Warum Sozialismus toll ist und wie er wieder zu einer handlungsleitenden Perspektive werden kann.
von BFS/MPS
Seit Beginn der Pandemie warnt der Chefredakteur der Neuen Zürcher Zeitung, Eric Gujer, unablässig vor der Gefahr des aufkommenden Sozialismus. Bisher ist davon leider wenig zu spüren, im Gegenteil. Pandemie und Krise verschärfen die sozialen Ungleichheiten massiv. Während zehntausende Lohnabhängige in der Schweiz arbeitslos geworden und in die Armut abgerutscht sind, nahm das Vermögen des Bürgertums im Jahr 2020 um mehrere Milliarden zu. Insgesamt besitzen die 300 Reichsten in der Schweiz über 700 Milliarden Franken. Wie kommen die zu so unvorstellbar viel Geld?
Der gesamte Reichtum in kapitalistischen Gesellschaften beruht auf der Ausbeutung der Natur und der Arbeitskräfte. Letztere müssen wiederum täglich reproduziert, also ernährt, umsorgt und aufs Neue gestärkt werden; eine Arbeit, die hauptsächlich Frauen tragen, weil sie ihnen durch das gesellschaftliche Geschlechterverhältnis zugewiesen wird. Die Kritik an diesen Verhältnissen sind die theoretischen Prämissen eines feministischen Ökosozialismus. In diesem Sinne erscheint der Kapitalismus als gigantische Enteignungs- und Zerstörungsmaschine, die eben doch «Ursache aller Übel» ist – auch wenn das Eric Gujer nicht wahrhaben möchte.
Die Hypothek der Sozialdemokratie und des Stalinismus
Viele erfahren am eigenen Leib, dass das Funktionieren des Kapitalismus unvernünftig und die Folgen himmelschreiend ungerecht sind. Warum aber entscheiden sich nicht mehr Menschen dazu, für eine alternative, sozialistische Gesellschaft einzustehen? Weil die historische Hypothek noch nicht abbezahlt ist: Sowohl der sozialdemokratische Reformismus (und seine neoliberale Deformation) als auch die stalinistischen Sozialismen sind dafür verantwortlich, dass Sozialismus für die meisten Lohnabhängigen heute ein rotes Tuch ist.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts galt der Sozialismus für weite Teile der Arbeiter:innenschaft als erstrebenswerte Zukunftsvision. Die Hoffnung auf ein Leben in Würde wurde mit der politischen Vorstellung einer egalitären Gesellschaft verbunden. Diese positive Assoziation gilt es neu zu beleben und konkret erfahrbar zu machen.
Die Vielfalt der Bewegungen ist der Nährboden und die Selbstorganisierung der Schlüssel, damit der Sozialismus wieder zu einer handlungsleitenden Perspektive werden kann.
Tatsächlich ist eine Rehabilitation von sozialistischen Ideen insbesondere bei jungen Aktivist:innen feststellbar. Einerseits verdeutlichen die sozialen und ökologischen Verheerungen der letzten Jahrzehnte die Irrationalität des Kapitalismus. Andererseits sind seit dem Zusammenbruch des Ostblocks 30 Jahre vergangen und die Erinnerungen an die stalinistischen Regime verblassen.
Damit der Sozialismus aber sein volles emanzipatorisches Potenzial entfalten kann, muss die sozialdemokratische Pflästerlipolitik ebenso auf dem Müllhaufen der Geschichte landen wie Alleinvertretungsansprüche von Möchtegern-Avantgarden und autoritäre stalinistische Konzepte. Erinnern heisst nicht nur kämpfen, sondern auch lernen.
Sozialismus als gemeinsame Handlungsperspektive
Die Kehrseite der täglich durch den Kapitalismus hervorgerufenen Ungerechtigkeiten ist der vielfältige soziale Widerstand der Unterdrückten. Die sozialen Massenbewegungen haben in den letzten Jahren global und sogar in der Schweiz die Konturen einer anderen Gesellschaft sichtbar gemacht. In diesen selbstorganisierten Bewegungen erleben wir Aktivist:innen eine kollektive Solidarität, die über die Widersprüche des Kapitalismus hinausweist. Diese Erfahrung stärkt uns, reicht aber bis jetzt nicht aus, um die Zersplitterung der Linken zu überwinden. Dafür brauchen wir eine gemeinsame Perspektive. Der Sozialismus kann und soll wieder zum verbindenden Element zwischen unterschiedlichen sozialen Bewegungen und politischen Organisationen werden, wenn gleichzeitig Differenz anerkannt und autoritäre Tendenzen verhindert werden.
Die Vielfalt der Bewegungen ist der Nährboden und die Selbstorganisierung der Schlüssel, damit der Sozialismus wieder zu einer handlungsleitenden Perspektive für die Linke werden kann. Denn die Befreiung der Arbeiter:innenklasse muss das Werk der Arbeiter:innen, (BI-)POC und FLINTQA* selbst sein.