Mit der Durchsetzung des sogenannten «Dreisäulenmodells» in der Altersvorsorge Mitte der 1980er Jahre wurde der schrittweise Ausbau der AHV zur Volkspension verhindert. Stattdessen haben sich private Pensionskassen zu zentralen Akteuren der Alterssicherung entwickelt. Während Gutverdienende, Versicherungen und Anlageberater:innen von diesem Modell profitieren, sind die negativen Folgen nicht nur für weite Teile der Gesellschaft, sondern auch für «die Natur» spürbarer denn je. Am Beispiel der Pensionskassen kann nicht nur gezeigt werden, wie soziale und ökologische Fragen im Kapitalismus zusammenhängen. Es wird auch deutlich, dass eine soziale und ökologische Transformation der Gesellschaft einen grundlegenden Umbau des Finanzsektors erfordert.
von Eva L. Blum und Matthias Kern (BFS Zürich)
Die Durchsetzung des 3-Säulen-Modells
Wenn es um die Altersvorsorge in der Schweiz geht, wird normalerweise von den «drei Säulen» gesprochen. Diese sind dabei ziemlich verschieden aufgebaut und entsprechend unterschiedlich in die Finanzierung der Klimakrise verstrickt. Sehen wir sie uns deshalb der Reihe nach an. Die erste Säule ist die Alters- und Hinterbliebenenversicherung (AHV). Diese ist seit 1948 gesetzlich verankert (deutlich später als z. B. in Deutschland) und über das sogenannte Umlageverfahren organisiert. Das bedeutet, dass das heute einbezahlte Geld unmittelbar für die zu bezahlenden Renten aufgewendet wird. Die Jüngeren bezahlen die Renten der Älteren und die Gutverdienenden zahlen mehr Geld ein als die Schlechterverdienenden. Damit stellt die AHV ein zentrales Instrument für den sozialen Ausgleich dar und wirkt der ökonomischen Ungleichheit entgegen.
Im Verlaufe der 1950er Jahre kam es zu diversen AHV-Revisionen, die die Höhe der AHV-Renten markant ansteigen liessen. In den darauffolgenden Jahrzehnten kam es aber immer wieder zu (erfolgreichen) Versuchen der Bürgerlichen, den weiteren Ausbau der AHV zu bremsen. Die PdA lancierte Ende 1969 eine Initiative für eine Volkspension, welche nach dem gleichen Prinzip wie die AHV organisiert ist: deren Höhe sollte so angepasst werden, dass eine Beibehaltung des Lebensstandards auch nach der Pensionierung möglich gewesen wäre. Dadurch wären private Pensionskassen und Versicherungen weitgehend durch ein staatliches System ersetzt worden. Denn die (staatliche) Volkspension hätte 60% des vorherigen Lohns bzw. mindestens 6’000 CHF betragen sollen – faktisch eine Verdopplung des damaligen Existenzminimums.
Die Volkspension wurde im Anschluss nicht nur von den Bürgerlichen bekämpft. Auch die SP und die Gewerkschaften unterstützten den PdA-Vorstoss nicht, sondern reichten eigene Initiativen ein. Dies, weil insbesondere die Gewerkschaften seit dem späten 19. Jahrhundert in verschiedene Formen der «beruflichen Vorsorge» als Teil der sich entwickelnden Sozialpartnerschaft verwickelt waren. Das Ergebnis war, dass sich neben der AHV zwei weitere «Säulen» der Altersvorsorge durchsetzten und gesetzlich verankert wurden: Die 2. Säule: die berufliche Vorsorge (Pensionskassen) sowie die 3. Säule: die individuelle Vorsorge. Die berufliche Vorsorge ist allerdings erst seit 1985 obligatorisch.
Die Betriebe sind seitdem gezwungen, gewisse Lohnprozente an eine eigene Pensionskasse oder eine Sammeleinrichtung zu überweisen. SP und die Gewerkschaften stimmten dem Dreisäulenmodell zu, weil sie davon ausgingen, dass die AHV die tragende Säule der Altersvorsorge bleiben würde und die Pensionskassen nur einen «komplementären Charakter» erhalten würden. Zentrale Folge des 3-Säulen-Modells war aber tatsächlich, dass der weitere Ausbau der AHV massiv eingeschränkt wurde: Die AHV sollte von da an nur noch «den Existenzbedarf sichern», wogegen die Pensionskassen «die gewohnte Lebenshaltung in angemessener Weise ermöglichen» sollen.
