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Hochwasser in Europa: Das ist keine Naturkatastrophe

Die Flutkatastrophe ist keine aussergewöhnliche Laune der Natur, sondern die realexistierende Konsequenz der kapitalistischen Zerstörung der Umwelt. Das Hochwasser zeigt auf tragische Weise, dass die Klimakatastrophe nicht erst 2050 bekämpft werden muss, sondern sofort. Die europäischen Regierungen machen allerdinge keine Anstalten, dies zu tun – im Gegenteil, sie sind Teil des Problems. (Red.)

von Daniel Tanuro; aus sozonline.de

Die schrecklichen Überschwemmungen in Belgien, Teilen von Deutschland und den Niederlanden haben bis jetzt mehr als 200 Menschen getötet. Zehntausende haben ihr Heim, haben alles verloren und werden für immer traumatisiert bleiben. Andere hatten leider nicht einmal so viel „Glück“ – die große Zahl der Vermissten (1300 in Deutschland) lässt keinen Zweifel daran, dass die endgültigen Zahlen viel, viel höher sein werden. Der materielle Schaden ist immens, ganz zu schweigen von den Auswirkungen in Bezug auf die Verschmutzung von Wasser und Boden (durch Kohlenwasserstoffe, Schwermetalle, PCB, Kunststoffe, Abwässer usw.).

So sieht Klimawandel aus

Es ist fast sicher, dass diese Katastrophe ein Ausdruck des Klimawandels ist, der durch Treibhausgasemissionen (hauptsächlich durch die Verbrennung fossiler Brennstoffe) verursacht wird. Wenn es sich um einen Einzelfall handeln würde, könnte man daran zweifeln. Aber es ist kein Einzelereignis, ganz im Gegenteil.

Erstens folgt dieser außergewöhnliche Niederschlag auf zwei Jahre mit ebenso außergewöhnlichen Hitzewellen und Trockenheit (zur Erinnerung: die Hitzewelle von 2020 verursachte in Belgien 1400 Todesfälle…).

Zweitens fällt die Sintflut in Westeuropa mit einer tödlichen und noch nie dagewesenen Hitzewelle in Kanada (British Columbia) zusammen, und auch das ist kein Zufall: Sehr wahrscheinlich hängen beide Phänomene miteinander zusammen und resultieren aus der Störung des zirkumpolaren Jetstreams (das sind starke Winde, die in großer Höhe um den Pol kreisen).

Drittens nehmen extreme Wetterphänomene (heftigere Stürme und Wirbelstürme, intensivere Hitze- und Kältewellen, noch nie dagewesene Dürren und Brände, Regen, Überschwemmungen und Schlammlawinen usw.) unbestreitbar zu. Das entspricht genau den Folgen der globalen Erwärmung, wie sie vom Weltklimarat (IPCC) in seinem ersten Bericht prognostiziert wurden… vor mehr als dreißig Jahren.

Regierungen ignorierten Wetterwarnungen

Die Wetterdienste der betroffenen Länder hatten das Vorhandensein eines „Kältetropfens“ über unseren Regionen diagnostiziert – das ist ein isoliertes und stabiles Tiefdrucksystem, das mit einer kalten Luftmasse verbunden ist. Dieses Phänomen ist dafür bekannt, dass es starke Regenfälle verursacht, die mehrere Tage andauern können, da das Tief stationär ist. In diesem Fall war die Bedrohung umso ernster, weil der „kalte Tropfen“ von riesigen warmen Luftmassen umgeben war, die große Mengen Wasserdampf mit sich trugen. Da dieser Wasserdampf das Tief umkreiste, musste er kondensieren und als Regen fallen.

Ohne es explizit zu sagen, beschreiben die Regierungen die Katastrophe als „naturgegeben“, obwohl sie es nicht ist.

Die Meteorologen und Hydrologen hatten gewarnt: Ein außergewöhnliches Ereignis stand bevor. Die zwei-drei Tage vor Beginn der Flut hätten genutzt werden können, um sich auf die drohende Gefahr einzustellen, Notfallmaßnahmen zu ergreifen, den Katastrophenschutz und die Armee zu mobilisieren, die Bevölkerung zu warnen und die am meisten bedrohten Häuser zu evakuieren. Das hätte die Überschwemmungen zwar nicht verhindert, aber die Schäden wären begrenzt und vor allem menschliche Verluste vermieden worden. Kubas Erfahrung mit Wirbelstürmen bestätigt das: Prävention macht den Unterschied. Aber hier wurde nichts getan. Wieder einmal (wie bei Covid-19!) wurden Warnungen ignoriert.

Die Gründe sind immer dieselben: Die Regierungen haben die Nase voll von der Wissenschaft, ihre Priorität ist die „Wettbewerbsfähigkeit“ der Unternehmen. Sie weigern sich, sich dauerhaft auf die Tatsache einzustellen, dass die Menschheit in eine Klimakatastrophe hineingeraten ist.

