Die serbische Zivilbevölkerung hat am Freitag, 24. Januar 2025 zum Generalstreik aufgerufen. Mehrere zehntausend Menschen legten ihr Studium oder ihre Arbeit nieder. Die Demokratieproteste stellen sich mutig und solidarisch der zunehmenden Autoritarisierung der serbischen Regierung von Aleksander Vučić und der korrupten neoliberalen Wirtschaftselite entgegen.
von João Woyzeck (BFS Zürich)
«An euren Händen klebt Blut»
Dem Generalstreik, der von Studierenden am 24. Januar 2025 ausgerufen wurde, schloss sich auch eine Vielzahl von kleinen Unternehmen und Geschäften wie Bäckereien an. Selbst einige der Restaurants, die gegen den Streik waren, sollen gratis Kaffee und Tee offeriert haben. Lehrpersonen nahmen im grossen Stil teil und der Unterricht in vielen Volkschulen und Gymnasien wurde ausgesetzt. Das Historisches Archiv von Belgrad stellte die Arbeit ein, die Gewerkschaft für Kultur liess die kulturellen Institutionen geschlossen, Büchergeschäfte taten es ihnen gleich. Eine Gruppe von Informationstechnolog:innen blockierte die Kreuzung in Neubelgrad und schloss sich danach den Studierenden an. Die Media Freedom Coalition, einer NGO mit 51-Mitgliedorganisationen auf sechs Kontinenten, rief serbische Medienschaffende dazu auf, am Freitag nur noch vom Streik zu berichten. Einige wenige kleine Medienorganisationen folgten dem Aufruf. Serbische Jurist:innen haben ihren Streik um drei weitere Tage ausgedehnt und erstmalig haben sogar einige Richter:innen des Obersten Gerichtshofs die Proteste öffentlich unterstützt, indem sie ihre Solidarität an die Streikenden richteten.
Die Regierung Vučić führt Serbien als defekte Demokratie. Der Regierung wird vorgeworfen, das öffentliche Wohl Serbiens im Dienste des korrupten Politklüngels auszuverkaufen und den Sozialstaat abzubauen. Der unmittelbare Auslöser der aktuellen politischen Krise war aber, dass im November 2024 15 Menschen starben, als das frisch renivierte Betonvordach am Bahnhof der nordserbischen Stadt Novi Sad aufgrund schludriger Bauarbeiten eingestürzt war.
Zwar wurden 13 Verantwortliche schnell angeklagt und der Bauminister Goran Vesić trat zurück, doch die wahre Schuld liegt tiefer. Die Bauarbeiten entsprachen offenbar nicht den erforderlichen Standards, und die Aufsicht war unzureichend. Der Ausbau des Bahnhofs ist zudem nur eines von vielen Projekten im Rahmen der chinesisch-serbischen Partnerschaft, die in der Bevölkerung zu wachsendem Unmut führen.
Die anfänglichen Mahnwachen aus Studierenden und Gmynasiast:innen sammelten sich unter der Losung:«An euren Händen klebt Blut!», zu einer ausgewachsenen Bewegung, die mittlerweile Lehrkräfte, Studierende, Arbeiter:innen, Beamt:innen, illustre Persönlichkeiten und auch Landwirt:innen mobilisiert. Viele Gewerkschaften verhalten sich leider sehr ambivalent und wollen mit den kontroversen Entwicklungen nicht assoziiert werden. Aber einige kleine Gewerkschaften wie diejenige der Lastwagenfahrer:innen oder die Gewerkschaft für Kultur unterstützen den Generalstreik aktiv.

Es waren die grössten Proteste seit Vučićs Amtsantritt 2017. Die Protestierenden fordern nicht nur Rechenschaft und eine vollständige Aufklärung des Vorfalls, sondern auch einen grundlegenden politischen Wandel in Serbien. Die Studierenden und Gymnasiast:innen, die die «Eure Hände sind blutig»-Proteste ins Leben riefen, fordern daher auch die Aufhebung aller Strafanzeigen, die Einstellung der Verfahren gegen die Protestierenden sowie eine Erhöhung der Mittel für die Hochschulbildung um 20%. Es wird aber auch eine generelle Rücknahme des Abbaus von Sozialleistungen gefordert, der Privatisierung öffentlicher Dienste und Ressorts sowie der strukturellen Bedingungen, die den internationalen Grosskonzernen zugutekommen. Die Protestierenden verlangen eine stärkere Berücksichtigung ökologischer Belange und den Stopp von Projekten, die zu irreparablen Umweltschäden führen könnten, ein Ende der Korruption, Unabhängigkeit der Justiz, Stopp der politischen Repression, mehr Demokratie und die Wiederherstellung innergesellschaftlicher Harmonie, etwa durch ein Ende der medialen Hetze und durch einen intergierenden politischen Bürgerdialog in der Gesellschaft.

