Ende Oktober kam der Film «Rheingold» in die Kinos, welcher das Leben des aus Bonn (NRW) stammenden Rappers Xatar verfilmt. Der Film von Regisseur Fatih Akin basiert auf Xatars autobiografischem Buch «Alles oder Nix», welches 2015 erschien. Ein passabler Film über eine atemberaubende Biografie. Xatars Lebensgeschichte ist ein in deutscher Sprache einmaliges Lehrstück über Gründe für eine kriminelle Laufbahn, und wie man mit Musik – und nebenbei einem Goldraub – da wieder rauskommt.
von Theo Vanzetti (BFS Zürich); aus antikap
Giwar Hajabi, wie Xatar[1] ausserhalb vom Rap-Kosmos heisst, ist einer der wichtigsten Strassenrapper Deutschlands und nebst seiner Musik vor allem für einen Raub bekannt, bei dem er mit einigen wenigen Kumpanen als Polizisten verkleidet einen überaus naiven Gold-Kurier überfiel und 250 kg Edelmetall entwendete. Zwar kam die Gruppe dafür lange ins Gefängnis, das Gold blieb jedoch unauffindbar.
Aus politischer Perspektive ist Xatars spektakuläre Lebensgeschichte aus diversen Gründen interessant. Xatar kam als Geflüchteter mit seinen Eltern nach Deutschland, nachdem seine linken, politisch aktiven Eltern als Kurd:innen vor der sogenannten «islamischen Revolution» im Iran fliehen mussten. Einmal in Bonn angekommen, wollten die Eltern an ihre Passion für klassische Musik[2] anknüpfen. Der Vater ist Komponist, es fällt ihm aber schwer, sich in Deutschland Anerkennung zu verschaffen. Oder wie es der Filmregisseur Akin, dessen Eltern aus Arbeitsgründen aus der Türkei nach Deutschland migriert sind, in einem Interview auf den Punkt bringt: Deutschland kann verdammt hart sein. Und wenn man nicht mit genügend Geld ankommt, spürt man förmlich schon die Kälte des Betons, auf dem man sich schlafen legen soll. Ganz egal ob man in der alten Heimat studiert hat, oder was auch immer. Man werde als Mensch zweiter Klasse behandelt.
Es sollte nie vergessen werden, dass es die materiellen Verhältnisse sind, die einen Menschen dazu bringen andere zu verletzen, und dass niemand als übler Schläger geboren wird.
Also mussten die Hajabis fortan eine ganze Generation abwarten, bis jemand aus der Familie mit Musik Berühmtheit erlangte. Ganz nach dem Motto: Wenn nicht mit Opern, dann mit Rappen. Vermutlich dürfte sich der Sohn von den Eltern abgeschaut haben, dass Musik ein Ventil sein kann, um Erlebtes zu verarbeiten. Im Film wird gezeigt, dass er es als Teenager nicht mitansehen wollte, wie seine Mutter Überstunden als Reinigungskraft leisten musste, um dem Sohn teuren Klavierunterricht zu ermöglichen. Also begann der junge Giwar kurzerhand damit, eigenes Geld mit dem Kopieren von Pornos zu verdienen, kurz darauf Gras zu verkaufen – und auch gleich darüber zu rappen. Später verkaufte er schliesslich Kokain.