Die 2. und die 3. Säule sind also von keinem solidarischen Gedanken getragen. Im Gegenteil: Organisiert sind sie nicht nach dem Umlageverfahren, sondern nach dem Kapitaldeckungsverfahren. Das bedeutet, dass die einbezahlten Beiträge jeder Person am Kapitalmarkt angelegt und am Ende der Versicherungsperiode (bspw. bei der Pensionierung) nach und nach wieder an diese Person zurückgezahlt werden – inklusive eines Teils der Zinsen. Die Altersvorsorge ist damit individuell geregelt, man erhält sein individuelles Investment zurück, und ein solidarischer Austausch findet nur noch beschränkt statt. Stattdessen häufen sich riesige Mengen an Kapital an, die in den Finanzmärkten renditeträchtig investiert werden müssen.
Mit dem Schritt von der Umlagefinanzierung zur Kapitaldeckung und der Einführung privater Pensionsfonds werden Lohnabhängige systematisch gegeneinander ausgespielt. Lohnabhängige, die in einen Fonds einbezahlt haben, erhalten ein unmittelbares Interesse an der Ausbeutung anderer Lohnabhängiger. Die Lohnabhängigen spalten ihr Interesse in das des Aktionärs, der eine gute Rente will, und in das der Lohnabhängigen, die einen guten Lohn, gute Arbeitsbedingungen und eine sinnvolle Arbeit wollen. Diese Ziele schliessen einander unter den Bedingungen der kapitalistischen Profitmaximierung und der Konkurrenz aus.
Der Pensionskassen-Berg wächst und wächst. Wer profitiert? Wer verliert?
Die Einführung kapitalgedeckter Altersvorsorgesysteme und Pensionsfonds war ein wesentlicher Faktor für die enorme Machtsteigerung des Finanzkapitals.
Kasten: Die Finanzmärkte wurden in den letzten Jahrzehnten, ausgehend von den USA, nach neoliberalen Vorstellungen dereguliert: Spekulationsgeschäfte wurden vereinfacht und Kapitalverkehrskontrollen abgeschafft. Damit wurde ein freier internationaler Kapitalverkehr ermöglicht. Begleitet wurden diese Entwicklungen von einem «neoliberalen Umbau», der inzwischen viele Bereiche der Wirtschaft und der Gesellschaft grundlegend verändert hat. Neben der Einführung kapitalgedeckter Altersvorsorgesysteme ist z. B. die Privatisierung des Gesundheitswesens eine Folge dieser Entwicklungen.
Die Pensionsfonds bündeln und verwalten die von den Lohnabhängigen zwangsweise[1] einbezahlten finanziellen Mittel. Im Gegensatz zur AHV, die nach dem Umlageverfahren (Beiträge werden zwischen den Altersgruppen und zwischen den Lohnniveaus solidarisch umverteilt) finanziert wird, arbeiten die Pensionskassen nach dem Kapitalisierungssystem: Ihre Finanzierung wird durch die Bildung von Reserven sichergestellt, die dann am Finanzmarkt angelegt werden und Zinserträge generieren. Das heisst: Das gesparte Alterskapital muss gewinnbringend angelegt werden, damit die in Aussicht gestellten Renten später auch tatsächlich ausbezahlt werden können. Dadurch sind die Pensionskassen sehr direkt von den Finanzmärkten abhängig.
Die Einführung der 2. Säule hat für alle Lohnschichten zu einem Rückgang der Renten gegenüber den ursprünglichen Versprechen geführt. Doch gerade Frauen und Geringverdienende sind im System der 2. Säule besonders benachteiligt. Im Gegensatz zur AHV zählen in der Pensionskasse einzig die Erwerbsdauer und die Einkommenshöhe, es gibt keinen solidarischen Ausgleich zwischen den Einkommensklassen. Entstehen Erwerbslücken, können auch gutbezahlte Frauen diese gegenüber den Männern nicht wettmachen. Zudem sind Frauen auch öfter in schlechter bezahlten Berufen und mit Teilzeitpensen beschäftigt. Dadurch erhalten Frauen durchschnittlich 63 Prozent weniger Pensionskassenrente als Männer.[2]
Seit dem Obligatorium 1985 wächst der Kapitalberg der Pensionskassen unaufhörlich. Aktuell befinden sich 1,2 Billionen Franken im Schweizer Pensionskassensystem.[3] Vom Kapital der Pensionskassen profitieren zunächst vor allem die Versicherungen, die für viele Kassen ganz oder teilweise das Anlegen übernehmen und gegen Prämien die dabei entstehenden Risiken abdecken. Dazu kommt eine Horde von Vermittler:innen, Ratgeber:innen und Anlagespezialist:innen. «Die Anlage der Sparkapitalien der Pensionskassen ist für das Finanzbusiness ein Bombengeschäft mit sicheren Gewinnen», schreibt der ehemalige Preisüberwacher und frühere SP-Nationalrat Rudolf Strahm. Jeder siebte Rentenfranken versickere Jahr für Jahr in der Vermögens- und Kassenverwaltung. 2018 flossen so 5,2 Milliarden Franken ab.
