Am 19. März 2025 wurde der Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoğlu und viele Personen aus seinem Umfeld vom Erdogan-Regime festgenommen. Die Festnahmen werden mit angeblich terroristischen Verbindungen zur PKK und Korruptionsvorwürfen begründet. In Wirklichkeit aber hatte die CHP lediglich im Rahmen der Kommunalwahlen von 2024 unter dem Namen urbaner Konsens (kent uzlaşısı) mit der sozialdemokratischen, egalitaristischen und pro-kurdischen Dem-Partei – als die sich die HDP aufgrund eines drohenden Verbotsverfahrens 2023 neugegründet hatte – eine Wahlallianz gebildet, um in den städtischen Regionen bessere Chancen zu haben. Imamoğlu gilt als aussichtsreicher Kandidat der säkularen und mitte-links-nationalistischen CHP für die nächsten Präsidentschaftswahlen. Die autoritäre und rechtsextreme AKP schaltet also im Hinblick auf die Wahlen mögliche politische Konkurrenz aus. Uraz Aydin beantwortet einige Fragen zur Mobilisierung, die sich derzeit aufbaut. (Red.)
Interview mit Uraz Aydin von Antoine Larrache; aus Inprecor
Kannst du uns erzählen, was bei der Verhaftung des Bürgermeisters von Istanbul passiert ist?
Am Morgen des 19. März 2025 wurde Ekrem Imamoğlu, der Bürgermeister von Istanbul, zusammen mit rund 100 anderen Mitarbeiter:innen des Rathauses mit der Begründung der „Korruption“ und „Verbindung zum Terrorismus“ in Polizeigewahrsam genommen. Am Tag zuvor war sein (vor 30 Jahren erworbener) Universitätsabschluss willkürlich annulliert worden, natürlich mit dem Ziel, seine Kandidatur bei den nächsten Präsidentschaftswahlen zu verhindern. Ekrem Imamoğlu, der zweimal – 2019 und 2024 – die Kommunalwahlen in Istanbul als Kandidat der CHP (Republikanische Volkspartei, säkulare linke Mitte) gewonnen hat, hat sich im Laufe der Zeit als Erdogans Hauptgegner etabliert.
Es war geplant, dass die CHP am 23. März ihre „Vorwahlen“ abhalten würde, um über ihre Kandidat:innen für die nächste Wahl zu bestimmen. Diese ist zwar eigentlich für 2028 angesetzt, wird aber höchstwahrscheinlich früher stattfinden, damit Erdogan ein letztes Mal kandidieren kann. Es sei denn, es kommt zu einer Verfassungsänderung, was ebenfalls diskutiert wird. Das Ziel dieser Operation ist also ganz klar: den Hauptkandidaten der Opposition unwählbar zu machen, seine Verwaltung des Istanbuler Rathauses zu kriminalisieren und vielleicht sogar einen Verwalter anstelle des gewählten Bürgermeisters einzusetzen, wie es in den Gemeinden Kurdistans im Südwesten der Türkei seit mehreren Jahren geschieht.
Kannst du die Mobilisierung angesichts dessen beschreiben?
Heute ist der dritte Tag der Mobilisierungen angebrochen. Die CHP ruft jeden Tag dazu auf, sich vor dem Rathaus von Istanbul zu versammeln. Mehrere zehntausend Menschen nehmen an dieser Versammlung teil. Natürlich mobilisieren neben den Mitgliedern und Sympathisant:innen der CHP auch alle Sektoren der Opposition, einschließlich der radikalen Linken, gegen das, was mittlerweile als „Staatsstreich vom 19. März“ bezeichnet wird.
Man darf nicht vergessen, dass das Land seit dem Gezi-Aufstand im Jahr 2013 in einer Atmosphäre ständiger Unterdrückung lebt. Das Ende der Verhandlungen mit der kurdischen Bewegung (2015), die Remilitarisierung der kurdischen Frage und die Wiederaufnahme des Krieges, der von Erdogans ehemaligen Verbündeten durchgeführte Putschversuch und der daraufhin verhängte Ausnahmezustand (2016), das Verbot von Streiks und die Unterdrückung der feministischen und LGBTI+-Bewegung sind die wichtigsten Meilensteine der Entwicklung des Autoritarismus. Daran wird die Errichtung eines autokratischen Regimes unter der Führung Erdogans erkennbar.
Wir befinden uns also in einem Land, in dem Mobilisierungen selten werden, in dem der Reflex, auf der Straße zu protestieren, für normale Bürger:innen ziemlich ungewöhnlich und riskant geworden ist. Aber trotz dieser Tatsache und des Verbots von Versammlungen in Istanbul gibt es bedeutende Mobilisierungen und vor allem eine Proteststimmung, die auf der Straße, am Arbeitsplatz, in den öffentlichen Verkehrsmitteln usw. spürbar ist.
