Menu Schließen

Wieso wir dringend eine Arbeitszeitverkürzung brauchen

Am 9. April 2022 findet in der Schweiz der nächste Aktionstag des Strike for Future statt. Im Fokus steht das Thema Arbeitsverkürzung. Denn eine Arbeitszeitverkürzung ist nicht nur eine soziale und feministische, sondern auch eine ökologische Forderung.

von Charles Sérou (BFS Jugend), Philipp Schmid und João Woyzeck (BFS Zürich)

Wie und für was werden wir bezahlt?

Wie beinahe überall auf der Welt besitzt die überwiegende Mehrheit in der Schweiz keine Fabriken oder andere Produktionsmittel, sondern ist gezwungen, die eigene Arbeitskraft gegen Lohn zu verkaufen. Bei Lohnabhängigen mit tiefem bis mittleren Einkommen ist es daher üblich, auf Grundlage der geleisteten Arbeitszeit, sei es in einem Stunden- oder Monatspensum, bezahlt zu werden. Allerdings wird den Lohnabhängigen nicht der tatsächlich erarbeitete Wert vollständig ausbezahlt, sondern weniger. Die unbezahlte Mehrarbeit eignet sich das Unternehmen als Profit an. Der Lohn dient dazu, die eigene Arbeitskraft zu reproduzieren. Damit sind Ausgaben für Wohnung, Essen, Kleider usw. gemeint, die notwendig sind, damit der:die Arbeiter:in am nächsten Tag wieder zur Arbeit gehen kann. Der Lohn wieder ist der Preis der Ware Arbeitskraft, der auf dem Arbeitsmarkt ausgehandelt wird und der wie bei anderen Waren in etwa dem Wert der Ware (hier: Arbeitskraft) entspricht. Der Wert der Arbeitskraft entspricht wiederum dem Wert – ausgedrückt in Anzahl Arbeitsstunden – der für die Reproduktion der Arbeitskraft nötigen Waren.[1]

Die meisten Lohnabhängigen in der Schweiz unterschreiben einen Arbeitsvertrag, in welchem festgelegt wird, wie viele Arbeitsstunden zu leisten sind. Ein anderes Arbeitsmodell ist die Akkordarbeit. Dieses ist vor allem in Handwerksberufen üblich. Dort wird man nach Leistung bezahlt. Trotzdem bekommt man auch bei der Akkordarbeit nicht den wahren Wert der Arbeit ausbezahlt, sondern einen ebenfalls tieferen Stückpreis pro hergestellte Einheit.

Was bedeutet Mehrwert?

Wenn man gegen einen Lohn angestellt ist, entspricht die Höhe des Lohnes nie dem produzierten Wert. Unabhängig vom Anstellungsverhältnis führt dies dazu, dass man einen gewissen Teil seiner Arbeitszeit gratis für die Firmenbesitzer:innen arbeitet. Die Differenz zwischen dem gesamten produzierten Wert und dem ausbezahltem Lohn nennen wir Mehrwert.

Ein Beispiel: Wenn ein:e Maurer:in von ihrem:seinem Vorgesetzten den Auftrag erhält, eine Mauer zu bauen, gibt diese:r vor, dass die Mauer bis am Abend stehen muss. Nach 4 Stunden hat der:die Maurer:in so viel Wert erschaffen, dass alle Kosten gedeckt sind. Das bedeutet der eigene Lohn, das Verbrauchsmaterial, die Abnützungskosten der Maschinen, die Miete des Büros, der Lohn der:des Chef:in und die Versicherungen wurden eingebracht. Die restlichen 4 Stunden des Tages generiert die Arbeiter:in Mehrwert für die Firma.

Die Firmenbesitzer:innen haben gewisse Fixkosten wie zum Beispiel die Miete, die Maschinen oder das Verbrauchsmaterial, welche dadurch charakterisiert werden, dass sie unveränderbar sind. Gleichzeitig sprechen wir beim Lohn von variablen Kosten, da dieser sehr wohl veränderbar ist. Desto kleiner der Anteil des Lohnes am gesamten produzierten Wert, desto höher fällt der Mehrwert für die Firmenbesitzer aus.

