Der Ausdruck „tipping point“ (Umschlagpunkt oder Umkipp-Punkt) bezeichnet den Punkt, wo ein System von einem Zustand des Gleichgewichts in ein anderes „kippt“, den Moment also, ab dem es nicht mehr möglich ist zu verhindern, dass aufgehäufte quantitative Änderungen in eine neue Qualität umschlagen. Der Begriff wird in unterschiedlichsten Bereichen verwendet, von Bevölkerungsstudien über die Sozialwissenschaften bis zum Klimawandel. In Australien erleben wir zur Zeit einen solchen „tipping point“.
von Daniel Tanuro; aus contretemps
Die Erde im Schwitzkasten
Die Entwicklung der Eiskappe Grönlands liefert ein wichtiges Beispiel für einen tipping point im Bereich des Klimas. Wenn die gesamte Eisdecke auf der Insel schmilzt, wird der Meeresspiegel um ungefähr sieben Meter steigen, das weiss man. Spezialist*innen haben festgestellt, dass sich die Eis- schmelze in beunruhigender Weise beschleunigt, aber die Eiskappe scheint noch nicht in einen Prozess irreversibler Auflösung eingetreten zu sein. Laut dem von der UNEP und der Weltorganisation für Meteorologie eingesetzten IPCC („Weltklimarat“) liegt der tipping point für den Planeten bei einer Erwärmung zwischen 1,5 und 2 Grad Celsius. Beim aktuellen Rhythmus der Emissionen würden wir in diese gefährliche Zone um 2040 eintreten.
Jüngst haben Wissenschaftler*innen auf die Tatsache hingewiesen, dass tipping points durch die Ein- wirkung positiver Rückkopplungen miteinander verkettet sein können (die Auswirkungen der Erwärmung verstärken ihrerseits die Erwärmung). Ihren Untersuchungen zufolge würde das Verschwinden der Eiskappe Grönlands solche Mengen Süsswasser ins Meer freisetzen, dass die ozeanischen Ströme im Atlantik (wie der Golfstrom) gestört würden. Da manche dieser Ströme das Klima im Amazonas- becken bestimmen, würde der Wald in dieser Region rasch einer Savanne weichen. Diese Veränderung wäre ein zweiter tipping point.
Eine Savanne absorbiert viel weniger CO2 als ein Wald. Daraus würde eine weitere Verstärkung der Erwärmung resultieren, also ein dritter tipping point. Laut den Forscher*innen könnte dies zum „kalben“ zweier gigantischer Eisbergmassive der Antarktis führen, Thwaites an der West- und Totten an der Ostküste. Man weiss, dass sie sehr geschwächt sind (nach Meinung einiger Forscher hat Thwaites bereits den point of no return erreicht). Man weiss auch, dass ihr Verschwinden den Meeresspiegel um etwa sieben Meter anheben würde – ebenso viel wie das Verschwinden der grönländischen Eiskappe.
Sieben Meter plus sieben Meter, da sind wir schon nach drei tipping points bei einem Anstieg des Meeresniveaus von vierzehn Metern.
Der Dominoeffekt
Und das ist nicht alles. Die Permafrostschmelze, die qualitative Intensivierung des El-Niño-Phäno- mens, das Schmelzen antarktischer Eiskappen usw. – mehrere tipping points könnten aufeinanderfolgen. Was würde dann geschehen? Dann könnte dieses kleine Dominospiel die Erde sehr schnell in den Schwitzkasten nehmen und eine durchschnittliche Oberflächentemperatur produzieren, die um 4 bis 5 Grad Celsius höher ist als derzeit.
Unser Planet hat solche Verhältnisse seit 1,4 Millionen Jahren (noch vor Auftauchen des homo sapiens) nicht mehr gekannt. Damals war der Meeresspiegel um 20 bis 30 Meter höher als heute.
Der Ausdruck „schwitzender Planet“ klingt ein wenig wie Sciencefiction, aber die wissenschaftliche Gemeinschaft nimmt dieses Szenario sehr ernst, da die positiven Rückkopplungen die tipping points miteinander verketten. Der Prozess würde ziemlich schnell zu einer ausserordentlich anderen Welt führen als die, die wir kennen und die unsere Ahnen gekannt haben. Eine Welt, die ganz gewiss im Hinblick auf ihren biologischen Reichtum sehr viel ärmer wäre. Der homo sapiens wird darin vielleicht überleben, aber zwei Dinge sind sicher: 1. Es wird kein Platz mehr sein für 7 bis 8 Milliarden Menschen; 2. die Ärmsten werden die Rechnung bezahlen, während sie am wenigsten für die Umwelt- zerstörung verantwortlich sind.
Brandbeschleuniger Australien
In welchem Verhältnis steht dies alles zu den Megafeuern, die Australien verschlingen? Das ist ganz einfach: Einerseits besteht kein Zweifel, dass diese Katastrophe ein Resultat des Klimawandels ist – schon 1986 haben australische Spezialist*innen vor der Gefahr gewarnt, doch vergebens; was heute geschieht, entspricht leider ihren Voraussagen. Andererseits ist es wahrscheinlich, dass diese schrecklichen Brände selbst einen tipping point darstellen – als Brandbeschleuniger der globalen Umweltkrise wirken.
