Anfang Mai 2025 begann die israelische Armee ihre Offensive «Gideons Streitwagen» gegen Gaza. Zusätzlich zu den bestehenden Streitkräften wurden in den letzten Wochen zehntausende Reservist:innen eingezogen. Die Israel Defense Forces (IDF) machen den Gazastreifen buchstäblich dem Erdboden gleich als Voraussetzung für seine vollständige israelische Besiedlung. Damit erreicht der Genozid in Gaza eine neue, letzte Stufe.
von Philipp Schmid (BFS Zürich)
Das Ziel der neuen israelischen Offensive ist die vollständige Zerstörung der verbliebenen Infrastruktur im Gazastreifen. Damit wird das Leben für Palästinenser:innen unmöglich. Inzwischen sind alle Krankenhäuser in Gaza zerstört. Nach den Bombardierungen marschieren Bodentruppen ein, um das Land längerfristig zu besetzen. Die Stadt Rafah, in die die Bewohner:innen von Gaza noch vor einem Jahr auf Anordnung Israels fliehen mussten, gibt es nicht mehr. Das gleiche Schicksal droht der Stadt Khan Younis. Der rechtsextreme israelische Finanzminister Bezalel Smotrich bringt das Ziel der Offensive auf den Punkt: «Das, was vom Gazastreifen übriggeblieben ist, wird ausgelöscht.» Auch Ministerpräsident Benjamin Netanjahu verkündet in aller Öffentlichkeit die «vollständige Eroberung Gazas» und vorgesehene «dauerhafte Präsenz» durch Israelis.
Diejenigen Palästinenser:innen, die bei der Eroberung nicht ermordet werden, sollen zuerst in die Evakuierungszonen getrieben werden. Schliesslich sollen sie ganz im Süden des Gazastreifens (südlich des Morag-Korridors) innerhalb der israelischen «Sicherheitszone» zusammengepfercht und deportiert oder vernichtet werden. Die ethnische Säuberung ist in vollem Gange. Inzwischen wird der zerbombte Gazastreifen dem Erdboden gleichgemacht und die Trümmerhaufen werden abgetragen, um ihn neu besiedeln zu können. Seit Monaten bilden zionistische Siedlerorganisationen «Kolonien», die nur darauf warten, dass die Armee ihnen die Erlaubnis gibt, um sich in Gaza niederzulassen. Der zionistische Traum der Besiedelung des Gazastreifens ist in greifbarer Nähe. Das sagt die israelische Regierung mittlerweile selbst.
Humanitäre Katastrophe und zögerliche Reaktion der europäischen Regierungen
Die humanitäre Lage in Gaza nimmt unvorstellbare Ausmasse an. Aus dem Freiluftgefängnis Gaza ist längst ein Freiluftfriedhof geworden. Israel blockiert seit Mitte März dringend benötigte Hilfslieferungen und setzt Hunger als Kriegswaffe ein. Ärzt:innen ohne Grenzen werfen Israel vor, vorsätzlich eine humanitäre Katastrophe herbeizuführen. Die UNO warnte am 20. Mai 2025 davor, dass 14‘000 Babys in den nächsten Tagen verhungern könnten. Angesichts der internationalen Empörung kündigte Israel kürzlich an, UN-Hilfslieferungen an wenigen, militärisch kontrollierten Orten im Süden des Landes wieder zuzulassen. Die begrenzte Zulassung von Hilfsgütern ist aber nicht nur ein Tropfen auf den heissen Stein, sondern verfolgt mehr noch das Ziel, die verzweifelte Bevölkerung im Norden Gazas in den Süden zu treiben. Humanitäre Hilfe, die die Menschen flächendeckend erreicht, ist nicht vorgesehen. Warum auch, wenn man einen Landstrich ethnisch säubern will?
Nach eineinhalb Jahren des Genozids und der ständigen Eskalation der israelischen Verbrechen haben es nun auch die europäischen Aussenministerien – u.a. von Deutschland, Grossbritannien und Frankreich – geschafft, eine Erklärung abzugeben, in der sie Israel auffordern, humanitäre Hilfe zuzulassen.
Die Schweiz ist nicht dabei. Aussenminister Ignazio Cassis (FDP) will nach eigener Aussage abwarten, ob das israelische Modell der Zulassung humanitärer Hilfe in den südlichen Gebieten funktioniere. Er habe aber die Schweizer Botschaft in Tel Aviv angewiesen, die israelischen Behörden deutlich auf die Einhaltung des humanitären Völkerrechts hinzuweisen… Ansonsten schweigt die Schweiz, gewährt nur minimale humanitäre Hilfe und weigert sich, Sanktionen gegen Israel zu ergreifen.
Israel setzt um, was es von Anfang an angekündigt hat
Seit Beginn des Genozids in Gaza hat Israel nach und nach Teile seines endgültigen Planes enthüllt. Im Oktober 2023 verkündete der damalige Verteidigungsminister Joaw Galant die «totale Blockade Gazas». Seitdem wird die Versorgung mit Lebensmitteln, Wasser, Strom, Gas und Öl massiv erschwert oder ganz unterbunden. Mittlerweile hat das israelische Militär nach offiziellen Angaben mindestens 50’000 Palästinenser:innen sowie internationale Helfer:innen und Journalist:innen ermordet, Hunderttausende verletzt und ihre Lebensgrundlagen zerstört. Israel wird den Norden des Gazastreifens entvölkern und hat bereits 70% des Territoriums militärisch besetzt. Im März 2025 brach Israel schliesslich den Waffenstillstand und macht mittlerweile keinen Hehl mehr daraus, dass es dabei nicht um die Befreiung der verbliebenen israelischen Geiseln geht. Die IDF hat Anfang Mai offiziell verkündet, dass sie die Geiselbefreiung ans Ende der Prioritätenliste gesetzt haben. Stattdessen wird mit der aktuellen Offensive die letzte Phase des Genozids in Gaza eingeleitet. Denn wenn Armee und Regierung ihre Ziele erreichen, wird es am Ende der Offensive keine Palästinenser:innen mehr in Gaza geben.
All diese Entwicklungen wurden von der US-amerikanischen und den meisten europäischen Regierungen toleriert und gebilligt und durch die Waffenlieferungen aus den USA und Deutschland ermöglicht. UN-Resolutionen, Genozid-Warnungen des Internationalen Gerichtshofs (IGH), Haftbefehle des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) gegen Netanyahu und Gallant, Appelle von Menschenrechts- und humanitären Organisationen sowie die weltweiten Proteste der palästinensischen Solidaritätsbewegung wurden ignoriert oder als antisemitisch gebrandmarkt. Noch im Februar 2025 kündigte der inzwischen zum Bundeskanzler gewählte Friedrich Merz erneut an, den Haftbefehl gegen Netanjahu zu umgehen. Die nun von den europäischen Regierungen geäusserte «Besorgnis» über das Vorgehen Israels und die vagen Distanzierungserklärungen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die westliche Staatengemeinschaft seit eineinhalb Jahren vor den Augen der Weltöffentlichkeit einen Genozid unterstützt.
Das Bild zeigt Rafah während dem kurzzeitigen Waffenstillstand am 25. Januar 2025, also bevor Israel begonnen hat, die Trümmer im grossen Stil abzutragen.