In den letzten Jahrzehnten mussten mehr als 300 Dörfer in Deutschland dem Braunkohletagebau weichen. Lützerath ist das nächste Dorf, das für die Profitinteressen des deutschen Energiekonzerns RWE zerstört werden soll. Das Dorf im rheinischen Braunkohlerevier wurde deshalb vor 2 Jahren von Klimaaktivist:innen besetzt. Am 2. Januar 2023 hat nun die Polizei im Auftrag der schwarz-grünen Landesregierung in Nordrhein-Westfalen und von RWE mit der Räumung der Besetzung begonnen. RWE begründet die Zerstörung des Dorfes explizit politisch: „Keine Befriedung: Es entstünde eine Motivation zu weiteren Blockaden. Damit zusätzliche Unsicherheiten bei der weiteren Tagebauführung“, schreibt der Konzern in einer Stellungnahme im August 2022. Wir führten ein Interview mit Annika, einer Verteidigerin von Lützerath. Sie engagiert sich seit einem Jahr im besetzen Dorf. (Red.)
sozialismus.ch: Hallo Annika, du bist zur Zeit in Lützerath und beteiligst dich an den Blockaden, um das Dorf zu schützen. Welche Bedeutung kommt „Lützi“ zu im Kampf gegen die Klimakatastrophe?
Annika: Die Klimakatastrophe ist schon längst in die Lebensrealitäten vieler vorgedrungen. Die Erde hat sich seit dem vorindustriellen Zeitalter bereits um 1,2 Grad erhitzt. Und das verursacht unermesslich grosse Zerstörungen – im Moment noch vor allem im Globalen Süden. Hier im rheinischen Braunkohlerevier, wo Lützerath liegt, machen der Staat und der Energiekonzern RWE so weiter, als wäre nichts gewesen. Dabei ist das dortige Kohlerevier die grösste CO2-Quelle Europas. Unter dem Vorwand der eigenen „Energiesicherheit“ und um den Profit von RWE zu maximieren, werden hier ganz direkt und gezielt die Lebensgrundlagen von Millionen von Menschen in anderen Teilen der Welt untergraben – das ist Teil der neokolonialen Ausbeutung. In Lützerath haben wir dafür gesorgt, dass das hier gerade besonders deutlich wird: Wir haben einen utopischen Ort geschaffen, der einem riesigen, verwüsteten Drecksloch direkt gegenübersteht.
In Lützerath hängt ein grosses Transparent mit der Aufschrift «Hier verläuft 1.5-Grad-Grenze». Was hat es damit auf sich?
Dabei geht es vor allem auch darum aufzuzeigen, wie heuchlerisch die Beteuerung des deutschen Staates sind, gegen die Klimakatastrophe vorgehen zu wollen. Deutschland hat sich eigentlich dazu verpflichtet, die 1.5-Grad-Grenze einzuhalten. Forscher:innen haben aber schon mehrmals bewiesen, dass es unmöglich ist, diese Grenze einzuhalten, wenn Lützerath zerstört und die Kohle darunter verheizt wird. Wir vertreten aber die Position, dass schon die jetzige Erhitzung viel zu weit geht und die Leben vieler zerstört. Dies wird sich auch mit dem Einhalten der 1,5-Grad-Grenze nicht ändern. Hier in Lützerath wird die parlamentarische Demokratie mit ihren Wohlfühl-Versprechen demaskiert.
Im Oktober 2022 hat die deutsche Bundesregierung entschieden, das Gebiet um Lützerath definitiv für den Kohleabbau freizugeben. Am 2. Januar 2023 hat nun die Polizei mit der Räumung des besetzten Dorfes begonnen. Kannst du uns die Stimmung unter den Aktivist:innen schildern?
Wir sind selbstverständlich wütend und frustriert. Darüber, dass mitten in der Klimakatastrophe noch Dörfer niedergerissen werden, um mehr Kohle verheizen zu können. Aber auch darüber, dass diese Besetzung, in der wir während der letzten zwei Jahre versucht haben, einen Gegenentwurf zum ausbeuterischen kapitalistischen System aufzubauen, jetzt mit gewaltsamen Mitteln zerstört wird. Vor allem aber sind wir kämpferisch. Noch bis zum 9. Januar kann Lützerath sicher erreicht werden. In den letzten Tagen sind hunderte Aktivist:innen neu eingetroffen, um die Besetzung zu verteidigen. Wir werden dafür sorgen, dass die Räumung für die Behörden zu einem Desaster wird.
Die grüne Wirtschaftsministerin von Nordrhein-Westfalen, Mona Neubaur, meinte in den Medien, dass an der Räumung kein Weg vorbei gehe. Was löst es unter den Besetzer:innen aus, dass ausgerechnet eine grüne Politikerin die vom westfälischen CDU-Innenminister Herbert Reul veranlasste Räumung gutheisst?
Wir haben nie Hoffnung in die parlamentarische Politik gesetzt. Wieso auch? Die Klimakatastrophe kann nicht innerhalb des kapitalistischen Systems bekämpft werden, welches sie überhaupt erst hervorgebracht hat. Was es braucht, ist Widerstand von unten. Statt mit Politiker:innen haben wir uns international mit Aktivist:innen vernetzt, die gemeinsam mit uns für Klimagerechtigkeit – und seit Jahrhunderten gegen koloniale Ausbeutung – kämpfen.
Wie organisiert ihr den Widerstand gegen die Räumung?
Überall in Lützi haben wir Barrikaden gebaut. Wir halten die Häuser besetzt und haben die Baumhäuser so miteinander verbunden, dass wir mehrere Wochen lang darin ausharren können. Wenn immer möglich werden wir die Polizist:innen und ihre Räumungsmaschinen blockieren. Dazu gehören auch Massenaktionen, wie sie etwa von Ende Gelände bekannt sind. Lützerath ist aber auch ein symbolischer Schauplatz – der Widerstand muss nicht nur dort stattfinden. Es gibt auch andernorts Demos und Soliaktionen. Jede Form von Unterstützung zählt.
Aller Voraussicht nach wird sich die Staatsmacht durchsetzen und wie schon im Hambacher Forst die Räumung mit allen Mitteln – und aller Gewalt und sogar unter Inkaufnahme von Todesopfern – durchsetzen. Was kommt danach? Welche Lehren müssen wir daraus ziehen?
Zunächst werden wir gemeinsam die Räumung nachbearbeiten und reflektieren. Sicher ist, dass wir weiterhin gemeinsam Widerstand leisten werden. Auch wenn der Ort zerstört ist: Die Vernetzung, die geleistete Bildungsarbeit – all das wird ja bleiben. Und wir werden unsere Erfahrungen in die kommenden Kämpfe tragen. Die Behörden mögen meinen, dass sie mit der Räumung von Lützerath den Widerstand brechen können. Aber so viel uns auch an diesem Kampf und an dieser Besetzung liegt, ist ja auch völlig klar: Lützerath ist überall. Wir kommen wieder, keine Frage.
Foto-Credits gehen an die Lützi-Aktivist:innen Christoph Schnüll & David Block.