Das schweizerische System der Altersvorsorge wird von vielen „Modernisierern“ auf der ganzen Welt bewundert. Für die Lohnabhängigen fällt die Bilanz der 3 Säulen dagegen zwiespältig aus. Der Historiker Matthieu Leimgruber hat recherchiert, wie diese helvetische Dreiheiligkeit entstanden ist.
von Matthieu Leimgruber
Wie die Geschichte eines Landes geschrieben wird, ist entscheidend für das Verständnis der Gegenwart und der Zukunft. Wenn der Eindruck entsteht, es sei in der Vergangenheit nie etwas passiert bzw. die Geschichte habe zwangsläufig dahin führen müssen, wo sie letztendlich hingeführt hat, dann wird es schwierig, sich Veränderungen in der Zukunft vorzustellen. Kann dagegen aufgezeigt werden, dass die Vergangenheit aus Kämpfen um verschiedene Wege bestand, die die Geschichte hätte nehmen können, erscheint auch die Zukunft offener: Ein Blick zurück legt nahe, dass die Zukunft verschiedene Möglichkeiten enthält, für die es sich zu kämpfen lohnt. Das ist in einem Land wie der Schweiz, in dem scheinbar auf der politischen Bühne nie etwas Umwerfendes passiert, besonders wichtig.
Kritische Geschichte der Schweiz
Lange Zeit gab es denn auch kaum eine unabhängige und kritische Geschichtsschreibung über die moderne Schweiz. Eine Pionierrolle leistete Erich Gruner, der die elementare Tatsache ans Licht förderte, dass entgegen den damals in den politischen, wirtschaftlichen und literarischen Eliten zirkulierenden Behauptungen auch in der Schweiz des 19. Jahrhunderts ein Proletariat entstanden war, das Klasseninteressen verspürte und sich politisch und gewerkschaftlich zu organisieren begann.1 Etwas später zeigten kritische Historiker wie Jakob Tanner oder Hans-Ulrich Jost, wie sehr die Schweiz im Zweiten Weltkrieg mit der deutschen Kriegswirtschaft verbunden war und die „Neutralität“ als diplomatisches Mittel benutzte, um mit beiden Kriegsparteien Geschäfte zu treiben.2 Feministische Historikerinnen wie Regina Wecker und Brigitte Studer warfen ein Licht darauf, wie die Rechte der Frauen in der „ältesten Demokratie der Welt“ Jahrzehnte lang mit Füssen getreten wurden – natürlich mit dem Argument, man wolle die Frauen „schützen“.3
In dieser kritischen Tradition steht auch die Dissertation von Matthieu Leimgruber. Er zeigt, dass das Dreisäulensystem keineswegs eingerichtet wurde, um existenzsichernde Renten im Alter zu gewähren, sondern umgekehrt: Es ging damals gerade darum zu verhindern, dass die AHV existenzsichernde Renten an alle zahlt.
Ein privater Sozialstaat
Nicht wenige Linke denken, dass es in der Schweiz gar keinen Sozialstaat gibt. Andere sind der Meinung, ein solcher sei erst durch die Einführung der Arbeitslosenversicherung (1982), der Krankenversicherung (1994) und der Mutterschaftsversicherung (2003) entstanden. Es ist zwar richtig zu kritisieren, wie bescheiden in der Schweiz die sozialen Rechte der Lohnabhängigen geblieben sind, und wie sehr die Sozialpolitik davor zurückschreckt, die Interessen der Grossunternehmer, Bankiers und Investoren zu verletzen. Aber dabei darf nicht übersehen werden, dass der so genannte Sozialstaat – nicht nur in der Schweiz – zu einem Grossteil aus privaten Einrichtungen besteht, die mit Steuergeldern subventioniert und politisch mehr oder weniger reguliert werden.
Matthieu Leimgruber zeichnet nicht nur die bereits bekannte Geschichte der AHV nach, er rückt auch die versteckte Entwicklung des Pensionskassensystems ins Licht. Bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts richteten grössere Unternehmen Pensionskassen ein. Bald schon konnten sie diese Aufwendungen von den Steuern abziehen. Zudem erwiesen sich die Vorsorgeeinrichtungen als nützliche Instrumente der Personalpolitik sowie als fruchtbares Terrain, um die Gewerkschaftsführungen als „Sozialpartner“ zu vereinnahmen. Die Idee, sich an der Verwaltung der Altersguthaben im Rahmen eines „Volkskapitalismus“ zu beteiligen, übte eine beträchtliche Anziehungskraft aus. Die Versicherungsgesellschaften (Winterthur, Rentenanstalt, Zürich, Bâloise, etc.) stiegen ins Geschäft ein, indem sie den kleineren und mittleren Unternehmen so genannte Gruppenversicherungen für ihr Personal anboten.
3 Säulen statt Volkspension
Die Forderung nach einer öffentlichen Altersvorsorge zählte zu den wichtigsten Themen des Generalstreiks von 1918; eingeführt wurde die AHV aber erst 1948. Dabei achteten der Bundesrat, die Wirtschaftsverbände und die Versicherungslobby darauf, dass die neue Sozialversicherung nicht in Konkurrenz zu den bestehenden privaten Einrichtungen trat, sondern einen Boden legte, auf dem sowohl die „Sozialpartnerschaft“ als auch die privaten Geschäfte gut gedeihen konnten. Deshalb durfte die AHV auf keinen Fall existenzsichernde Renten auszahlen.