Daher haben die Besitzer:innen ein Interesse daran, die Löhne möglichst tief und die Arbeitszeit und Intensität möglichst hoch zu halten. Diese Aneignung fremder Arbeit ist es, was wir gemeinhin als Ausbeutung von Arbeitskraft verstehen. Je mehr Mehrwert dabei hergestellt wird, desto höher ist die Ausbeutung und desto ungerechter wird das Geld verteilt. Auf diese Weise geht immer mehr Arbeitszeit für den Profit einiger weniger drauf.

Genau hier setzt die Forderung nach «weniger Arbeit für gleichen Lohn» an. Man senkt dadurch den Mehrwert, den sich die Firmenbesitzenden aneignen, und verschiebt somit die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse.

Entwicklung der Technologie

Durch die Digitalisierung und die neuen Technologien der letzten Jahre wurde unsere Arbeitsproduktivität massiv erhöht. Die letzte grosse Arbeitsverkürzung in der Schweiz kam 1918 nach dem bisher einzigen Generalstreik zustande. Damals streikten rund 250’000 Arbeiter:innen. Dank diesem Streik wurde die 48-Stunde-Woche eingeführt. Das aktuelle Arbeitsgesetz schreibt 45 bis 50 Stunden Wochen vor. Je nach Branche ist in den (Gesamt-)Arbeitsverträgen eine tiefere Stundendotierung festgelegt. Dieses wurde 1966 eingeführt. Aktuell wird in der Schweiz im Schnitt wöchentlich mindestens 42 Stunden gearbeitet. Seit 1966 entwickelt sich die Technik weiter und unsere Produktivität wurde pro Stunde massiv erhöht. Der Mehrwert der besitzenden Klasse wird stetig grösser und der Reichtum nimmt zu, während die Reallohnerhöhungen für die Arbeiter:innenklasse dem Produktivitätswachstum hinterherhinkt und gleichzeitig Mieten und Krankenkassen – und zur Zeit wegen dem Krieg gegen die Ukraine auch die Energiepreise für Transport und Heizung – massiv ansteigen.

Überproduktion

Unsere Welt wird überflutet von Waren, welche wir nicht brauchen. Einer der Gründe dafür ist, dass das kapitalistische System auf Konkurrenz basiert, was einen Wachstumszwang zur Folge hat, dass sich die einzelnen Firmenbesitzer:innen zwangsläufig immer mehr Mehrwert aneignen müssen, um im Wettkampf bestehen zu können. Die Herstellung von Waren ist immer mit dem Verbrauch von natürlichen Ressourcen verbunden. Durch Arbeit werden stoffliche Ressourcen verändert und verarbeitet und in Waren umgewandelt. Wie beim menschlichen Stoffwechsel auch, entsteht beim gesellschaftlichen Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur Abfall – in Form von Plastik- und anderem Müll, aber auch in Form von Treibhausgasemissionen. Durch die kapitalistische Art der Warenproduktion, die sich am „immer mehr“ orientiert, ist der Stoffwechsel mit der Natur seit der Industrialisierung dermassen aus dem Gleichgewicht geraten, dass sich das Klima dadurch nachhaltig verändern wird. D.h. umweltschädliche Emissionen werden in einem Ausmass ausgeschieden, das die Umwelt nicht ausgleichen kann, und Ressourcen, die wir zum Überleben brauchen, werden im Übermass verbraucht.

Um die absolute Klimakatastrophe zu verhindern, müssen wir deshalb möglichst rasch anfangen, nur noch das herzustellen, was wir wirklich brauchen. Das heisst, dass wir den Antrieb der wirtschaftlichen Produktion vom Kopf auf die Füsse stellen müssen und nicht mehr nach Gewinn (Mehrwert), sondern nach Bedürfnissen produzieren.

Eine Arbeitsverkürzung hilft uns dabei, weniger zu produzieren. Eine verminderte Produktion soll daher auch nicht durch eine Erhöhung der Produktivität ausgeglichen werden, sondern zu einer Verringerung der Masse an hergestellten Waren führen, um die Natur weniger zu belasten.