Um die Pensionsversprechen erfüllen zu können, muss sich das Kapital der Pensionskassen stetig vermehren. Die Zinsen für Obligationen – also relativ sichere Kredite an Unternehmen und die öffentliche Hand – sind seit einiger Zeit aber extrem tief. Wer eine Bundesobligation der Eidgenossenschaft kauft, muss gar Minuszinsen zahlen. Daher wird immer mehr Kapital in unsichere Aktien, Fonds und Immobilien investiert oder in risikobehaftete «alternative Anlagen»[4] gepumpt – und das um so mehr, je niedriger das allgemeine Zinsniveau ist.[5]
Doch wo kann der enorme Kapitalberg möglichst gewinnbringend angelegt werden? Es können drei Anlagesparten ausgemacht werden, die gerade für die Pensionskassen und ihren Renditezwang von entscheidender Bedeutung sind. Es sind gleichzeitig auch drei Bereiche, die gesellschaftlich eine grosse Relevanz haben: Fossile Energieträger, Immobilien und die Privatisierungen der Natur.
Wohin mit dem Geld? In die fossile Energie!
Inzwischen haben sich verschiedene Organisationen der Klimabewegung dem Thema «Finanzplatz und Klimakrise» angenommen. Eine aktuelle Auswertung legt beispielsweise die Klima-Allianz-Schweiz vor. Sie hat 115 Vorsorgeeinrichtungen erfasst, die rund 80% des gesamten Anlagevolumens von über 1.2 Billionen CHF ausmachen. Ihr Fazit: Die grosse Mehrheit der Schweizer Vorsorgeeinrichtungen investiert nach wie vor in CO2-intensive Unternehmen. Leider erfährt man über die als «klimaschädigend» eingestuften Pensionskassen nur wenig Details. In welche Unternehmen des fossilen Sektors die Kassen investieren, bleibt unklar. Dies liegt auch an der mangelnden Transparenz über diese Geschäfte, die die Klima-Allianz zu Recht kritisiert.[6]
Den gesamten Schweizer Finanzplatz[7] auf seine «Klimaverträglichkeit» getestet haben 2020 auch das Bundesamt für Umwelt (BAFU) und das Staatssekretariat für Internationale Finanzfragen (SIF). Auch ihr Ergebnis fällt schockierend aus: Insgesamt investiert der Schweizer Finanzplatz heute viermal mehr Mittel in Firmen, die Strom aus fossilen Quellen wie Kohle und Gas erzeugen, als er in Produzent:innen von erneuerbarem Strom investiert. Dazu investiert der Schweizer Finanzplatz weiterhin nicht nur signifikant in die bestehende Erdöl- und Kohleförderung, sondern auch in deren weiteren Ausbau.
Greenpeace wiederum hat sich zwei Schweizer Grossbanken vorgenommen. Dazu wurden Daten des Banking on Climate Change (BoCC) Reports ausgewertet. Demnach hat die Credit Suisse im Jahr 2017 23,6 Mrd. USD in Unternehmen aus dem Bereich der fossilen Brennstoffe investiert. CS und UBS haben 2016 bis 2019 zusammen 114 Mrd. USD in den fossilen Sektor (mehr als 260 Konzerne) investiert.
Die Investitionen der Schweizerischen Nationalbank (SNB) in den USA und Grossbritannien sind weiter für fast so viele CO2-Emissionen verantwortlich, wie die ganze Schweiz im Inland ausstösst. Insgesamt unterstütze das SNB-Portfolio eine Erderwärmung von 4 bis 6°C bis zum Jahr 2100, wie die Initiative Fossil-Free festhält. Sie organisierte dazu am 1. Mai 2021 eine Aktion zur Generalversammlung der SNB in Zürich.