Im Angesicht der anhaltenden Proteste seit November 2024 versuchten die Sicherheitskräfte mehrfach vergeblich, die friedlichen Protestierenden zur Gewalt zu provozieren, um härtere Vorgehensweisen zu rechtfertigen. Zu verschiedenen Zeitpunkten wurden Autos in die Demonstrierenden gesteuert. Vučić liess nicht lange auf sich warten, um diese grausamen Vorfälle auf respektloseste Weise abzutun. So erklärte er zu einem solchen Vorfall, dass dieser nicht strafrechtlich verfolgt werden könne, da der Fahrer schlicht «seinen eigenen Weg» gegangen sei. Viele sahen darin eine subtile Suggestion der Straffreiheit für potenzielle Nachahmer:innen.
Im bekanntesten Vorfall, bei dem eine Studentin schwer verletzt wurde, bagatellisierte Vučić die politisch motivierte Gewalt und antagonisierte die Demonstrierenden, indem er sie mit einem zeitnah geschehenen Verkehrsunfall verglich, bei dem eine ältere Frau angefahren worden war. Vučić sprach davon, dass auch die ältere Dame, die genauso gut die Grossmutter der Protestierenden hätte sein können, verletzt worden sei – nur weil sie eine andere Meinung hatte und nach Hause wollte.
Der politische Werdegang des rechtsradikalen Vučić
Vučić ist kein Neuling in der politischen Landschaft Serbiens. Er war bereits vor zwei Jahrzehnten als Mitglied der rechtsradikalen und nationalistischen Serbischen Radikalen Partei (SRP), die seinerzeit die Wiederherstellung von Grossserbien verfocht, politisch aktiv.
Die SRP gelangte 1993 unter dem genozidalen Massenmörder Slobodan Milošević ins Parlament, was Vučić zum Posten als Informationsminister verhalf, und den Schergen Miloševićs zum Scheinargument, dass sie gegenüber Parteien wie der SRP doch die moderate Kraft seien.
Dies offenbart aber vor allem auch die politische Heimat Vučićs: Nationalismus, instrumentelles Verhältnis zur Demokratie (um es diplomatisch auszudrücken), Machtstreben.
Vučić ist Gründungsmitglied und die führende Persönlichkeit der Serbischen Fortschrittspartei (Srpska napredna stranka, SNS), die sich 2008 als Abspaltung der rechtsradikalen SRP gegründet hatte. Die SNS ist gegenwärtig das grösste Mitglied des Wahlbündnisses «Serbien darf nicht stoppen» mit insgesamt 111 (respektive 105) von 250 Parlamentssitzen. Vučić war von 2012 bis 2014 Verteidigungsminister und Stellvertretender Minister Serbiens und von 2014 bis 2017 Premierminister. Da dies verfassungsmässig nicht möglich ist, gab Vučić nominell seinen Posten als Parteichef ab, als er im Mai 2017 als Präsidentschaftskandidat antrat. Tatsächlich aber dürfte die Neubesetzung mit Miloš Vučević, einem engen Vertrauten und Anwalt der Familie Vučić und seit 20. März 2024 serbischem Premier, eher kosmetischer Natur sein.
Doch es kommt noch schlimmer. Denn obwohl das Präsidialamt Staatsoberhaupt neben einigen aussenpolitischen Kompetenzen vor allem ein zeremonieller Posten und Serbien per Verfassung eine parlamentarische Republik ist, amtet Vučić mehr oder minder als Regierungsoberhaupt. Dabei sind ihm die Abgeordneten seines Wahlbündnisses mit ihrem absoluten Mehr ein praktisches Mittel, um Mehrheiten in seinem Sinne zu erzeugen. Diese Aushebelung der verfassungsmässigen Demokratie ist nicht neu und wurde auch vor Vučić schon bedient.
Doch auch Wahlmanipulation und die Vorherrschaft der SNS im öffentlichen Meinungsdiskurs spielen eine gewichtige Rolle, wie die letzten Parlamentswahlen im Dezember 2023 und die Wahl zum Belgrader Stadtparlament 2024 zeigten. Von der Registrierung von Phantomwähler:innen über die Einfuhr von willfährigen Wähler:innen aus der autonomen bosnischen Teilrepublik Republika Srpska, gekaufte Stimmen, Ballot-Box Stuffing (Wahlurnen mit gefälschten oder ungültigen Stimmzetteln füllen) bis hin zur mehrmaligen Stimmabgabe von Unterstützer:innen war dem System Serbische Fortschrittspartei nichts zu schade.
