verbündeten zu Hilfe zu kommen. Währenddessen setzte der Iran seinen vorsichtigen Kurs fort, verängstigt von dem Gedanken an eine Eskalation der israelischen Aggression gegen ihn und der Möglichkeit, dass sich die USA nach der Rückkehr Donald Trumps ins Weiße Haus unmittelbar daran beteiligen könnten. Als angesichts dieser gebündelten Ereignisse Hai’at Tahrir asch-Scham (HTS) die dadurch entstandene Gelegenheit nutzte, um eine Offensive auf die Gebiete zu starten, die sich unter der Kontrolle des Regimes und seiner Verbündeten befanden, beginnend mit der Stadt Aleppo, brach das syrische Marionettenregime wie sein afghanisches Gegenstück zusammen.

Die Rolle der islamistischen Kräfte

Der große Unterschied zwischen dem afghanischen und dem syrischen Fall ist jedoch, dass die HTS viel schwächer ist als es die Taliban waren, als sie die Kontrolle über ihr Land erlangten. Die Streitkräfte des Regimes der Assad-Familie brachen nicht aus Angst vor einem mächtigen Feind zusammen, sondern weil sie nicht mehr motiviert waren, das Regime zu verteidigen. Die Armee, die dank der Ausbeutung der alawitischen Minderheit, der die Assads angehören, durch die Assads auf einer konfessionellen Grundlage aufgebaut wurde, hatte kein Interesse mehr daran, für die Kontrolle der Assad-Familie über das gesamte Land zu kämpfen, insbesondere nach dem Niedergang der materiellen Lebensbedingungen, der zu einem drastischen Kaufkraftverfall der Soldzahlungen an das Militär geführt hatte. Der klägliche Versuch des Regimes die Soldzahlungen in letzter Minute um fünfzig Prozent zu erhöhen, konnte daran nichts ändern. Dementsprechend unterscheidet sich die aktuelle Situation in Syrien stark von der in Afghanistan nach dem Sieg der Taliban. Die HTS kontrolliert nur einen Teil der syrischen Gebiete, und in einem Teil davon ist ihre Kontrolle brüchig, insbesondere in dem Gebiet um die Hauptstadt Damaskus, wo das Regime zusammenbrach, bevor die HTS es erreichte, wobei ihr die Kräfte des Südlichen Operationsraums (SOR) zuvorkamen.

Das aktuelle Kräfteverhältnis in Syrien

Syrien ist heute in mehrere Gebiete unter der Kontrolle heterogener, ja sogar miteinander verfeindeter Kräfte aufgeteilt. Da sind zunächst die von Israel besetzten Golanhöhen, wo der zionistische Staat die Gelegenheit nutzte, um sich in die Pufferzone auszudehnen, die die von ihm besetzten und 1981 offiziell annektierten Gebiete von den vom syrischen Regime kontrollierten Gebieten trennte, während seine Luftwaffe damit begann, einige der wichtigsten militärischen Kapazitäten des untergegangenen Regimes zu zerstören, um jeden Nachfolger daran zu hindern, sie zu übernehmen.

Dann gibt es noch das große Gebiet, das die HTS nun im Norden und im Zentrum kontrolliert, aber das Ausmaß dieser Kontrolle im Allgemeinen und insbesondere in der Küstenregion, die auch das Alawitengebirge umfasst, ist sehr fraglich. Dann gibt es zwei Gebiete an der Nordgrenze unter türkischer Besatzung, einhergehend mit dem Einsatz der besagten Syrischen Nationalen Armee (SNA) (die eher türkisch-syrische Armee heißen sollte); ein beträchtliches Gebiet im Nordosten östlich des Euphrat unter der Kontrolle der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), die von der kurdischen Bewegung dominiert werden, die mit einigen arabischen Stämmen verbündet ist (die die HTS sicherlich für sich zu gewinnen versuchen wird) und unter dem Schutz der US-Streitkräfte steht; ein großes Gebiet im Süden, westlich des Euphrats, unter der Kontrolle der ebenfalls mit den USA verbundenen Freien Syrischen Armee (FSA), das sich um den US-Stützpunkt al-Tanf innerhalb des syrischen Hoheitsgebiets nahe der Grenzen zu Jordanien und dem Irak zentriert; und schließlich die südliche Region, in der sich die gegen das Assad-Regime aufbegehrenden Kräfte aus der Region Daraa, von denen einige unter russischer Aufsicht standen, und die aus der Volksbewegung in der Region Suwaida hervorgegangenen Kräfte zum Südlichen Operationsraum (SOR) zusammengeschlossen haben, der die syrisch-arabische Armeefraktion ist, die am engsten mit der demokratischen Volksbewegung verbunden ist.