Nicht besser sieht es aus, wenn man einen Blick über den Schweizer Finanzplatz hinauswirft:
Der Bericht «Five Years Lost» der NGO Urgewalt zeigt anhand von 12 Fallstudien, dass auch international die Expansion von Kohle, Öl und Gas weiter vorangetrieben wird. Der Bericht führt auf, welche Unternehmen diese grossen, oft umstrittenen Projekte planen und welche Banken und Finanzakteure in die Exploration investieren. Sollten die Projekte wie beabsichtigt ausgebaut werden, werden sie zusammen mindestens 175 Gigatonnen zusätzliches CO2 produzieren. Das sind 75% des global verbleibenden Kohlenstoffbudgets von 235 Gigatonnen – gemessen am Ziel, die globale Erwärmung mit einer Wahrscheinlichkeit von 66% auf 1,5 Grad zu begrenzen.
Und welche Geschäftspolitik verfolgen die fossilen Energiekonzerne selbst? Wie eine Auswertung der Initiative Oil Change International zeigt, planen alle grossen Ölfirmen (darunter u. a. ExxonMobil, Shell, bp, Chevron) die Fördermenge bis 2030 deutlich zu erhöhen (um 8% bis 52%). Eine Studie des Erdölkonzerns ExxonMobil schätzt, dass der Anteil der fossilen Energieträger am Gesamtenergieverbrauch um nur wenige Prozentpunkte auf etwas unter 80% im Jahr 2030 sinken werde. Die Geschäftsaussichten für die Unternehmen der fossilen Energie sind also, obwohl der Ölpreis nach dem starken Einbruch Anfang 2020 erst moderat wieder gestiegen ist, nach wie vor gut. Daher ist auch davon auszugehen, dass mindestens ein Teil der Vorsorgeeinrichtungen und damit auch der Schweizer Pensionskassen, ungeachtet aller Versprechen die eigene Anlagestrategie «grüner» zu machen, auch weiterhin in diesen Bereich investieren wird. Schliesslich muss sich, um die Rentenansprüche zu bedienen, das von den Lohnabhängigen erwirtschaftete Kapital vermehren – fossile Energieträger und ihre Unternehmen bieten eine gute Gelegenheit hierfür, ungeachtet der katastrophalen Konsequenzen.
Exkurs: Ökologisch-ethische Pensionskassen und «grüne» Anlagen als Alternative?
Seit einigen Jahren gibt es in der globalen Ökologie-Bewegung eine Strömung, die ein «Divestment» fordert: Pensionskassen, Banken, Hedgefonds und andere Finanzakteure sollten ihre Aktien, Anleihen oder sonstigen finanziellen Beteiligungen im Bereich der fossilen Energie abstossen. Finanztechnische Argumente, die gegen ein Divestment sprechen, gäbe es nicht: Es sei sogar wahrscheinlich, dass ein Divestment vor grösseren Verlusten bewahre. Schon länger warnen Finanzexpert:innen und NGOs vor der «Carbon Bubble»: Aufgeblähte Börsenkurse von Energieunternehmen drohten abzustürzen, wenn diese ihre Öl-, Kohle- und Erdgas-Reserven aufgrund irgendwann nicht mehr abzuwendender politischer Entscheide im Boden lassen müssen. Die Klima-Allianz Schweiz hat hierzu in einer neuen Studie berechnet, dass die Renten der Pensionskassen mit einem hohen Anteil an klimariskanten Aktien und Obligationen innert 15 Jahren um bis zu 32% einbrechen könnten.
Besonders die öffentlichen Pensionskassen geraten immer mehr unter Druck, ihr klimaschädigendes Investitionsverhalten zu ändern. Fossil Free hat hierzu beispielsweise 2015 die Kampagne «Mein Geld ist sauber» lanciert. Versicherte sollten ihre Pensionskasse per vorformuliertem Brief auffordern, aus klimaschädigenden Unternehmen auszusteigen. Die Klima-Allianz hat diese Strategie übernommen, inzwischen gibt es «klimafreundliche Kontaktgruppen» von Versicherten bei den Pensionskassen der Kantone Zürich, Luzern und Basel-Landschaft. Im Fokus der Kampagnen stehen insbesondere öffentliche Pensionskassen wie die BVK des Kantons Zürich. Denn auf diese lässt sich besser Druck ausüben: In den letzten Jahren mussten immer mehr kantonale und kommunale Regierungen aufgrund von parlamentarischen Vorstössen Auskunft geben über die Anlagepolitik ihrer Pensionskasse.