Die Aufweichung der demokratischen Grundlagen weist Ähnlichkeiten zur Strategie anderer rechtsgerichteter bis rechtsradikalen Parteien Europas. Die Unabhängigkeit der Justiz ist längst einer Abhängigkeit von der Regierung gewichen. Und viele private und vor allem die öffentlichen Medien sind stark durch die Regierung beeinflusst. Es verwundert somit auch nicht, dass die privaten und öffentlichen Medien der Regierungsparteien den Wahlen 2023 und 2024 überproportional viel Sendezeit für ihre Kampagne schenkten.

Die defekte Demokratie im Dienst des Kapitals
Die Wirtschaft ist kein autonomes Wesen, das von einer unsichtbaren Hand in eine gestreichelt wird, wo sich Bedarf und Profit decken. Sie folgt zwar durchaus ihren eigenen Prinzipien, doch diese tendieren klar zur Profitmaximierung. Die Politik gibt dem Unmut aus der Bevölkerung mal mehr mal weiger nach und schränkt die Wirtschaft etwas ein, doch im Grossen und Ganzen schafft sie den profitierenden Ausbeuter:innen günstige Rahmenbedingungen. Der autoritäre Griff Vučićs, in dem Serbien fest umschlungen ist, ist also ein integraler Teil der neoliberalen Politik zu Gunsten ausländischer Investor:innen und des politischen Filzes.
Zudem versucht auch die EU vermittels eines hypothetisch in Aussicht gestellten Beitrittsprozesses für Serbien sowie mit Bedingungen für Investitionen und Handelsabkommen Serbien zu strukturpolitischen Massnahmen zu ‚bewegen‘, die auch den Zweck verfolgen, den Zugang zum serbischen Markt für westliche Investoren einfacher zu gestalten.
Während die Studierenden und Streikenden gegen eine undurchsichtige Wirtschaftspolitik eines korrupten politischen Filzes protestierten, traf sich Vučić am vergangenen Mittwoch mit den Grossunternehmer:innen und profitorientierten Staatschefs anderer Staaten am WEF in Davos, um lauthals den Bau etlicher neuer Fabriken zu versprechen. Vučić zeigt dabei auf, wohin Gesellschaften sich entwickeln, wenn die Erfüllung Bedürfnissen nur eine lustige Synergie darstellt, die sich im besten Fall ergibt, aber der eigentliche Zweck des Wirtschaftens Profitmaximierung ist.
Der lange Atem der serbischen Proteste gegen neoliberalen Ausverkauf und den korrupten Politklüngel
Bereits 2020 führte der Umgang mit den Corona-Massnahmen durch die Regierung Vučić zu einer heftigen Protestwelle. Im Mai 2020 hob Vučić den anfänglichen Lockdown auf, um seine politische Kampagne für die bevorstehenden Wahlen im Juni zu starten, womit er bewusst das Leben der Bevölkerung und das Funktionieren des Gesundheitswesens aufs Spiel setzte.
Das Vučić-Regime liess sich die Bedrohung seiner politischen Macht durch die Bevölkerung, die es gewählt hatte, aber nicht lange gefallen. Die Proteste von 2020 wurden repressiv auseinandergetrieben – mit unverhältnismässiger Gewalt, Einschüchterung und sogar Schlägen gegenüber unbeteiligten Passant:innen. Die staatlich kontrollierten Medien, wie etwa TV Pink, trugen ihr Übriges zur Repression bei, indem sie friedliche, oppositionelle Aktivist:innen der Gewalt beschuldigten und die staatliche Gewalt vereinzelt gar als notwendige Massnahme zur Verhinderung eines Staatsstreichs rechtfertigten.
Der Widerstand gegen Vučićs selbstgefällige Politik ging jedoch von Anfang an weit über die spezifischen Auslöser hinaus. Er richtete sich gegen dieselben tief verwurzelten Probleme, die auch die Proteste seit November 2024 und den Generalstreik vom Freitag, 24. Januer 2024 prägten: Korruption, Unterdrückung der Pressefreiheit, Unterminierung der demokratischen Strukturen, die extreme neoliberale Ausrichtung der serbischen Wirtschaft, den Abbau von Arbeiter:innenrechten (so wurde die Arbeitslosigkeit etwa reduziert, indem mehr prekärere Arbeitsverhältnisse geschaffen wurden), das Verfolgen persönlicher Interessen im Wirtschafts- und Infrastrukturbereich ohne Transparenz, die immer repressiveren Sicherheitsbehörden und die Konsolidierung eines zunehmend autoritären Politklüngels.