Obschon die Geschichte des Underdogs, dem aufgrund der Verhältnisse, die ihn umgeben, keine bessere Alternative bleibt, als Drogen zu verkaufen, schon diverse Male erzählt wurde, ist es wohl notwendig, solche Lebensverläufe auch im deutschen Kino-Mainstream darzustellen. Um zu zeigen, dass dies eben nicht nur in irgendwelchen Orten in den USA passiert, sondern auch im beschaulichen Bonn. Und schlussendlich stellt Xatar wie kein anderer Deutscher dar, dass Strassenrap eben nicht bloss die oft kritisierte Verherrlichung von Drogen und Gewalt ist, sondern eine Möglichkeit, um dieses Geschäft hinter sich zu lassen. Es muss aber auch gesagt werden, dass Xatars Musik (z.B. der Song «Meine große Liebe») selbst diese Botschaft besser vermittelt als der Film. Denn in Akins Film wird das Thema Drogenhandel unkritisch dargestellt, was auch den Schluss zulassen kann, dass es ja überhaupt kein Problem sei, zu dealen. Noch weniger wird die Gesellschaft kritisiert, welche Menschen mit wenig finanziellen Mitteln überhaupt erst dazu animiert, das ganze Risiko auf sich zu nehmen, welches mit Dealen verbunden ist. Strassenrap selbst lädt in der Regel dazu ein, das Thema mehrschichtiger zu betrachten, als es im Film der Fall ist.
Zwar leistet der Film einen wichtigen Beitrag zur kulturellen Repräsentation jener, welche die selbst ernannte deutsche Mehrheitsgesellschaft (sic!) auch nach Jahrzehnten noch als fremd bezeichnet. Doch er hat viele Schwachpunkte. Ich möchte an dieser Stelle klarstellen, dass es in der folgenden Kritik an Gewaltdarstellungen nicht um eine moralisierende Diskussion hinsichtlich negativen Vorbildfunktionen gehen soll.[3] Es geht mir mehr darum, dass neben diversen Schlägerei-Szenen andere Aspekte untergehen, die dabei helfen würden, ein unsicheres, prekäres Strassenleben besser zu verstehen. Gerade wenn man, wie ich selbst auch, das Privileg hatte, in der Jugend nicht mit solch roher Gewalt konfrontiert zu werden.
Xatar hat diese cineastische Hommage verdient. Genauso all jene, für die er eine Strassenlegende, wenn nicht sogar eine Art Robin Hood ist.
Der Film stellt dar, wie der jugendliche Giwar – um sich über Wasser zu halten – lernen musste, mit Schlägereien und später auch Waffengewalt umzugehen und selbst brutal zu werden. Im Gegensatz zum Film schafft es die Buchvorlage dabei jedoch stets zu vermitteln, dass Xatar diese Gewalt reflektiert hat und nicht mehr so leben möchte. Es sollte nie vergessen werden, dass es die materiellen Verhältnisse sind, die einen Menschen dazu bringen andere zu verletzen, und dass niemand als übler Schläger geboren wird. Wer möchte schon einen Lebensstil führen, welcher täglich von Gewalt geprägt ist? Im Film nehmen die Schlägerei-Szenen zu viel Raum ein. Ihre Vielzahl und ihre Wiederholung hat keinen dramaturgischen Wert. Akin betont im Interview, er wolle aus einer anthropologischen Perspektive erörtern, was einen Menschen dazu bringe, Gewalt anzuwenden. Diesem Anspruch genügt der Film nicht. Zumindest im Kinosaal, in welchem ich sass, wurden die entsprechenden Szenen wohl eher als unterhaltend und belustigend aufgefasst.[4]
Spätestens bei einer beklemmenden Mordszene wird diese Unzulänglichkeit des Films offensichtlich. Xatar ist unterdessen zum Schützling eines waschechten Mafia-Bosses aufgestiegen. Ein in Ungnade gefallener Zuhälter wird vom Boss, den alle bloss «Onkel» nennen, kurzerhand im eigenen Wohnzimmer erschossen. Während Xatar im Buch beschreibt, dass er aufgrund dieser Gräueltat, welche er mitansehen musste, beschloss, aus Mafiageschäften auszusteigen, fehlt diese Einordnung im Film. Das Kinopublikum lachte als der Schuss fiel. Mir selbst war die Mordszene zu realistisch, im Gegensatz zu unrealistischen Darstellungen in irgendwelchen Actionfilmen.