Strukturelle Faktoren kommen erschwerend hinzu

Zusätzlich zu diesem Mangel an Vorbereitung wurde das Ausmaß der Überschwemmungen und ihrer Folgen aber noch durch zahlreiche verschiedene, strukturelle Faktoren vervielfacht. Erwähnt seien hier: die Haushaltskürzungen (insbesondere beim Zivilschutz und bei der Feuerwehr); die Versiegelung der Böden (die das Versickern von Wasser verhindert); die Begradigung von Bächen und die Trockenlegung von Feuchtgebieten (die sonst wie ein Schwamm wirken); die Zersiedelung der Landschaft; das Management von Regenwasser (das in die Kanalisation geleitet wird und die Kläranlagen durchläuft, bevor es in Flüsse fließt); die Bodenspekulation (Förderung der Bebauung in überschwemmungsgefährdeten Gebieten); die Agrarpolitik (Förderung großflächiger Monokulturen) und landwirtschaftliche Praktiken wie tiefes Pflügen, fehlende Bodenbedeckung, das Verschwinden von Hecken.

In all diesen Bereichen hätten die notwendigen Präventivmaßnahmen schon vor Jahren ergriffen werden sollen – und sie müssen unverzüglich ergriffen werden, um neue Tragödien zu vermeiden. Die sogenannte „Anpassung“, die notwendig ist, um mit dem irreversiblen Teil des Klimawandels umzugehen, darf jedoch nicht dazu führen, dass die Wurzel des Problems umgangen wird: Das Klima selbst. Wir müssen so schnell wie möglich aus den fossilen Brennstoffen aussteigen, und dazu reicht es nicht aus, den Anteil an erneuerbaren Energien zu steigern. Wir müssen mit dem kapitalistischen Produktivismus brechen, unsere Produktionsweise, unseren Konsum und unser Verhältnis zur Natur komplett ändern, und zwar nach einem öffentlichen Plan.

Ein Kredit von 2500 Euro pro Haushalt ist eine Beleidigung für die Opfer

Die belgische Regierung hat einen Tag der nationalen Trauer ausgerufen, ermahnt zu Solidarität und Einheit. Sie klärt jedoch den Teil der Bevölkerung, der sich des Klimawandels nicht bewusst ist, über die wahren Ursachen der Katastrophe nicht auf. Der belgische Premierminister sprach von einem „außergewöhnlichen, noch nie dagewesenen“ Ereignis. Doch mit der globalen Erwärmung wird das „Außergewöhnliche“ zur Regel, das „Noch nie Dagewesene“ zum Alltäglichen.

Die Verbindung zwischen „Wissen“ und „Macht“ liegt hier klar zutage: Wenn Politiker das „Außergewöhnliche“ an den Überschwemmungen betonen, ohne den Zusammenhang mit der Klimaerwärmung zu erwähnen, meinen sie, weiter das Entscheidungsmonopol behalten und sich ihrer Verantwortung entziehen zu können. Ohne es explizit zu sagen, beschreiben sie die Katastrophe als „naturgegeben“, obwohl sie es nicht ist.

Es versteht sich von selbst, dass ein solcher Diskurs den Klimaleugnern – in der belgischen Regierung vertreten durch den stellvertretenden Premierminister – in die Hände spielt. […] Alle politischen Strömungen, die an der Regierung sind, haben ein gewisses Interesse daran, einen solchen Diskurs zu führen. Das Gerede von der „Naturkatastrophe“ erlaubt es, die Untätigkeit der Regierungskoalitionen unter den Teppich zu kehren.

Der Klimawandel ist eine Klassenfrage.

Wenn die Opfer eine klare Vorstellung von der Verantwortung der Regierungen hätten, würden sie das Darlehen von 2500 Euro pro betroffenem Haushalt (eine Entscheidung der wallonischen Regierung) als eine weitere Ungerechtigkeit, eine Beleidigung der Opfer verstehen. Statt eines Kredits, den sie zurückzahlen müssen, hat die Bevölkerung das Recht, eine Wiedergutmachung zu fordern, die diesen Namen verdient, finanziert von den Unternehmen, Banken und Aktionä:innen, die gegen alle Widerstände weiter in fossile Energien investieren.

Ihr Opfer von Überschwemmung und Dürre auf der Welt, vereinigt euch!

Über die unbedingte Solidarität mit den Opfern hinaus müssen wir Lehren aus der Tragödie ziehen. Die Lektion Nummer eins ist, dass die Zeit drängt, es gibt keine Minute zu verlieren. Dringend müssen die energischsten Maßnahmen ergriffen werden, um die Klimakatastrophe aufzuhalten, oder wir geraten in eine Super-Katastrophe.