Arbeitszeitverkürzung als ökologische Forderung

Die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung bei gleich bleibendem Lohnausgleich ist also nicht nur eine Möglichkeit, um den Mehrwert zu verringern bzw. mehr vom geschaffenen Wert beim dessen eigentlicher:en Schöpfer:in zu behalten. Arbeitszeitverkürzung hängt auch mit dem Ziel einer nachhaltigen Verwendung natürlicher Ressourcen zusammen.

Dieselben Triebkräfte, die Lohnabhängige für immer weniger Reallohn immer mehr schuften lassen, betreiben immer mehr Raubbau an den lebensnotwendigen Ressourcen der Erde. Wenn aber weniger produziert wird – nämlich nur noch das, was Menschen tatsächlich brauchen – muss auch Wohlstand neu definiert werden. Eine Konsumgesellschaft, wo der Mensch ausgelaugt nach ausbeutender Arbeit nur noch dumpf vor der Mattscheibe sitzen und immer mehr Konsumgüter verschlingen kann, um die Entfremdung von einem Leben, das seinen Neigungen als Mensch enstpricht, auszuhalten, ist mit einer Anpassung an eine nachhaltige Produktion nicht haltbar. Hier kommt die Arbeitszeitverkürzung zum Zuge: wer weniger arbeiten muss, um sein Überleben zu sichern, hat mehr Zeit für Gesellschaftsverwaltung, Freundschaften und Familie sowie für persönliche Entfaltung zur Verfügung, hat mehr Zeit dafür, ein aktiv beitragender und entscheidender Teil der Gesellschaft zu werden, anstatt eines ausgebeuteten Malochers.

Das Motto des Strike for Future nach einer radikalen Arbeitszeitverkürzung verbindet also soziale, feministische und ökologische Anliegen. Der Bottom-up Aktionstag am 9. April lebt von der selbstorganisierten Mitarbeit von Kollektiven und Einzelpersonen. Organsiert euch in Gruppen, plant eigene Aktionen oder beteiligt euch an bestehenden Aktionen und macht eure Mitmenschen auf die Thematik aufmerksam. Fürs Klima und für ein besseres Leben. Arbeiter:innen aller Klimazonen vereinigt euch!


[1] Marx differenzierte in „Lohn, Preis, Profit“ (1865) allerdings: «Allein es gibt gewisse eigentümliche Merkmale, die den Wert der Arbeitskraft oder den Wert der Arbeit vor dem Wert aller andern Waren auszeichnen. Der Wert der Arbeitskraft wird aus zwei Elementen gebildet – einem rein physischen und einem historischen oder gesellschaftlichen. Seine äußerste Grenze ist durch das physische Element bestimmt, d.h. um sich zu erhalten und zu reproduzieren, um ihre physische Existenz auf die Dauer sicherzustellen, muß die Arbeiterklasse die zum Leben und zur Fortpflanzung absolut unentbehrlichen Lebensmittel erhalten. […] Außer durch dies rein physische Element ist der Wert der Arbeit in jedem Land bestimmt durch einen traditionellen Lebensstandard. Er betrifft nicht das rein physische Leben, sondern die Befriedigung bestimmter Bedürfnisse, entspringend aus den gesellschaftlichen Verhältnissen, in die die Menschen gestellt sind und unter denen sie aufwachsen. […] Dies historische oder gesellschaftliche Element, das in den Wert der Arbeit eingeht, kann gestärkt oder geschwächt, ja ganz ausgelöscht werden, so daß nichts übrigbleibt als die physische Grenze. […] Vergleicht ihr die Standardlöhne oder Werte der Arbeit in verschiednen Ländern und vergleicht ihr sie in verschiednen Geschichtsepochen desselben Landes, so werdet ihr finden, daß der Wert der Arbeit selber keine fixe, sondern eine variable Größe ist, selbst die Werte aller andern Waren als gleichbleibend unterstellt.»

Verwandte Artikel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert