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«All in»: Für das Klima den Kapitalismus bis 2030 überwinden

Die Autor:innen des neuen Strategiebuchs «All in» wollen den Kapitalismus in den nächsten Jahren überwinden, um weitere Klimakrisen zu verhindern. Im Interview spricht Mariana Rodrigues, portugiesische Klimaaktivistin und Co-Autorin des Buchs, über den Aufbau einer Klimagerechtigkeitsbewegung, die durch ihre Diversität international schlagkräftig wird.

Interview mit Mariana Rodrigues; von AG Ökosozialismus (BFS Basel)

BFS: Mariana, du und dein Genosse Sinan haben das Buch «All in» geschrieben: ein Handbuch für den Aufbau einer revolutionären, internationalistischen Klimagerechtigkeitsbewegung. Wofür brauchen Klimaktivist:innen ein solches Handbuch?

Mariana Rodrigues: Sinan und ich haben das Buch zwar geschrieben, aber es ist das Resultat unzähliger Gespräche und der Arbeit von vielen tollen Menschen aus internationalen Kontexten. Ich bin auch keine Schriftstellerin, sondern eine Organizerin. Wir wollten die geführten Debatten und die daraus entstandenen Argumente in ein einfaches und direkt anwendbares Format übersetzen. Das Buch ist für alle, nicht nur Klimaaktivist:innen, und soll allen sozialen Bewegungen als Werkzeug dienen.

Zwei zentrale Diskussionen, die wir im Laufe der letzten Jahre geführt haben, führten uns zu diesem Buch. Einerseits dreht sich viel in der Klimagerechtigkeitsbewegung um ein Gefühl der Dringlichkeit, also die Idee einer Deadline, als einem bestimmten Zeitpunkt, zu dem das Ende von fossilen Energieträgern herbeigeführt werden muss. Es fehlt uns jedoch oft ein tieferes Verständnis darüber, wie der Staat, die Gesellschaft und Macht funktionieren. Wir sagen zwar, dass das Ende der fossilen Energie bis 2030 erreicht werden muss, doch uns fehlt die Strategie, um dies auch umzusetzen.

«Wir brauchen eine Strategie, wie wir den Kapitalismus in kurzer Frist überwinden können.»

Andererseits gibt es viele Bewegungen und Organisationen, die den Systemwandel bereits verstehen und ihn als Notwendigkeit anerkennen, aber noch mit der Erkenntnis kämpfen, dass wir bereits in der Klimakrise leben und die Verantwortung für den Kampf gegen die Klimakrise nicht erst bei der nächsten Generation, sondern bereits bei uns liegt.

Beide Diskussionen werden gleichzeitig, aber getrennt geführt. Das Gefühl bei beiden Diskussionen ist jedoch das gleiche: frustrierend und zutiefst hoffnungslos. Wir wissen, dass der eingeschlagene Pfad zu nichts führen wird. Und wir wissen, was wo zu tun wäre. Es besteht aber eine immense Lücke, welche es zu überbrücken gilt. Unser Strategiebuch soll aufzeigen, wie wir dahin kommen, wo wir hinwollen und hinmüssen. Es bietet die notwendigen Werkzeuge, um diese Brücke zu schlagen. Es zeigt ein kollektives Verständnis für die verschiedenen Optionen auf und hilft das grosse Ganze zu sehen. Es schafft Rahmenbedingungen für unseren Kampf und vereint die verschiedenen Wege, um das gemeinsame Ziel zu erreichen.

Blockade der Grossbank UBS, 2020

In der Klimagerechtigkeitsbewegung existieren – grob gesagt – zwei Ansätze. Einerseits die Idee, dass wir zuerst den Kapitalismus überwinden müssen, um dann die Klimakrise zu lösen. Andererseits die Ansicht, dass wir aufgrund der Dringlichkeit zuerst die Klimakrise bewältigen müssen, bevor wir uns den Kapitalismus zum Gegner machen. Ihr plädiert für die Verbindung dieser beiden Ansätze. Warum fällt es der Klimagerechtigkeitsbewegung manchmal schwer, Ökologie und Antikapitalismus zu vereinen?

