Seit ein paar Jahren hört mensch vermehrt den Begriff «Kulturkampf» in den Medien. Als kulturinteressierte Person macht mich das hellhörig, denn es bedeutet, dass die Kultur vermehrt als Waffe in einem Kampf, ja sogar einem Krieg instrumentalisiert wird.
von Felicitas Kanne (BFS Basel)
Zuerst sollten wir mal klären, was ich mit Kultur meine, weil das ein diffuser Begriff ist. Die Schriftstellerin und Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal beschreibt Kultur derart, dass sie auf alles verweist, was das menschliche Dasein bedingt und ausmacht. Wenn ich von Kultur spreche, meine ich die Popkultur, akademische Traditionen, das historische Erbe, grosse und kleine kulturelle Institutionen, journalistische Berichterstattung, Meinungsproduktion, Alltagskultur und den Gebrauch von Sprache und Bildern. Es ist Kultur, wenn ich in die Bibliothek gehe, um mir ein Buch auszuleihen, aber es ist auch Kultur, wenn ich jeden Samstag ins städtische Schwimmbad gehe. Jetzt kann es sein, dass ich noch nie die Dienste der Stadtbibliothek in Anspruch genommen habe, trotzdem zahle ich meine Steuern, damit Menschen in die Bibliothek gehen können. Aus meiner Sicht ist es gerecht, dass diejenigen, denen ich mit einem Franken zu einem Buch aus der Bibliothek verhelfe, mir mit fünf Rappen ermöglichen, ins Schwimmbad zu gehen. Andere sind nicht dieser Meinung. Das ist der Moment, in dem ein Kulturkampf entsteht. Denen im Schwimmbad wird weis gemacht, dass die in der Bibliothek schuld daran sind, dass das Schwimmbad so heruntergekommen ist, während die in der Bibliothek anfangen zu glauben, dass die im Schwimmbad schuld an der Schliessung der Bibliothek seien. In dem Beispiel wird Kultur Schauplatz einer polarisierten und oberflächlichen politischen Auseinandersetzung. Kultur wird dann zu einem Austragungsort politischer Konfrontationen, wenn es um mehr geht als nur um politische Positionen; wenn es nämlich darüber hinaus auch darum geht, auf übergeordneter Ebene Themen zu setzen, sie in sachfremde Kontexte zu stellen und sprachlich neu zu rahmen. Oft geht dieser Kulturkampf mit Techniken der Umdeutung, der Umkehrung oder der Aneignung von Begriffen einher.
Theoretischer Rahmen
Der Kulturkampf der Rechten auf der ganzen Welt bereitet mir weitaus mehr als nur Bauchschmerzen, denn das Ziel dieses Kampfes ist nicht alleine, Feindbilder zu schaffen und Ressentiments zu bedienen, er richtet sich grundsätzlich gegen die Aufklärung, die Menschenrechte, die Demokratie und die universelle Idee der Gleichheit aller Menschen. Ihre Agenda möchte die Rechte mit einer kulturellen Hegemonie erzwingen. In den neunziger Jahren schaute die Nouvelle Droite den Begriff bei dem marxistischen Theoretiker Antonio Gramsci ab. Gramsci schrieb im Gefängnis während den Mussolini-Jahren seine Überlegungen zur kulturellen Hegemonie nieder. Er fragte sich, wie es den revolutionären Kräften ausgerechnet im landwirtschaftlich geprägten Russland gelungen war, so viel Zustimmung zu erhalten, dass diese Kräfte die Macht übernehmen konnten, während die sozialistische Revolution in den Industrieländern im Westen scheiterte. Grund des Erfolges sah Gramsci in der erlangten kulturellen Hegemonie der sozialistischen Gesellschaftskritik in Russland.
Nach Gramsci sollte die kulturelle Hegemonie von einer politischen, intellektuellen und moralischen Führung durch die Etablierung eines kollektiven Willens hergestellt werden. Damit eröffnete er die Möglichkeit, soziale Umwälzungen an eine demokratische Kultur zu binden. So sollten bei dem bereits verwendeten Beispiel führende politische und intellektuelle Personen einen demokratischen Diskurs zwischen den Schwimmbadgänger:innen und Bibliotheksmitgliedern fördern. Der Diskurs sollte zur Einsicht führen, dass die Förderung von Schwimmbad und Bibliothek sich nicht ausschliessen müssen.
Gramsci versteht unter kultureller Hegemonie gerade nicht Herrschaft durch nackte Staatsgewalt, sondern verweist auf die Hegemonie im «ideologischen Staatsapparat/Zivilgesellschaft». Die Rechte instrumentalisiert die kulturelle Hegemonie, weil sie die Voraussetzung für die Abschaffung der verhassten Demokratie durch eine sogenannte «Konservative Revolution» schaffen soll. Und anders als bei Gramsci soll diese kulturelle Hegemonie nicht Moral und Bewusstsein fördern, sondern umgekehrt immer weitere Bereiche des kulturellen Lebens mit einer Mischung aus Nationalismus, Sexismus, Anti-Intellektualität und Rassismus füllen. Es werden nicht radikale Ideen verbreitet, sondern Ansichten und Ressentiments aus der Mitte der Gesellschaft bedient und radikalisiert.