Auf der Ebene der Biodiversität ist die Frage bereits entschieden: Über eine Milliarde Tiere sind in den Flammen umgekommen; die Davongekommenen werden nur sehr schwer in den drastisch veränderten Lebensräumen überleben, die Brände haben schon jetzt viele Pflanzen- und Tierarten ausgelöscht, und manche einzigartigen Ökosysteme (wie die Reste des Primärwalds, der vor 2,5 Milliarden Jahren Gondwana bedeckte) sind unwiederbringlich verloren. Das entspricht genau der Definition eines tipping point.
Auf der Ebene des Klimas ist die Frage komplexer, denn manche Phänomene spielen in eine entgegengesetzte Richtung, wie wir sehen werden.
Zuvor gilt es jedoch, nicht aus dem Auge zu verlieren, dass das Verbrennen fossiler Brennstoffe der Hauptgrund für die Klimakatastrophe ist und bleibt. Die durch die Brände in Australien verursachten CO2-Emissionen werden für den Zeitraum vom 1. Januar bis 30. November 2019 auf 6,73 Gigatonnen geschätzt. Zum Vergleich: Die CO2-Emissionen durch Verbrennung fossiler Brennstoffe betrugen im Jahr 2018 37,1 Gigatonnen (2010: 33,1 Gigatonnen).
Die vom Feuer verursachten Emissionen sind jedoch nicht zu vernachlässigen. Sie übertreffen z. B. die Emissionen, die in den USA durch die Verbrennung fossiler Brennstoffe jährlich entstehen – über 5 Gigatonnen CO2. Da das Klimasystem sich dem grönländischen tipping point nähert, ist es kein Detail, dass die australischen Megafeuer den Spielraum reduzieren, der uns vom oben beschriebenen Dominoeffekt trennt.
Die Brände setzen grosse Mengen an CO2, Russ und Aerosolen in der Atmosphäre frei. In grosser Höhe in die Atmosphäre abgegeben, haben diese verschiedenen Bestandteile nicht alle denselben Effekt auf das Klima: Das CO2 und der Russ tragen zur Erwärmung bei, während die Aerosole eine kühlende Wirkung haben, denn sie reflektieren die Sonnenstrahlung (dasselbe geschieht bei Vulkanausbrüchen). Der Rauch hat ebenfalls eine erwärmende Wirkung. Russ und Aerosole hingegen fallen auf die Erde, manchmal in grosser Entfernung von Australien. Jüngst hat man bräunliche Russvorkommen auf neuseeländischen Gletschern gefunden – und er soll sogar bis zur Antarktis gelangen. Schnee und Eis, die derart verschmutzt sind, haben ein geringeres Reflexionsvermögen, sodass sich ihr Abschmelzen beschleunigt.
Und der Wald?
Eine grössere Unbekannte ist die Auswirkung der Katastrophe auf das mittelfristige Überleben der Wälder. In Australien gibt es jedes Jahr Waldbrände. Bislang haben die Wälder widerstanden und sich regeneriert. Eukalyptusbäume sind besonders widerstandsfähig gegenüber Feuer. Aber einerseits sind die aktuellen Brände beispiellos, andererseits besteht die Gefahr, dass die Erhitzung und Austrocknung die Regeneration erschwert und sogar unmöglich macht. Ein reifer Wald kann lange dem Stress grosser Trockenheit widerstehen, aber das Wachstum und Überleben junger Pflanzen auf nacktem Boden in einer trockeneren Umgebung, aus der die Wälder verschwunden sind und Brände deshalb wahrscheinlicher werden, ist sehr schwierig. Australien befindet sich in einem mehrjährigen Trockenheitszyklus. Deshalb fürchten Spezialist*innen, dass ein grosser Teil des Waldes sich nicht erholen wird und von Sträuchern und Büschen ersetzt werden wird, die weniger CO2 enthalten.
Die Optimist*innen werden sagen, dass Australien vor allem sandige, kalk-, sandstein- und tonhaltige Böden aufweist, die eher hell sind und einen grösseren Teil der Sonnenstrahlung reflektieren, wenn dort Gestrüpp wächst, als wenn sie von Wäldern bedeckt sind. Ein Laubwald bildet tatsächlich eine dunkle Masse, die nur 15 bis 20 Prozent der Sonnenstrahlung reflektiert – ungefähr zweimal weniger als ein heller Boden. Aber es ist zweifelhaft, dass dieser Abkühlungseffekt aufgrund eines grösseren Reflexionsvermögens die Erwärmung infolge des Ausstosses von CO2 in die Atmosphäre durch die Zerstörung von Millionen Hektar Wald kompensieren wird.
Übersetzt und stark gekürzt von Angela Klein.