Natürlich ist es sinnvoll, wenn den Unternehmen des fossilen Sektors Kapital entzogen wird. Das grundlegende Problem, dass im gegenwärtigen Pensionskassensystem die Renten der Lohnabhängigen abhängig bleiben von der (mit dem kapitalistischen Wachstum notwendig verbundenen) Ausbeutung von Mensch und Natur, bleibt dabei aber ungelöst. Daher sind «ökologisch-ethische» Pensionskassen keine wirklich brauchbare Alternative, weil sie schlicht ihren Auftrag, eine genügend grosse Rendite zur Finanzierung der Rentenansprüche zu erwirtschaften, nicht erfüllen können.[8] Auch ein «Umleiten» der Finanzströme in «grüne» Sektoren[9] wie die Elektromobilität oder eine Verteuerung der Umweltzerstörung zum Beispiel über die Einführung einer CO2-Steuer, löst das Grundproblem nicht. Zum einen ist fraglich, was unter «grünen» Sektoren tatsächlich verstanden wird (siehe Kasten), zum anderen zeigt das Beispiel der CO2-Steuer sehr schön, warum das Grundproblem unangetastet bleibt: Um die nötige schnelle Senkung der Treibhausgasemissionen zu erreichen, müsste der CO2-Preis extrem hoch sein. Dies aber würde die Unternehmen und das Wirtschaftswachstum schädigen – und unterbleibt daher. Das Gleiche gilt für ordnungspolitische Eingriffe wie das Verbot der Emission von Treibhausgasen: Die wirtschaftlichen Kosten für die Unternehmen wären schlicht nicht tragbar.
Kasten: Die Europäische Kommission hat im März 2018 das Programm »Nachhaltige Finanzierung« verabschiedet. Erklärtes Ziel des Programms: Die EU will sich als erste Adresse für kohlenstoffarme Technologien und nachhaltige Investitionen etablieren und sich damit einen erheblichen Wettbewerbsvorteil v. a. gegenüber den USA sichern. Ein wichtiger Bestandteil des Programms ist die Festlegung gemeinsamer Begrifflichkeiten für das nachhaltige Finanzwesen, d.h. die Einführung eines einheitlichen EU-Klassifikationssystems bzw. einer einheitlichen Taxonomie für «grüne» Anlagen. Was in Zukunft als «grüne» Investition gelten könnte, zeigt der vor einigen Wochen vorgelegte Entwurf der Kommission: Demnach sollen auch Praktiken wie Erdgasnutzung, Abholzung von Wäldern oder Atomkraft künftig als «grün» und «nachhaltig» gelten.[10]
Wohin mit dem Geld? In die Immobilien!
Mit dem starken Fokus der Klimabewegung auf die «fossilen Unternehmen», geraten andere kritische Bereiche etwas aus dem Blick, in die die Pensionskassen involviert sind: zum Beispiel der Immobiliensektor. Hier führen die wachsenden Investitionen des Finanzkapitals zu immer weiter steigenden Mieten, was viele Lohnabhängige unmittelbar betrifft.
Das niedrige Zinsniveau und die Minuszinsen der Bundesobligationen drücken nicht nur die Erträge der Vorsorgeeinrichtungen. Sie führen auch zu einer massiven Umverteilung von den Ärmeren zu den Reichen.[11] Die Pensionskassen leihen traditionell einen Grossteil ihrer Ersparnisse dem Bund, indem sie Obligationen kaufen. Der Zins, den die Kassen dafür wiederum vom Bund erhalten, wird von den Steuerzahler:innen bezahlt; aufgrund des progressiven Steuersystems bezahlen Reiche so auch mehr an den Zins als ärmere Haushalte. Da mit Obligationen jedoch kein Geld mehr zu verdienen ist, stecken die Pensionskassen ihr Geld nun immer mehr in Immobilien: 2009 machten Immobilien noch 18 Prozent der Pensionskassenanlagen aus, heute sind es bereits 25 Prozent.[12] Anders als bei Obligationen zahlen Reiche jedoch in diesem Fall kaum an die Rendite: Sie besitzen schliesslich oft ein Eigenheim. Die Rendite auf das Kapital, das in Immobilien angelegt wird, zahlen die Haushalte mit bescheideneren Mitteln: jene, die Miete zahlen müssen.