Dieses Zusammendenken ist emotional, konzeptuell und strategisch schwierig. Wir müssen den bisher grössten Wandel in sehr kurzer Zeit bewerkstelligen. Angesichts dieser Herausforderung gibt es Aktivist:innen, die sagen, dass es einen anderen Weg geben muss. Doch hierin besteht das Problem: Es gibt keinen anderen Weg. Innerhalb des Kapitalismus kann die Klimakrise nicht gelöst werden. Und gleichzeitig können wir die Kämpfe für ein gerechteres System nicht gewinnen, wenn die Klimakrise nicht gelöst wird.

Wir befinden uns an einem Wendepunkt: Alles ändert sich, und diese Änderungen müssen wir verstehen und daraus unsere Aktionen ableiten. Das ist die grösste Herausforderung, vor allem im globalen Norden.

Strategie-Tour im Juni 2025

Mariana Rodrigues tourt zwischen dem 10. und dem 29. Juni 2025 durch die Schweiz und wird das Strategie-Buch «All in» in verschiedenen Workshops zur Diskussion stellen. Eingeladen sind Klimaaktivist:innen und alle anderen Interessierten. Infos zu den Workshops in den Städten Genf, Lausanne, Zürich, Basel und Bern folgen auf unserer Homepage und anderen Kanälen der Klimagerechtigkeitsbewegung.

Wenn ihr von Deadlines sprecht, meint ihre keine sozialen oder politischen Deadlines, sondern geophysikalische. Mit solchen waren soziale Bewegungen historisch nur selten konfrontiert. Was ändert sich für die Klimagerechtigkeitsbewegung, wenn die Deadline ihres Kampfes eine geophysikalische ist?

Dadurch ändern sich zwei Dinge. Erstens realisieren wir, dass der Kampf bei uns liegt und wir ihn nicht einfach zukünftigen Generationen überlassen können. Die Aussage «Der Kampf geht weiter» verliert damit seine bisherige Gültigkeit.

Zweitens können und müssen wir uns damit von Ansätzen lösen, die nicht mehr funktionieren. Aktivist:innen denken oft, ihre Praxis sei die richtige. Doch wenn diese Praxis nicht funktioniert, dann muss sie durch neue, wirksamere, Strategien ersetzt werden. Schliesslich muss es darum gehen, jetzt effektiv zu sein.

Die Frage muss lauten: Bringt uns die Strategie dorthin, wo wir hinwollen? Falls nicht: Warum sollen wir noch weiter machen? Lasst uns mit Neuem experimentieren, auch wenn wir dadurch etwas riskieren. Diesen experimentellen Zyklus müssen wir so lange weiterführen, bis wir unser Ziel erreichen. Dabei muss die Klimagerechtigkeitsbewegung agil sein und laufend evaluieren, was funktioniert und was nicht. Das ist auch wichtig in Bezug auf unser strategisches Zeitverständnis. Wenn eine Strategie theoretisch zwar funktioniert, aber nicht innerhalb dieser geophysikalischen Deadline zum Ziel führt, dann muss die Strategie verworfen werden.

Ihr fordert von der Klimagerechtigkeitsbewegung nicht nur mehr Ehrlichkeit, Dynamik und Experimentierfreudigkeit, sondern auch mehr Selbstvertrauen bezüglich unserer Erfolgschancen. Haben wir als Klimagerechtigkeitsbewegung zu selten das tatsächliche Überwinden der Klimakrise angestrebt?

Wenn wir uns vergegenwärtigen, was Regierungen und Unternehmen im Jahr 2025 machen, wird klar, dass wir innerhalb des Kapitalismus das Ende fossiler Energieträger bis 2030 nicht erreichen werden. Doch dieses Ende wäre nötig, um den Klimakollaps zu verhindern. Deshalb brauchen wir eine Strategie, wie wir den Kapitalismus in kurzer Frist überwinden können. Dafür sind Brüche mit dem Bestehenden notwendig. Die Perspektive der Überwindung des Kapitalismus fehlt generell, nicht nur in der Klimagerechtigkeitsbewegung.

Ausserdem mangelt es uns an Ambitionen. Die meisten Leute denken nicht von sich selbst, dass sie revolutionär sein könnten. Doch wie können wir dies von uns denken, wenn wir nicht daran glauben, dass wir gewinnen können?

Lass uns zu einem vielleicht pikanten Aspekt eures Buchs kommen: Ihr schlagt eine Bewegung als Partei vor. Könntest du das zu deiner Forderung, dass sich die Klimagerechtigkeitsbewegung selbst organisieren soll, ins Verhältnis setzen?

