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Der neue Aktionsplan des Klimastreiks

Der Klimastreik Schweiz hat sich die aktivistische Zwangspause zunutze gemacht und einen umfassenden Aktionsplan gegen die Klimakatastrophe ausgearbeitet. Auf 383 Seiten werden 138 Massnahmen vorgestellt, unterteilt in zwölf Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Ein beeindruckendes Netzwerk aus Wissenschaftler:innen und Aktivist:innen hat dieses Grundlagendokument für einen effektiven und solidarischen Kampf gegen die Klimakrise gemeinsam erarbeitet – Gründe genug, sich den Aktionsplan genauer anzusehen.

von Emil Spotter (BFS Zürich)

Ein fundiertes Dokument

«Ähms» und «ehms» kann man dem Klimastreik spätestens jetzt nicht mehr vorwerfen. Der kürzlich veröffentlichte Klima-Aktionsplan nimmt zu allen gesellschaftlichen Bereichen Stellung, die unweigerlich mit der Klimakrise verstrickt sind. Er liefert jeweils Lösungsvorschläge, wie die Schweiz bis 2030 auf netto Null Treibhausgasemissionen kommen könnte. Industrie, Mobilität, Landwirtschaft und Gebäudetechnik gehören offensichtlich dazu, aber auch der Finanzsektor, die Bildung und die internationale Zusammenarbeit werden behandelt – Bereiche, die von vielen politischen Parteien lieber aussen vorgelassen werden.

Ausgearbeitet haben den Plan über 60 Expert:innen, die in verschiedenen Arbeitsgruppen bereichsspezifische Forderungen formulieren. Forscher:innen von diversen schweizerischen Universitäten und Hochschulen haben zusammen mit Vertreter:innen von Organisationen wie dem WWF, Denknetz und Alliance Sud wissenschaftliche Erkenntnisse auf den Punkt gebracht und daraus ihre Policy-Empfehlungen abgeleitet. Entstanden ist dabei ein Dokument, das nicht nur gut verständlich die aktuelle Situation aufschlüsselt, sondern auch anhand zahlreicher konkreter Massnahmen das grosse Ziel von netto Null Treibhausgasemissionen bis 2030 zu erreichen versucht.


Für welche Gesellschaft kämpfen wir?

Die drastische Reduktion der Treibhausgase ist das augenfälligste Ziel dieser Massnahmen. Liest man die einzelnen Kapitel genauer, so weiss man auch, dass wir uns eine Schweiz vorstellen dürfen, die beispielsweise eine Arbeitswoche von 24 Stunden (Massnahme 9.3), saubere Luft (S. 14), autofreie Städte (Massnahme 2.4), wirtschaftlichen Handel ohne fossile Brennstoffe (Massnahme 4.3) und Kostenwahrheit im Hinblick auf den ökologischen Fussabdruck von Produkten (Massnahme 1.2) geniesst. Zusammen genommen hätte die Schweiz mit den erfolgreich umgesetzten 138 Massnahmen ihren Beitrag geleistet, um die schlimmsten Auswirkungen der Klimakrise abzuwenden – unsere Gesellschaft wäre eine fundamental andere.

Doch der Klima-Aktionsplan macht nicht wirklich klar, wie genau eine solche nachhaltige und gerechte Gesellschaft aufgebaut wäre und wie sichergestellt werden würde, dass sich derselbe oder ein ähnlicher Schlamassel der weitreichenden Zerstörung unserer Lebensgrundlagen nicht nochmal ereignet. Wenig zu spüren ist also von der Vision einer alternativen Gesellschaftsordnung, die die 138 Massnahmen verbindet.

Nun ist es klar, dass kein pfannenfertiges politisches Programm entsteht, wenn über 60 Personen mit unterschiedlichen Hintergründen und politischen Vorstellungen gemeinsam einen Forderungskatalog erarbeiten. Einige zögerliche Andeutungen zur angestrebten Gesellschaftsordnung finden sich im Text dennoch. Eine grüne und demokratisierte Wirtschaftsweise wird im Aktionsplan folgendermassen konzipiert:

«Um ein starkes Fundament für eine nicht-wachstumsbasierte Gesellschaft zu legen, müssen Unternehmen, die von Aktionär:innen bestimmt werden, in demokratisch geführte Genossenschaften und Kooperativen umgestaltet werden. In diesen neuen Organisationsstrukturen liegt die Kontrolle bei den Arbeitenden, Lieferant:innen, Kund:innen und allen anderen, die von der Geschäftstätigkeit des Unternehmens betroffen sind, wie z.B. Menschen im globalen Süden.» (Aktionsplan, S. 29)

Diese Passage identifiziert zwei Probleme: einerseits das Wachstum, andererseits die von Aktionär:innen kontrollierten Unternehmen. Es gäbe eine Wirtschaftsform, die diese beiden Probleme frontal angeht und diesbezüglich historisch am wichtigsten und theoretisch am meisten entwickelt ist: der Sozialismus. Doch dieser bleibt leider unerwähnt.