Zukunftsszenarien

Wohin könnten sich die Dinge von hier aus entwickeln? Die erste Feststellung ist, dass die Möglichkeit, dass all diese Fraktionen sich einer einzigen Autorität unterwerfen, gegen Null geht, selbst wenn man die kurdische Bewegung beiseitelässt und sich auf die arabischen Fraktionen beschränkt. Die Türkei selbst, die eine langjährige Beziehung zur HTS unterhält und ohne die diese Organisation nicht in der Lage gewesen wäre, sich in der Region Idlib im Nordwesten Syriens zu halten, wird nicht von ihrer Besatzung und ihren Stellvertretern lassen, solange sie ihr Ziel, die kurdische Bewegung zu schwächen, nicht erreicht. Die zweite Erkenntnis ist, dass diejenigen, die auf die Bekehrung der HTS und Ahmed al-Scharaa alias al-Dschaulani vom salafistischen Dschihadismus zur konfessionslosen Demokratie gehofft oder daran geglaubt haben, allmählich erkennen, dass sie naiv waren. Die Wahrheit ist, dass die HTS nicht in der Lage gewesen wäre, an die Stelle der Kräfte des zusammengebrochenen Regimes zu treten, wenn sie nicht so getan hätte, als würde sie ihre Haut wechseln und sich für eine demokratische und konfessionslose Zukunft öffnen. Andernfalls hätten ihr die lokalen Kräfte von Homs bis Damaskus erbitterten Widerstand geleistet, sei es unter der Ägide des untergegangenen Regimes oder nachdem sie sich von ihm emanzipiert hatten. Heute macht al-Dschaulanis überstürzte Behauptung, er habe die „Heilsregierung“, die die Region Idlib regierte, in eine neue Regierung Syriens verwandelt, wodurch die Hoffnungen derjenigen enttäuscht wurden, die erwartet hatten, dass er eine Koalitionsregierung ausrufen würde, eine Tatsache deutlich, die allen hätte im Gedächtnis bleiben müssen: die Tatsache, dass die Bewohner der Region Idlib selbst erst vor acht Monaten gegen die Tyrannei der HTS demonstrierten und den Sturz von al-Dschaulani, die Auflösung seiner Unterdrückungsapparate und die Freilassung der Gefangenen in seinen Gefängnissen forderten.

Die heuchlerischen europäischen Regierungen

Schließlich und nicht weniger wichtig: Die Freude über den Sturz des Tyrannen darf uns nicht den Blick auf die Bereitschaft verschiedener europäischer Regierungen verstellen, die Prüfung syrischer Asylanträge einzustellen, sowie auf die Tatsache, dass verschiedene Länder, insbesondere der Libanon, die Türkei und einige europäische Länder, begonnen haben, die Abschiebung syrischer Flüchtlinge zu erwägen und sie unter dem Vorwand, das Assad-Regime sei am Ende, zwangsweise nach Syrien zurückzuschicken. Syrien hat sein langes historisches Martyrium noch nicht überwunden, das vor 54 Jahren (mit dem Putsch von Hafez al-Assad 1970) begann und sich vor 13 Jahren (nach dem Volksaufstand 2011) tragisch verschlimmerte. Alle Länder müssen das den Syrer:innen gewährte Recht auf Asyl weiterhin respektieren und weiterhin in Erwägung ziehen, es denjenigen zu gewähren, die darum bitten.

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