Sympathisch war jedoch, wie passend der Kleidungsstil der Kinogänger:innen mit dem im Film gezeigten übereinstimmte. Das Publikum war eben richtig HipHop. Richtig HipHop wäre es allerdings auch gewesen darzustellen, wie Xatar eine Zeit lang Basketball als Leistungssport spielte, oder wie sein ganzes Viertel gegen die spiessigen Bonner Drogenfahnder zusammenhielt, welche übrigens das Ziel der Häme in einem Songext zusammen mit Rap Kollege SSIO (Song «Don & Fuß» von SSIO) wurden. Beides kann man im Buch nachlesen. Dafür zeigt der Film rührend, wie Grossmütter durch eine Art Zaghrouta[5] ihre Nachbar:innen vorwarnen, als das Sondereinsatzkommando Xatars Wohnung stürmen will. Denn jene, welche zusammen «am Block» wohnen, wissen bestens, dass es selten ein gutes Ende nimmt, wenn die Polizei kommt.
Als Fazit bleibt zu sagen, dass Xatar diese cineastische Hommage verdient hat. Genauso alle jene, für die er eine Strassenlegende, wenn nicht sogar eine Art Robin Hood ist. Letzteres Image festigt Xatar beispielsweise durch Spenden an Kinderheime in Kurdistan, weshalb er wohl trotz der ganzen Jahre des Leids und der Haft der Meinung sein dürfte, dass sich sein Weg gelohnt hat. Wer sich wirklich für Xatars Geschichte interessiert, sollte jedoch das Buch lesen. Denn im Film werden Schauplätze von England nach Holland und vom Irak nach Syrien verlegt, um nur zwei von vielen Anpassungen zu nennen, welche den Ansprüchen an ein marktkonformes Produkt fürs Kino zum Opfer gefallen sind. Wer Folterszenen nicht ansehen will, sollte ebenfalls besser Xatars Musik hören, statt ins Kino zu gehen.
Seine Eltern gaben ihm den Vornamen Giwar, was «im Leid geboren» bedeutet. Kurdistan und Iran leiden auch 2022 enorm. Umso beeindruckender ist der ungebrochene Widerstandswille der Menschen dort. Der Rapper Xatar ist politischer als so mancher sogenannte Polit-Rap. Dies zeigt sich unter anderem dadurch, dass sein offizielles Profilbild auf den sozialen Medien nicht ihn selbst zeigt, sondern die Kurdin Jina Amini, deren Ermordung die aktuelle feministische Revolution im Iran auslöste.
[1] Das «X» in Xatar wird ähnlich wie das deutschsprachige «Ch» ausgesprochen. Der Begriff bedeutet im Kurdischen soviel wie Gefahr oder gefährlich. Im kurdisch beeinflussten Slang kann man also z.B. Sätze wie «Das ist xatar» sagen, wenn man etwas besonders krass oder imposant findet.
[2] Es bleibt undeutlich, inwiefern sich der Film auf Wagners Oper «Das Rheingold» beziehen will – ausgerechnet Wagner, der Antisemit und Lieblingskomponist der Nazi-Propagandamaschinerie. Reicht es, dass in beiden Geschichten Gold als verschollen gilt und Xatars Eltern klassische Musiker:innen sind?
[3] Regisseur Fatih Akin bemerkt im bereits erwähnten Interview nämlich richtig, dass bei einem Jugendlichen aus der oberen Mittelschicht mit deutschsprachigem Nachnamen, welcher sich durch einen Kinofilm prügelt, niemand auf die Idee kommen würde zu monieren, es handle sich um ein schlechtes Vorbild. Schliesslich sind solche Szenen fester Bestandteil cineastischer Unterhaltung. Oder wer würde schon Bud Spencer für Gewaltexzesse kritisieren?
[4] Es war irritierend gleichzeitig auf der Leinwand zu beobachten, wie jemand, der bereits niedergestreckt wurde weiter dermassen getreten wurde, dass die Schlägerei ohne Weiteres eine Querschnittslähmung zur Folge haben könnte, und das Publikum dabei lachen zu hören.
[5] Eine Vokaltechnik, durch welche ein langer, hoher Klang mit schnell schwankender Tonhöhe von sich gegeben wird; häufig als Ausdruck der Freude.