Ein anschauliches Beispiel ist das Thema Migration. Ich gerate mit meinen Eltern immer wieder in Diskussionen zum Thema. Ich würde nicht behaupten, dass meine Eltern menschenverachtende Nazis sind, dennoch ist der Diskurs schon so weit nach rechts normalisiert worden, dass es für sie und weite Teile der Gesellschaft akzeptabel ist, Abschiebungen zu legitimieren und Migrant:innen als gewalttätig und frauenverachtend zu bezeichnen. Vor ein paar Jahren war das noch anders, aber seitdem auch progressive Parteien wie die SP behaupten, dass es zu viele Migrant:innen gäbe, hat sich der Diskurs massiv nach rechts verschoben. Der spezifische Begriff Remigration hat in dieser Diskussion die letzten Jahre grosses Aufsehen erregt. Remigration ist ein Kampfbegriff der Neuen Rechten und steht für die Vertreibung und Deportation von Migrant:innen. Das zeigt gut, wie erfolgreich die Rechte darin ist, Themen und Begriffe im Diskurs zu setzen. Wenn sie das erst gemacht haben, können sie ein passendes Narrativ entwickeln, ständig aktualisieren und fortschreiben.
Der Begriff Remigration wird nach meiner Prognose in ein paar Jahren, oder vielleicht schon früher, in der Gesellschaft normalisiert worden sein, wenn wir uns jetzt nicht wehren. An dieser Stelle sieht man auch gut, dass Politikverdrossenheit, Ignoranz, Bequemlichkeit und Passivität in der Gesellschaft die perfekte Grundlage für den rechten Kulturkampf sind.
Umdeutung & Opfer-Täter-Umkehr
Bei der Umdeutung und Vereinnahmung geht es der Rechten selbst erklärt um die «Entideologisierung» des Kunst- und Kulturbetriebs und der Bildung. Dabei wird klar, dass die Rechte die Kultur nicht als pluralistisch, dialogisch und im Prozess befindend ansieht. Die Idee, dass Kultur nur im Plural existiert und zuallererst in der sozialen Auseinandersetzung und durch Widersprüche entsteht, wird abgelehnt. Stattdessen wird eine geschlossene, nationale oder regionale und vermeintlich organische, aus Tradition gewachsene und an sich konfliktfreie Kultur propagiert. Dieses Kulturverständnis kann mensch als eine Nationalisierung und Naturalisierung des Kulturellen verstehen. Die Kultur vor diesen Vorstellungen zu schützen, wird so letztlich zu einer Überlebensfrage. Unter dem Strich geht es der Rechten nicht wirklich um Kultur, sondern um eine Strategie der Politisierung, Renationalisierung und Instrumentalisierung von Bildungs-, Kunst-, Kultur- und Geschichtspolitik. In der Arte Doku «Elizabethtown – Kulturkampf im Herzen der USA» wird dieser Strategie nachgegangen. Die Rechte in den USA will die Freiheiten der Menschen einschränken, die nicht der heterosexuellen, männlichen, weissen Mehrheit angehören. Unter anderem geht es spezifisch um die Verbannung von Büchern aus öffentlichen Bibliotheken, wenn der Inhalt eines Buches nicht ins konservative Weltbild passt. Das ist der Fall, wenn die Bücher von People of Color, Rassismus, von queeren Menschen oder sexuellen Begehren handeln. Eine Szene aus der Doku ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Der Journalist, Autor und Berater Alex Newman behauptet zuerst, dass Hitler Kommunist gewesen sei, aber doch etwas richtig gemacht habe: Er habe die Wichtigkeit der Jugend für die Zukunft des Dritten Reichs verstanden. Tatsächlich liess Hitler zuerst die Kinder von den Eltern trennen und die Kinder dann davon überzeugen, dass die Gemeinschaft wichtiger sei und sich mehr um sie kümmern würde als ihre Eltern. Laut Newman haben das Joe Biden und die Demokrat:innen ebenso gemacht. Die Kinder seien von den Eltern getrennt und mit liberalen und antichristlichen Ideen indoktriniert worden. In den öffentlichen Schulen lernen die Kinder dementsprechend, dass «der Mensch vom Affen abstammt, die Welt wegen SUVs heisser wird und dass es unzählige Geschlechter gibt.» Dies wird von Newman als unwissenschaftlich und politische Agenda umgedeutet. Davon will die evangelikale Rechte in den USA die Kinder befreien und wieder einen neutralen Schulplan ermöglichen. Sprich, sie wollen die öffentlichen Schulen «entideologisieren», in dem sie ihre ideologische Idee einer geschlossenen, konfliktfreien, nationalen und aus Tradition gewachsenen Kultur den Kindern aufzwingen. Ist das nicht widersprüchlich? Unter dem Vorwand von Schutz und Freiheit wird Kindern ebendiese Freiheit genommen, in Büchern neue Welten zu erkunden – das ist für mich so absurd. Mit diesem Beispiel ist es glasklar, dass die Rechte in den USA die Bildungspolitik der Demokrat:innen zu ihren Gunsten umdeutet und mit ihrer Agenda vereinnahmt.