Die eklatante Ungleichheit der Pensionsvermögen zwischen Klein- und Grossverdiener:innen wird so zusätzlich verschärft: Die Leute mit kleinerem Lohn zahlen mit ihrer Miete die Rendite auf die Pensionsvermögen der Reichen. Das heisst, dass Leute mit geringerem Lohn mehr zur Rendite der zweiten Säule beitragen, als sie an Rendite erhalten. Und je mehr Geld die Pensionskassen in Immobilien stecken, desto schneller steigen auch die Mieten. Ein perverses System. Dabei erhalten Ärmere, weil sie statistisch weniger lang leben, ohnehin schon weniger Rente: Eine Frau ohne Ausbildung oder mit Lehrabschluss bezieht laut einer Studie des Bundes im Schnitt drei Jahre weniger lang Rente als eine mit höherer Ausbildung.
Dazu kommt: Um möglichst viel Rendite mit dem Immobilienbestand erwirtschaften zu können, ändern viele Pensionskassen die Anlagestrategie: Ziel ist nicht mehr, die Immobilien als langfristige Wertanlage zu belassen («buy and hold»), sondern aus dem bestehenden Portfolio, zum Beispiel mittels Luxussanierungen, möglichst viel herauszupressen.[13] Diese Strategie hat dazu geführt, dass vielen Mieter:innen in den letzten Jahren gekündigt wurde.[14]
Wohin mit dem Geld? In die neue Landnahme und die Privatisierung der Natur!
Seit der Finanzkrise 2007-2008 gilt der Agrarsektor als ein besonders lukratives Geschäftsfeld, vor allem Agrarland wurde eine Zeit lang als besonders «sichere» Anlage gehandelt. Nachdem bis 2010 weltweit immer mehr Flächen aufgekauft wurden, ist seit 2011 ein Abwärtstrend erkennbar. Doch aktuell steigt das Interesse wieder – und auch hier spielt das Geld der Pensionskassen eine wichtige Rolle.
Das globale Vermögen institutioneller Pensionsfonds in den 22 grössten Märkten (P22) ist auch 2020 weiter angestiegen, und zwar um 11% auf 52,5 Billionen Dollar.[15] Immer mehr dieser Pensionsfonds entscheiden sich für den Aufkauf von Agrarland. Dies kann direkt durch den Erwerb von Flächen geschehen oder indirekt über Private-Equity-Fonds, die eine Beteiligung z. B. an Farmen in Ostafrika oder Ölpalmenplantagen im Kongo vermitteln. Die Finanzakteure, die Ackerland an Pensionsfonds verkaufen, bewerben diese bewusst als «grüne», «nachhaltige» und «sozial verantwortliche» Investition. Sie vermarkten Investitionen dieser Art zum Beispiel auch wegen ihres Potenzials, Kohlenstoff-Kompensationen zu generieren (damit dann an anderer Stelle auch wieder offensichtlicher «schmutzige» Geschäfte getätigt werden können). Und die Propaganda funktioniert. Ackerland ist ein zunehmend attraktives Angebot für Pensionsfondsmanager, die unter Druck stehen, etwas gegen die Klimakrise zu unternehmen.
Zum Beispiel hat der Pensionsfonds des niederländischen Postunternehmens PostNL in diesem Jahr 200 Millionen Euro in einen neuen Fonds für Agrarland gesteckt, der ganz unverblümt «SDG Farmland Fund» genannt wird (das Kürzel SDG = Sustainable Development Goals bezieht sich auf die nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen).
Der niederländische Pensionsfonds konzentriert sich, wie die meisten anderen institutionellen Investoren auch, vorerst auf den Erwerb von Ackerland in den «wirtschaftlich sicheren» Gegenden Nordamerikas, Europas, Ozeaniens und Südamerikas. Aber das könnte sich ändern. Private-Equity-Fonds leiten bereits bedeutende Mengen an Pensionsfondsgeldern in Unternehmen, die Farmen in Afrika und Asien betreiben, oft mit Unterstützung von Entwicklungsbanken wie der Weltbank.