Stattdessen wird in der Massnahme 9.8 des Klima-Aktionsplan die Eigentumsstruktur einer solchen nicht-wachstumsbasierten Gesellschaft weiter ausgeführt:


«Privateigentum darf nur soweit verwendet werden, wie es der Allgemeinheit keinen Schaden zufügt, insbesondere was die Umweltzerstörung betrifft. Privateigentum von gesellschaftlicher Relevanz muss der Allgemeinheit zugänglich gemacht werden, falls dies aus einer übergeordneten Perspektive notwendig ist.»

(Aktionsplan, S. 47)

Diese Einschätzung überzeugt: Privater Besitz von Produktionsmitteln, also von Maschinen, Infrastruktur und Immobilien, die für die Herstellung von Waren und Dienstleistungen benötigt werden, stehen den Interessen der Allgemeinheit entgegen. Denn dieses Privateigentum kann über wichtige Teile der Wirtschaft verfügen, die längst zugunsten der nachhaltigen Lebensgrundlagen aller hätten umgestaltet werden müssen. Folgerichtig ist privates Eigentum an Produktionsmitteln undemokratisch und verhindert eine kollektive Selbstbestimmung, besonders diejenige, die eine ökologische und soziale Zukunft anstrebt.

Gleichzeitig hätten diese so wichtigen Punkte genauer ausformuliert werden können. Im ersten Zitat steht, dass alle Unternehmen in privaten Händen in kollektive Selbstbestimmung überführt werden müssen. In der zweiten Passage hingegen sollte sich die Allgemeinheit nur jene Form von Privateigentum aneignen, das a) von gesellschaftlicher Relevanz ist und wenn dies b) aus einer übergeordneten Perspektive notwendig ist. Wir sind der festen Überzeugung, dass jede Form von Privateigentum an Produktionsmitteln illegitim ist und in eine demokratische Kontrolle durch die Beschäftigten sowie weiterer betroffener Personengruppen überführt werden muss. Damit meinen wir ganz konkret die private Kontrolle von Unternehmen, die für die Gesellschaft (oder Teile davon) produzieren und nicht den legitimen Besitz persönlicher Gegenstände wie einem Velo, Kleider oder einer Wohnungsausstattung. Gleichwohl ist klar, dass die gesellschaftliche Aneignung von Privateigentum irgendwo anfangen muss und da ist offensichtlich, dass bei in fossile Energie verstrickte Unternehmen die grösste Dringlichkeit angezeigt ist.

Die herrschenden Verhältnisse werden nicht untersucht

Der Klima-Aktionsplan beschreibt völlig richtig, dass ein grünes Wachstum nicht möglich ist und dass Privateigentum einer ökologischen und gerechten Gesellschaft im Wege steht. Problematisch ist dabei aber, dass die jetzigen herrschenden Verhältnisse nicht weiter untersucht werden. Denn es sind diese Verhältnisse, die jede griffige Klimaschutzpolitik konsequent verhindert haben. Es werden zwar einige Aspekte genannt (bspw. Kapital, das in fossile Energien investiert wird), aber nicht genauer beleuchtet.

Darin liegt die entscheidende Schwäche des Klima-Aktionsplans: Der Kapitalismus und seine Herrschafts- und Eigentumsstrukturen werden nicht als Hindernisse verstanden, die einer griffigen Klimapolitik direkt im Weg stehen. Eine effektive Klimapolitik zeichnet sich darin aus, dass sie die Hindernisse erstmals identifiziert, um anschliessend an deren Überwindung arbeiten zu können. Ökosozialistische Analysen, die genau dies anstreben, haben wir mehrfach auf unserer Homepage veröffentlicht; Daniel Tanuro beispielsweise hat hierzu eine gute Einführung verfasst.