In den Jahren 2021 und 2024 kam es erneut zu Protesten, diesmal gegen das umstrittene Lithiumförderprojekt der Regierung in Zusammenarbeit mit Rio Tinto, einem multinationalen Bergbauunternehmen mit Sitz in Grossbritannien und Australien. Ökologische Bedenken, die Gesundheit der betroffenen Bevölkerung und die undurchsichtige Rolle der Regierung bei der Akquise des Unternehmens wurden ignoriert. Ähnliche Projekte, darunter viele chinesischen Investitionen oder das Megaprojekt „Dubai an der Donau“ sorgen ebenfalls für Unruhe in der serbischen Bevölkerung. Für letzteres soll das Donauufer in Belgrad für luxuriöse Wohn- und Geschäftsinfrastruktur, die an die modernen Wolkenkratzer und architektonischen Meilensteine in Dubai erinnern soll, umgebaut werden. Finanziert wird es von Geldgeber:innen aus den Golfstaaten, vor allem aus den Vereinigten Arabischen Emiraten. Zudem erfuhr es keinerlei öffentliche Begutachtung durch serbische Stadtplaner:innen oder Behörden.
Die Zunahme der Repression seit 2024
2024 markierte einen Wendepunkt im Umgang der Regierung mit der politischen Opposition. Neben der medialen Diffamierung trat zunehmend offene Repression auf. Gewalttätige Sicherheitsstrategien und illegale Vorgehensweisen wurden implementiert: Autos fuhren absichtlich in die Reihen der Demonstrierenden, wobei zumindest eine Duldung seitens der Regierung wahrscheinlich scheint, Protestierende wurden festgenommen oder zur Einschüchterung vor und nach den Protesten verhört. Aktivist:innen berichten, dass die Sicherheitsbehörden, etwa die Sicherheitsinformationsagentur (Bezbednosno-informativna agencija, BIA), Demonstrationsorganisator:innen vor Demos oder Mahnwachen zu ‘informellen Befragungen’ einluden. In diesen Gesprächen wurden laut den betroffenen Aktivist:innen ihre Telefone gehackt, Spyware mit Verbindungen zur BIA installiert, um unbemerkt Screenshots herzustellen und Kontaktlisten aus den Geräten der Aktivist:innen zu kopieren und auf den Server der BIA zu laden.
Um Loyalität in der Bevölkerung zu fördern, dient auch das aktbekannte Kanalisieren innerer Widersprüchen nach aussen, die Projektion auf eine imaginierte gemeinsame Bedrohung. Insbesondere die Boulevardblätter und die Infotainment-TV-Sender evozieren Ressentiments rund um die vergangenen Kriege in Jugoslawien und stilisieren die Regierung auf rassistische und nationalistische Weise zum Schutzpatron Serbiens gegen die Albaner:innen, Bosniak:innen und andere. In ähnlicher Weise wirft die Regierung den Demonstrierenden vor, von ausländischen Akteur:innen unterstützt und geleitet zu werden. Vučić spricht hier von regierungsfeindlichen Protesten, die sowohl eine Bedrohung von aussen wie von innen darstellen.
Solidarität mit den Demonstrant:innen in Serbien!
In Solidarität mit den serbischen Streikenden und Demonstrierenden fordern wir:
- Aufhebung aller Strafanzeigen und Beendigung aller Strafverfahren gegen Demonstrierende
- Unabhängige öffentliche Aufklärung des Zusammensturzes und des Baus des Bahnhofvordachs in Novi Sad mitsamt der Ahndung aller Verantwortlichen
- Völlige Transparenz und das Hinzuziehen von unabhängigen Expert:innenkommissionen, Arbeiter:innenverbänden und anderer zivilgesellschaftlicher Organisationen für alle grosse Bau- und wirtschaftspolitische Projekte
- Rücktritt von Vučić und Neuwahlen unter fairen Bedingungen
- Restrukturierung der Medienlandschaft und Lösung von Verbandelungen zur SNS, um echte Meinungsfreiheit und ausgewogene Repräsentation der verschiedenen Meinungsmachenden zu garantieren
- Wiederherstellung der vollen Unabhängigkeit der Judikative
- Eine Erhöhung der Löhne auf ein wirkliches und würdevolles Existenzminimum
- Arbeitsplätze sollen stabiler und die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse beendet werden
- Einen Ausbau der sozialstaatlichen Strukturen, einschliesslich Bildung, medizinischer Versorgung, finanzieller Sicherheit und Transport, mit allgemeinem, niederschwelligem und kostengünstigem Zugang
- Mehr arbeits- und wirtschaftspolitische Mitbestimmung durch Arbeiter:innenorganisationen und Zivilorganisationen
- Umstellung auf eine ökologisch nachhaltige und gesunde Wirtschaft, unter Einbezug der Serb:innen und mit einer garantierten Erhaltung des Arbeitsplatzes oder einer unentgeltlichen Umschulung für eine vergleichbar zumutbare neue Stelle
- Gesetze und Rahmenbedingungen, die die Interessen der Serb:innen und die öffentlichen Ressorts gegenüber ein einseitig günstiges Eindringen ausländischer Investoren in die serbische Wirtschaft schützen