Das Ackerland der Welt, so wiederholen die Fondsmanager gerne, ist endlich. Je mehr davon von Konzernen beansprucht wird, desto weniger bleibt für Kleinbäuer:innen, indigene Völker und ländliche Gemeinschaften übrig. Deren Produktionsweise unterscheidet sich meist fundamental von jener Art der Bewirtschaftung, die notwendigerweise durch die Konzerne vorangetrieben wird. So wird mit den als «grün» bezeichneten Investitionen der Raubbau an der Natur weiter forciert. Und so sind auch die Pensionskassen in der Schweiz für die weitere Zerstörung und die Ausbeutung unserer Lebensgrundlagen klar mitverantwortlich.
Fazit
Das 3-Säulen-System der Altersvorsorge in der Schweiz ist damit nicht bloss ein historisch gewachsenes und kompliziertes System. Durch die Funktionsweise der 2. und 3. Säule (Kapitaldeckungsverfahren) sind grosse Teile der Schweizer Bevölkerung über ihre Altersvorsorge zu einem grossen Teil an die Interessen und die Logik der Finanzmärkte gebunden. Zur Erfüllung ihrer Rentenversprechen müssen die Pensionskassen immer risikoreichere Investitionen vornehmen, weil andere Anlagen kaum mehr die notwendigen Renditen abwerfen. Dadurch investieren Pensionskassen zunehmend in Bereiche, die für die Zerstörung und den Raubbau an der Natur, für das Voranschreiten der Klimakatastrophe und zudem für steigende Mieten verantwortlich sind. Die Lösung dieses Problems kann nun nicht in «nachhaltigeren» Anlagestrategien liegen, weil die kapitalistische Logik ganz fundamental auf der Ausbeutung von Mensch und Natur basiert. In einem zweiten Teil dieses Artikels werden wir uns nächste Woche noch etwas allgemeiner den Entwicklungen des Finanzsektors und der Notwendigkeit eines grundlegenden Umbaus des Finanzsystems zuwenden.
Im zweiten Teil des Artikels beschäftigen wir uns noch grundlegender mit dem Funktionieren der Finanzmärkte.
Fussnoten:
[1] Die berufliche Vorsorge über die 2. Säule in der Schweiz ist obligatorisch, d. h. die Betriebe sind gezwungen, Lohnprozente an eine eigene Pensionskasse oder eine Sammeleinrichtung zu überweisen.
[2] Bei der AHV beträgt die Frauen-Renten-Lücke dagegen «nur» 2,7 Prozent. Weil bei der AHV nicht nur das Einkommen zählt, sondern auch Erziehungsarbeit und Erwerbslücken aufgefangen werden. Die AHV ist also die frauenfreundlichere Altersvorsorge. (https://www.workzeitung.ch/)
«Gender Pension Gap in der Schweiz, Geschlechterspezifische Unterschiede bei den Altersrenten» (2016). Im Auftrag des Bundes untersuchten Wissenschafterinnen damals zum ersten Mal, wie gross die Rentenunterschiede zwischen Mann und Frau sind. Bis heute ist es die einzige Studie zur Frauen-Renten-Lücke in der Schweiz. Während der Bund alle zwei Jahre neue Zahlen zur Lohngleichheit publiziert, ist die Frage nach dem Zusammenhang von Geschlecht und Rente bislang kaum Thema.
[3] Zum Folgenden, vgl. https://www.woz.ch/-b0f9
[4] Damit sind Pensionskassen und Pensionsfonds auch verstärkt im wachsenden Bereich der sogenannten Schattenbanken aktiv. Schattenbanken (auf englisch auch «non-bank financial intermediation» genannt) bezeichnen Akteure auf Finanzmärkten, die bankähnliche Funktionen wahrnehmen, aber nicht der gesetzlich festgelegten Definition einer Bank entsprechen und somit auch nicht von deren Regulierungsauflagen betroffen sind. In diesem neben dem traditionellen Bankensektor existierenden Teil des Finanzsystems wird in grossem Umfang unregulierte (oft computergestützte) Kreditvermittlung betrieben. Zu den Akteur:innen des Schattenbankensystems zählen bspw. Hedgefonds, Crowdfunding-Firmen, Geldmarktfonds, Vermögensverwalter oder private Kreditfonds. Aufgrund der systemischen Risiken dieses Sektors, die während der letzten Finanz- und Wirtschaftskrisen deutlich geworden sind, wird bereits seit Jahren über eine Regulierung des Schattenbankenwesens sowohl auf europäischer als auch auf internationaler Ebene diskutiert. Siehe auch: Deutschlandfunk: Die wachsende Macht der Schattenbanken BlackRock (dem weltgrössten Vermögensverwalter und selbst eine «Schattenbank»), die in Europa selbst aggressiv an der Einführung privater Altersvorsorgesysteme beteiligt ist; Telepolis: BlackRocks Angriff auf die Rente zum Umfang des Schattenbankenwesens; Financial Stability Board aus Basel: veröffentlicht jährlich neue Zahlen: FSB: annual report on non-bank financial intermediation
[5] Dies ist – neben der steigenden Lebenserwartung der Rentner:innen – die Begründung für die aktuell geplante Reform der Altersvorsorge (https://www.bsv.admin.ch/). Mit dieser soll u. a. der so genannte Umwandlungssatz gesenkt werden – von 6,8 auf 6 Prozent. Der Umwandlungssatz gibt vor, wie viel die Kassen den Rentner:innen jährlich ausbezahlen. Mit der Reform würden die Renten um 12 Prozent sinken (https://www.woz.ch/-a650).