Damit soll keineswegs gesagt sein, dass es nicht fundamental wichtig ist, wissenschaftliche Erkenntnisse zum Zweck von netto Null Treibhausgasemissionen bis 2030 zusammenzustellen. Der Klimastreik hat mit dem Aktionsplan ein Grundlagendokument auf den Tisch gelegt, das aus einem Zusammenschluss von zahlreichen Forscher:innen und Vertreter:innen der Zivilgesellschaft resultierte, wie das auch eine viel finanzkräftigere Partei wie die Grünen zeit ihrer Existenz offensichtlich nie geschafft hat.

Fehlende Strategie zur Mobilisierung

Der Klima-Aktionsplan ordnet zwölf gesellschaftliche Bereiche kurz in ihre Verstrickungen mit der Klimakrise ein, woraus die einzelnen Massnahmen verständlich folgen. Fundamental wichtig wäre es gewesen, im Anschluss darzulegen, wie wir aus dem jetzigen desolaten Zustand mit all seinen Hindernissen zur anvisierten ökosozialen Zukunft gelangen. Dafür braucht es eine Strategie, die die Umsetzung der 138 Einzelziele nicht nur motiviert, sondern überhaupt erst möglich macht.

So ist es schade zu sehen, dass die Bemühungen rund um den Strike for Future keinen Eingang in den Klima-Aktionsplan gefunden haben. Dieser Aktions- und Streiktag wird am 21. Mai 2021 stattfinden und Lohnabhängige aus verschiedensten Branchen im Kampf für netto Null Treibhausgasemissionen und Klimagerechtigkeit zusammenbringen. Im Rahmen dieses Projekts wurden bereits zahlreiche Kontakte mit unterschiedlichen Gewerkschaften geknüpft, was einen wichtigen Teil einer solchen Strategie darstellt, die die ganze Bevölkerung im Kampf gegen die Klimakrise zu mobilisieren versucht.

Weil die Differenz zwischen der jetzigen Situation und der erhofften nachhaltigen Gesellschaftsordnung so gross ist, muss unsere Strategie zwangsläufig aktivistisch und kämpferisch bleiben – ob es uns gefällt oder nicht. Der Klimastreik hat diesbezüglich bereits viele Erfahrungen gemacht; er war von Beginn an auf der Strasse und hat starke Forderungen formuliert. Es ist deshalb enttäuschend zu lesen, dass die Erfahrungen mit Gewerkschaften, der Austausch mit anderen politischen Bewegungen wie dem Frauen*streik, aber auch die Repressionen durch die Polizei nicht in einem politischen Programm münden, das die Strategie für zukünftige Interventionen der Klimabewegung benennt.

Anstoss einer eingeschlafenen Debatte

Der Klimastreik sieht seinen Aktionsplan nicht als Anleitung, die man nun Schritt für Schritt befolgen sollte, um das Ziel einer klimaneutralen und gerechten Welt zu erreichen. Das muss er auch keineswegs. Denn das Dokument wird explizit als Intervention in die gegenwärtig wieder eingeschlafene Diskussion rund um die Erreichung der Klimaziele verstanden. Das ist es, was in erster Linie unheimlich wichtig ist. Doch die Abwesenheit einer explizit aktivistischen und kämpferischen Strategie im Papier schmerzt, ebenso das Fehlen einer deutlicher ausformulierten Vision alternativen Zusammenlebens. Denn diese wären es, welche den Zündstoff für unseren zukünftigen Widerstand gegen die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen geben könnten. Diese wären es auch, die den 138 Massnahmen die nötige Kraft zur Durchsetzung verleihen könnten. Und diese wären es, die trotz Corona-Pandemie mehr Leute für den Kampf für Klimaneutralität und Klimagerechtigkeit mobilisieren könnten, als dies noch 2019 der Fall war.

Lieber Klimastreik, wir nehmen den Ball zur vertieften Diskussion eures Aktionsplans gerne auf. Damit unsere hoffentlich konstruktive Kritik etwas greifbarer wird, weisen wir auf die Abschlusserklärung der ökosozialistischen Konferenz hin, die wir im Juni 2020, gemeinsam mit zahlreichen Aktivist:innen in verschiedensten Zusammenhängen rund um den Erdball, verfasst haben. Diese thematisiert die Hindernisse der herrschenden Verhältnisse und skizziert Massnahmen zur deren Überwindung.

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