Lektion Nummer zwei ist, dass wir den Regierungen nicht trauen können: Sie sagen uns seit über dreißig Jahren, dass gegen den Klimawandel etwas getan werden muss, aber sie haben fast nichts getan. Oder besser gesagt, sie haben „viel“ getan: Neoliberale Austeritätpolitik, Privatisierung, Unterstützung der Gewinnmaximierung der multinationalen, auf fossile Brennstoffe konzentrierten Konzerne, und die Unterstützung des Agrobusiness haben uns an den Rand des Abgrunds gebracht.

Der grüne Kapitalismus ist eine Mogelpackung.

„Wir sitzen alle im selben Boot“, sagen die Politiker:innen. Nein, im Norden wie im Süden kommen die Reichen ungeschoren davon, während sie die Hauptverursacher der Katastrophen sind (die reichsten 10 Prozent emittieren mehr als 50 Prozent des globalen CO2). Die Arbeiter:innenklasse zahlt die Zeche, denn sie sieht sich sowohl einer sich verschlimmernden globalen Erwärmung als auch einer sich vertiefenden sozialen Ungleichheit gegenüber. Die Ärmsten zahlen doppelt und dreifach, weil sie keine andere Möglichkeit haben, als in der Hoffnung auf ein besseres Leben auszuwandern und dabei ihr Leben zu riskieren. Der Klimawandel ist eine Klassenfrage.

Die dritte Lektion ist, dass alle, die Opfer dieser Politik sind – Kleinbäuer:innen, Jugendliche, Frauen, Arbeiter:innen, indigene Völker – sich zusammenschließen müssen, und zwar über Grenzen hinweg. Es gibt keinen Unterschied zwischen den armen Menschen, die in Pepinster oder Verviers im Wasser waten, und den armen Menschen, die in Karachi oder Dhaka im Wasser waten (ein Drittel von Bangladesch stand im Jahr 2020 unter Wasser aufgrund der Störung des Monsuns durch den Klimawandel). Und fallen wir nicht auf den Zynismus der belgischen Regierung herein, die sich hinter den Überschwemmungen versteckt, um von den Migrant:innen ohne Papiere abzulenken, die seit mehr als 50 Tagen in Brüssel im Hungerstreik sind, obwohl sie in Lebensgefahr sind.

Der EU-Klimaplan – eine Mogelpackung

In den nächsten Tagen werden wir Regierungen schwören hören, dass die dramatischen Überschwemmungen ihren Wunsch nach einem grünen Kapitalismus bestätigen, dass die Europäische Union die Vorreiterrolle einnimmt und dass alles besser wäre, wenn der Rest der Welt ihrem Beispiel folgen würde. Lektion Nummer 4 der Flutkatastrophe ist für uns also, sich nicht von dieser Rhetorik einschläfern zu lassen. Der grüne Kapitalismus ist eine Mogelpackung.

Der EU-Klimaplan ist voller falschen Lösungen (Bäume pflanzen), Taschenspielertricks (Emissionen aus dem weltweiten Luft- und Schiffsverkehr werden nicht mitgezählt), gefährlichen Technologien (Kohlenstoffabscheidung und -bindung, Atomkraft, Energiepflanzen auf Millionen von Hektar), neuen kolonialen Ungerechtigkeiten gegen den Globalen Süden (Carbon Offsets, EU-Grenzsteuern) und neuen unsozialen Marktmaßnahmen (CO2-Abgaben in Bau und Verkehr, die die Unternehmen an die Verbraucher:innen weitergeben werden).

Das eigentliche Ziel dieses Plans ist der Versuch, die Quadratur des Kreises zu schaffen: Kapitalistisches Wachstum mit Klimastabilisierung zu verbinden. Unausgesprchen steckt dahinter der irrsinnige Plan, die Erwärmungsschwelle von 1,5°C „vorübergehend zu überschreiten“ – und dies später durch eine hypothetische technologische „Abkühlung“ des Planeten angeblich zu kompensieren.

Die Überschwemmungen in Belgien und Deutschland sowie andere Katastrophen auf der ganzen Welt, die bereits durch eine Erwärmung von 1,1°C verursacht werden, zeigen, welch alptraumhafte Folgen ein solcher „temporärer Overshoot“ hat.

Der Artikel erschien am 17. Juli 2021 auf der Webseite der Gauche Anticapitaliste (Belgien). Übersetzung durch die Redaktion von sozonline.de.

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1 Kommentar

  1. Gilbert Rossier

    Wow, super geschriebener Artikel.

    Das nenn ich Beherrschung und Umsetzung von tollem Journalismus.

    Vielen Dank für die präzis gesammelten Zusammenhänge und deren inhaltliche Vernetzung.

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