Am zweiten Abend gingen in vielen Stadtteilen Istanbuls und in Dutzenden anderen Städten Bürger:innen auf die Straße, um zu protestieren. Die wichtigsten Slogans waren dabei: „Regierung zurücktreten!“, „Nieder mit der AKP-Diktatur!“, „Keine individuelle Befreiung! Alle zusammen oder keiner von uns!“
Und auf Jugendebene: Wie groß ist die Mobilisierung?
Das wichtigste und überraschendste Element ist die Mobilisierung der Student:innen an den Universitäten. Die Universitäten sind seit Jahren entpolitisiert, die Bewegungen der radikalen Linken sind schwach und ihre Handlungsfähigkeit ist drastisch eingeschränkt. Daher hat die heutige Studierendengeneration, obwohl sie wahrscheinlich mit den Geschichten ihrer Eltern über den Gezi-Aufstand aufgewachsen ist, so gut wie keine Erfahrung in der Organisation und Mobilisierung. Dies gilt selbst für junge revolutionäre Aktivist:innen, die ebenfalls keine Gelegenheit hatten, an den Hochschulen „ihre Arbeit zu machen“.
Und dennoch, durch eine „elektrische Erschütterung“, wie Rosa Luxemburg es nannte, wurde an den Universitäten eine spontane Radikalität geweckt. Es gibt natürlich viele sozial-ökonomische (objektive) und kulturell-ideologische (subjektive) Faktoren, die zusammenfließen, um diese Mobilisierung zu formen. Darüber muss man allerdings später nachdenken. Aber die Tatsache, dass in einem Land, das immer ärmer wird, in dem es schwierig ist, Arbeit zu finden, das der Jugend keine „Glücksversprechen“ bietet, in dem ein jahrelanges Studium auf dem Arbeitsmarkt fast nichts mehr bedeutet, sowie die Tatsache, dass ein Abschluss mit einfachem Druck der Regierung auf die Universität annulliert werden kann, ist auch ein Faktor. Dieser hat wahrscheinlich dazu beigetragen, diese Erschütterung in einem Teil der Jugend zu realisieren, die mehr oder weniger dafür prädisponiert war.
Wie stark wirkt sich diese studentische Radikalisierung auf die Proteste aus?
Ich denke, dass sie alles über den Haufen werfen wird und die CHP dazu zwingen wird, aus ihren vorkonstruierten Oppositionsmustern auszubrechen. Der CHP-Vorsitzende Özgür Özel rief, wie ich bereits sagte, dazu auf, sich vor dem Rathaus von Istanbul zu versammeln. Man muss jedoch zugeben, dass keine ernsthaften Vorbereitungen getroffen worden waren, um Zehntausende von Menschen Platz zu bieten. Das Hauptziel bestand darin, die Bürger:innen zur Stimmabgabe bei den Vorwahlen am 23. März aufzurufen und so die Legitimität Imamoğlus gegenüber dem Regime zu demonstrieren. Aber auch darin, den „Kampf“ auf gerichtlicher Ebene fortzusetzen, indem man Berufung einlegt, etc.
Angesichts dessen waren die am häufigsten skandierten Slogans der Jugend (die die Mehrheit der Versammlungen vor dem Rathaus stellte): „Die Befreiung liegt auf der Straße, nicht in den Urnen“, oder ,“Der Widerstand liegt auf der Straße, nicht in den Urnen“. Es war Druck eben dieser Jugend, der es in Ankara mehrmals gelang, die Polizeiabsperrungen der Universitäten zu durchbrechen, als sie zahlreich zur ODTÜ-Universität marschierte und den Polizei-Spezialeinheiten entgegenstellte. Angesichts dieses massiven Widerstands der Jugend war die Polizei gezwungen, Einsatzfahrzeuge zur Aufstandsbekämpfung zu den Universitäten zu schicken – dies war insbesondere in Izmir der Fall. Da sich die Demonstration in Istanbul am Ende der offiziellen CHP-Kundgebungen nicht auflösten und zum Taksim marschieren wollte (dem historischen symbolischen Ort des Widerstands seit dem Massaker vom 1. Mai 1977 bis zum Gezi-Aufstand), musste die CHP-Führung schliesslich nachgeben. Özgür Özel rief das Volk also dazu auf, „auf die Plätze zu strömen“. „Wenn vor uns auf der Grundlage eines gesetzeswidrigen Befehls Hindernisse errichtet werden, stürzt sie um, ohne die Polizei zu verletzen“, fügte er hinzu. Dies ist schon ziemlich außergewöhnlich. Özel stimmte auch zu, in Saraçhane (Istanbul) eine zweite Rednerbühne für die Studierenden zu errichten.