Alle Organisationen und Kollektive sollten sich immer fragen, was ihre Rolle in und ihr Beitrag zur internationalen Klimagerechtigkeitsbewegung sein könnte. Wir müssen uns kollektiv organisieren und koordinieren, um dies zu erreichen. Diese Koordination kann verschiedene Formen annehmen. Schliesslich wird es auf eine Bewegung hinauslaufen, die auf unterschiedlichen Ebenen mit unterschiedlichen Charakteristika agiert. Dabei werden Differenzen unausweichlich sein. Diese Bewegung muss eine historische Verantwortung wahrnehmen und liefern. Wir nennen diese Bewegung eine Partei, weil wir eine Organisationsform brauchen, deren Körper aus unterschiedlichen Elementen und Organisationen mit unterschiedlichen Möglichkeiten besteht, die alle die kurzfristige Überwindung des Kapitalismus anstreben. Jede unabhängige Organisation sollte sich als Teil dieser Parteiebene verstehen. Dabei müssen wir die individuellen Erfahrungen von der Basis mitnehmen. So könnten wir in Zukunft ganz anders agieren, organischer und dezentraler als bis anhin.

«Alle Organisationen sollten sich immer fragen, was ihre Rolle in und ihr Beitrag zur internationalen Klimagerechtigkeitsbewegung sein könnte.»

Sollte die Bewegung als Partei an Wahlen teilnehmen, vielleicht sogar repräsentative Positionen einnehmen?

Die Bewegung als Partei ist keine monolithische Struktur. Sie ist ein Kollektiv aus unterschiedlichen Organisationen mit ihren jeweils unterschiedlichen Herangehensweisen. Wenn eine Organisation davon überzeugt ist, die Teilnahme an Wahlen mache Sinn, dann sollte sie das tun – sofern das Ziel die Überwindung des Kapitalismus innerhalb der Deadline ist, und nicht der Wahlsieg. Andere Organisationen werden andere Strategien wählen.

Nehmen wir an, es gibt eine Gruppe von zehn oder zwanzig Klimaaktivist:innen in Europa, die sich für Klimagerechtigkeit engagieren wollen. Was würdest du ihnen vorschlagen? Welche Themen, welche Strategien, welche Ziele sollten sie sich im Jahr 2025 setzen?

Nun, sie können unser Buch lesen – Scherz (lacht). Ich denke, sie sollten drei wesentliche Elemente berücksichtigen. Erstens muss man wirklich Anstrengungen und Ressourcen in die internationale Arbeit stecken. Es ist unmöglich, den Kampf gegen den Klimawandel – oder eigentlich jeden Kampf – zu gewinnen, ohne Teil einer globalen Bewegung zu sein.

Zweitens ist es wichtig, einen Plan zu verfolgen und flexibel zu bleiben. Man muss verstehen, was man letztlich erreichen will. Wenn man die Antwort darauf nicht kennt, verlängert man wahrscheinlich den Weg des kapitalistischen Systems. Unser Ziel ist die kurzfristige Zerschlagung des Kapitalismus. In einem so instabilen Kontext wie dem, in dem wir uns derzeit befinden, müssen wir sehr flexibel und anpassungsfähig sein, um dieses Ziel zu erreichen. Wir müssen aus dem, was wir tun, lernen und in der Lage sein, uns sehr kurzfristig anzupassen. Wir müssen wissen, was notwendig ist, um das Ziel zu erreichen, und dürfen das Ziel, also die kurzfristige Zerschlagung des Kapitalismus, nicht aus den Augen verlieren.

Drittens ist es wichtig, die soziale Bewegung, in der wir uns engagieren, zu verstehen. Welche anderen Gruppen gibt es? Was decken sie bereits ab? Und was fehlt noch? Was könnten unsere Rolle und unser Beitrag innerhalb der Klimagerechtigkeitsbewegung sein? 

Die Verbindung dieser drei Elemente wird die derzeitigen Strategien erheblich verbessern und die Klimagerechtigkeitsbewegung sehr viel effektiver machen. Wer keine Antworten auf diese drei Fragen hat, muss diese im Austausch mit anderen Genoss:innen und Organisationen entwickeln und nicht zuletzt die internationale Dimension unseres Kampfes stärken.


Mariana Rodrigues und Sinan Eden (2025): «All In. A Revolutionary
Theory to Stop Climate Collapse», €8,00.

Weitere Infos: www.all-in.now

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