[6] https://www.klima-allianz.ch/klima-rating/kriterien/ Die EU hat die Finanzmarktteilnehmer, auch die Pensionskassen, bereits gesetzlich verpflichtet, auf ihren Internetseiten zu deklarieren, welches ihre Strategien zur Einbeziehung der Nachhaltigkeits- und Klimarisiken in ihre Anlageprozesse sind. Es ist wahrscheinlich, dass die Schweiz ähnliche Bestimmungen formell oder faktisch als Branchenstandards einführen wird.
[7] Das untersuchte Finanzportfolio umfasst die verwalteten Vermögen in der Schweiz. Per Ende 2019 waren dies knapp 7000 Milliarden Schweizer Franken. Sie stammen unter anderem aus privaten Spareinlagen bei Banken, Versicherungskapital oder Vorsorgeeinlagen in Pensionskassen und die AHV. Knapp 180 Schweizer Finanzinstitute haben sich an dem freiwilligen Klimaverträglichkeitstest beteiligt. Neben Pensionskassen nahmen auch Banken und Vermögensverwalter teil.
[8] Die Sammelstiftung Nest verwaltet rund drei Milliarden Franken. Die «ökologisch-ethische Pensionskasse» investiert zwar auch heute noch in soziale und ökologische Wohnprojekte, kommt aber mit dem vielen Kapital nicht darum herum, auch Anteile an Immobilienfonds etwa der UBS oder der Credit Suisse zu kaufen, die im In- und Ausland marktübliche Renditen erzielen wollen. Bei ihrem Aktienportefeuille setzt Nest schwergewichtig auf Pharmakonzerne und hält auch ein millionenschweres Aktienpaket des Schweizer Zementkonzerns Lafarge-Holcim, dessen Zerschlagung aufgrund von mehrfachen Menschenrechtsverletzungen, Umweltzerstörung und Korruption prioritär ist. (https://www.woz.ch/-b0f9)
[9] Siehe auch unten: Wohin mit dem Geld: Neue Landnahme und Privatisierung der Natur.
[10] Verschiedene Wissenschaftler:innen und NGOs üben scharfe Kritik am Entwurf, siehe auch: Klimareporter: Europa soll mit alter Energie grüner werden
[12] Siehe auch: https://www.mieterverband.ch/ und: https://www.woz.ch/-a468
[13] Siehe Aebi, J., Gehringer, L. 2020: Dem Finanzkapitalismus den Boden entziehen. In: Widerspruch 75: «Enteignen fürs Gemeinwohl», S. 11 – 20. Zu Pensionskassen und Immobilien, S. 15 – 16.
[14] z.B hier: http://www.mülhauserstrasse26.ch/
[15] Gemäss einer neuen Studie – der Global Pension Assets Study 2021 – sind die 22 grössten Rentenmärkte: Australien, Brasilien, Chile, China, Deutschland, Finnland, Frankreich, Grossbritannien, Hongkong, Indien, Irland, Italien, Japan, Kanada, Malaysia, Mexiko, Niederlande, Südafrika, Südkorea, Schweiz, Spanien und die USA. Die sieben grössten Pensionsmärkte (92% des Gesamtvermögens in der Studie) sind Australien, Kanada, Japan, Niederlande, Schweiz, Grossbritannien und die USA.
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