Wie kann man diese Situation mit dem, was in Kurdistan passiert, mit dem „Prozess“ des Friedens in Verbindung bringen?
Dies ist ein sehr widersprüchlicher Prozess, den wir aber bereits erlebt haben. Wir dürfen nicht vergessen, dass es während des Gezi-Aufstands 2013, als der Westen des Landes in Flammen stand, Verhandlungen mit Abdullah Öcalan, dem Anführer der PKK, gab. Natürlich kam die radikale Opposition gegen das Regime damals in der Regel aus den kurdischen Regionen und der kurdischen Bewegung, und ihre Beteiligung war diesmal entsprechend begrenzter. Dennoch haben wir gesehen, dass diese beiden Bewegungen des Protests in der Kandidatur von Selahattin Demirtaş von der linken pro-kurdischen Partei HDP bei den Wahlen 2015 zusammengelaufen sind.
Heute gibt es erneut einen Prozess, der von den Kurd:innen als „Friedensprozess“ und vom Regime als „Entwaffnung“ bezeichnet wird. Eine Facette dieses Prozesses zeigt sich auch in den begonnenen Abkommen zwischen Rojava und dem neuen syrischen Regime. Gleichzeitig führt der türkische Staat jedoch eine Kampagne der gewaltsamen Unterdrückung gegen die säkulare bürgerliche Opposition und gegen Journalist:innen…. Aber auch Teile der kurdischen Bewegung sind davon betroffen. Den Kurd:innen – vor allem aber seiner eigenen sozialen und wahlpolitischen Basis – möchte das Regime zeigen, dass es seinen eisernen Handschuh noch immer griffbereit hat. Dass es dem Regime nicht um Verhandlungen geht, sondern darum, „dem Terrorismus ein Ende zu setzen“. Was die Inhaftierung von Imamoğlu und anderen CHP-Bürgermeistern betrifft, so ist da zwar ein Vorwurf der Korruption, auf der anderen Seite jedoch auch derjenige der Verbindung oder Unterstützung des Terrorismus, da die CHP bei den Kommunalwahlen 2024 unter dem Namen „Urbaner Konsens“ ein informelles Bündnis mit der Partei der kurdischen Bewegung eingegangen war.
Eine weitere überraschende Tatsache ist, dass alle Demonstrationen und Versammlungen in Istanbul verboten wurden, mit Ausnahme des Newroz, eines Festes, mit dem die Ankunft des Frühlings im Nahen Osten und im Kaukasus gefeiert wird, das aber seit Jahrzehnten eine politisch-nationale Bedeutung für die kurdische Bewegung erlangt hat. So könnte man sagen, dass das Erdogan-Regime versucht, einen weiteren, entscheidenden Schritt im Aufbau seines Regimes zu machen, um seinen neofaschistischen Charakter zu verstärken, indem es die beiden grössten „Brocken“ unterwirft: die säkulare bürgerliche Opposition, die von der CHP/Imamoğlu vertreten wird, und die kurdische Bewegung.
Was erstere betrifft, so wird das Regime sie kriminalisieren, ihre Vertreter:innen inhaftieren, sie möglicherweise zwingen, ihre Führung und ihren Kandidat:innen zu ändern, und schließlich jegliche Legitimität für die Wahlen zerstören. Was die kurdische Bewegung betrifft, wird das Regime wahrscheinlich versuchen, sie zu „deradikalisieren“ und sie zu einem Verbündeten auf nationaler und regionaler Ebene (Syrien, Irak) zu machen. In der Hoffnung, dass die Bewegung im Austausch für einige Errungenschaften (über die derzeit keine Details bekannt sind) ihren Kampf für eine Demokratisierung des gesamten Landes aufgibt und eine friedlichere Existenz mit dem Regime garantiert. Bisher hat die DEM Partei (ehemals HDP) angekündigt, dass sie den „zivilen Putsch“ gegen Imamoğlu und die anderen gewählten Volksvertreter:innen entschieden ablehnt und die Oppositionskräfte dazu aufruft, gemeinsam zu protestieren, indem sie die Newroz-Kundgebungen am 23. März nutzen.
Natürlich können wir den Ausgang dieser Doppelstrategie Erdogans nicht vorhersehen, aber wie der italienische Marxist Antonio Gramsci sagte: „In Wirklichkeit lässt sich nur der Kampf vorhersehen“.
Das Gespräch wurde am 21. März 2025 geführt. Übersetzung durch die Redaktion.