Eine weitere Taktik ist die Opfer-Täter-Umkehr. Das Prinzip ist selbsterklärend: Das eigentliche Opfer wird zum Täter inszeniert und gemacht. Der Diskurs wird einfach umgedreht. Zum Beispiel gab 1977 der Richter Archie Simonson (Wisconsin, USA) in einem berüchtigten Gerichtsurteil Frauen die Schuld an ihrer Vergewaltigung und machte überdies die liberalen Medien für den sittlichen Verfall verantwortlich. Diese Opfer-Täter-Umkehr ist nichts Neues und hat immer noch Halt in der heutigen Gesellschaft. In Narrativen wie «Sie wollte es doch, weil sie hatte einen kurzen Rock an» schwingt der gleiche Frauenhass wie schon 1977 mit. Sicherlich kann jeder Mensch ohne Mühe ein paar Beispiele aus dem persönlichen Erleben finden.
Was nun?
Als ich mich zum Thema Kulturkampf informierte, habe ich über die Frage nachgedacht, was wir als antikapitalistische Linke dem rechten Kulturkampf entgegensetzen können. Die Aussicht ist ziemlich düster, denn der Kulturkampf der Rechten reicht tief in den Alltag der Gesellschaft und spart so gut wie keinen Lebensbereich aus. Auf einmal ist gar nicht mehr die Rede von Kapitalismus; dessen Überwindung rückt in den Hintergrund auf Kosten der zugespitzten Wahl zwischen Demokratie und Diktatur. Die Journalistin und Juristin Özge Inan stellte fest, dass «von aussen rechts eine zutreffende Analyse stattfindet, wer ökonomisch zurückbleibt im Neoliberalismus und dann völlig falsche und verlogene Lösungen angeboten werden.» Die Rechte tischt also Lügen auf und ignoriert – mensch kann fast sagen, lenkt – von den eigentlichen Bedürfnissen der Bevölkerung ab. Ich deute den rechten Kulturkampf als ein strategisches Ablenkungsmanöver, das die eigene Konzeptlosigkeit verschleiern soll. Das ist der Grund, warum wir umso genauer hinschauen, hinhören und analysieren müssen. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass die Auseinandersetzung mit dem rechten Kulturkampf unabdingbar ist.
Da sich der rechte Kulturkampf auf alle Bereiche der Gesellschaft bezieht, ist die Ignoranz und Herablassung der Linken für alles, was nicht Politik und Theorie ist, fatal. Häufig ist Kulturanalyse und Kulturkritik in der Linken ein Randphänomen. Zuerst kommen die Theorie und die politische Praxis und Kultur kommt danach als reine Unterhaltung. Es gibt natürlich Ausnahmen wie die jährlichen Roten Kulturtage in Zürich.
Ich appelliere aber nicht für einen Kulturkampf à la rechts, denn die Gesellschaft soll eine angemessene Politik hervorbringen und nicht, wie beim Faschismus, die Politik eine ihr angemessene Gesellschaft. Hier komme ich wieder mit der Idee der kulturellen Hegemonie von Gramsci. Wir müssen mit konkreten Ideen und ausgearbeiteten Alternativen eine kulturelle Hegemonie erreichen und einen kollektiven Willen, Moral und Bewusstsein stärken. Arbeitskämpfe wie «Wir fahren zusammen» und Initiativen wie «Deutsche Wohnen & Co Enteignen» sind Lichtblicke in einer sonst so alternativlos erscheinenden Welt, weil sie an den Lebensrealitäten der Menschen ansetzen.
Wir müssen den Schwimmbadgänger:innen und den Bibliotheksmitgliedern die Perspektive bieten, dass die Förderung des Schwimmbads nicht die der Bibliothek einschränken muss und es gar keine «Schuldigen» braucht. Sondern, dass es an einem systemischen Widerspruch im Neoliberalismus liegt: dem ständigen Streben nach Profit auf Kosten der Bedürfnisse der Menschen.
Literaturverweise
taz.de/Kulturkampf-als-rechtes-Framing/!5941908/
deutschlandfunk.de/der-angriff-der-rechten-auf-die-demokratie-100.html
mbr-berlin.de/wp-content/uploads/2021/02/190313_mbr_Broschuere_Kulturkampf_Auflage2_Online.pdf
deutschlandfunkkultur.de/kulturkampf-cancel-culture-anti-woke-usa-100.html
deutschlandfunk.de/usa-kulturkampf-maga-100.html
youtube.com/watch?v=KeU-Z1_zZTs
arte.tv/de/videos/116023-000-A/elizabethtown-kulturkampf-im-herzen-der-usa/