Dieses Kalkül geriet in der Wirtschaftsexpansion der 1950/60er Jahre ins Wanken. Unter dem Druck steigender sozialer Bedürfnisse wurden die AHV-Renten erhöht; bis Anfang der 1970er Jahre gab es 8 Revisionen, allesamt mit Leistungssteigerungen. Ende der 1960er Jahre lancierten die PdA und die SP Schweiz je eine Volksinitiative, um die Einführung existenzsichernder Renten zu verlangen: die so genannte Volkspension. Das heutige Dreisäulenmodell wurde damals unter der Führung der Versicherungslobby ausgearbeitet und durch den Bundesrat als Gegenvorschlag zu den Initiativen vorgelegt. Im Dezember 1972 wurde dieses Modell in der Volksabstimmung deutlich angenommen. Die privaten Pensionskassen und Gruppenversicherungen wurden zu den Trägern der obligatorischen Zweiten Säule, und durch Steuerabzüge auf individuelles Alterssparen wurde eine Dritte Säule geschaffen.
Die Rolle der SP
Eine zentrale Rolle in dieser Auseinandersetzung hatte die SP gespielt. Sie war bereits 1943-54 im Bundesrat gewesen, mit den Finanzministern Ernst Nobs und Max Weber. Weber trat im Januar 1954 zurück, nachdem der sozialdemokratische Versuch einer Ausweitung der Bundesfinanzen zur Finanzierung sozialer Programme am bürgerlichen Widerstand gescheitert war.
1959 kehrte die SP mit zwei Vertretern in den Bundesrat zurück; als Zückerchen wirkte die Einführung der Invalidenversicherung (1960). Bis 1973 war nun der Sozialdemokrat Hans-Peter Tschudi für die Sozialversicherungen zuständig. Er führte mehrere AHV-Revisionen mit Leistungsverbesserungen durch. Aber unter seiner Regie wandte sich die Führung der SP Schweiz vom Konzept der Volkspension ab und unterstützte das Dreisäulenmodell in der Volksabstimmung. Die SP hatte sich der Bourgeoisie als nützlicher Junior Partner erwiesen. Auch die Gewerkschaftsführungen zeigten wenig Bereitschaft, das „sozialpartnerschaftliche Pensionskassensystem“ einer umfassenden Sozialversicherung zu opfern.
Wie weiter?
Heute zahlt die AHV Monatsrenten von 1’105 bis 2’210 Franken – das reicht nicht für einen „Ruhestand in Würde“. Über 10 Prozent der RentnerInnen sind auf Ergänzungsleistungen angewiesen. In den letzten Jahren haben die Turbulenzen der Finanzmärkte die Tatsache ins öffentliche Bewusstsein gerufen, dass die Altersguthaben der Zweiten Säule alles andere als sicher sind. Umwandlungssatz und Mindestverzinsung wurden bereits gesenkt, was zu deutlichen Rentenkürzungen führt.
Am 30. November kommt die Initiative der Gewerkschaften „Für ein flexibles Rentenalter“ zur Abstimmung, die allen Erwerbstätigen mit einem Einkommen unter 9160 Fr. den Eintritt in den Ruhestand ab 62 ohne Rentenkürzungen ermöglichen will. Diese Idee ist sicherlich unterstützenswert. Aber um in der Sozialpolitik aus der Defensive zu kommen und aus der Abstimmungsniederlage des Bundesrates mit der 11. AHV-Revision4 Profit zu schlagen, sollte die Linke das Konzept der „Volkspension“ wieder aufgreifen und aktualisieren. Der Zeitpunkt dafür wäre angesichts des gegenwärtigen Misstrauens gegenüber den Banken und Versicherungskonzernen im Moment eigentlich günstig.
_______________
1 Erich Gruner: Die Arbeiter in der Schweiz im 19. Jahrhundert: soziale Lage, Organisation, Verhältnis zu Arbeitgeber und Staat. Bern, Francke Verlag, 1968.
2 Jakob Tanner: Bundeshaushalt, Währung und Kriegswirtschaft: eine finanzsoziologische Analyse der Schweiz zwischen 1938 und 1953. Zürich, Limmat Verlag, 1986; Hans-Ulrich Jost: Politik und Wirtschaft im Krieg: die Schweiz 1938-48. Zürich, Chronos, 1998.
3 Regina Wecker, Brigitte Studer und Gaby Sutter: Die schutzbedürftige Frau: zur Konstruktion von Geschlecht durch Mutterschaftsversicherung, Nachtarbeitsverbot und Sonderschutzgesetzgebung. Zürich, Chronos, 2001.
4 Am 16. Mai 2004 wurde die 11. AHV-Revision mit 67.9 Prozent Neinstimmen abgelehnt. Es handelte sich im Wesentlichen eine Sparvorlage: Erhöhung des Frauenrentenalters auf 65, Kürzungen bei den Witwenrenten und Anpassung der Renten an die Teuerung nur noch alle 3 (statt alle 2) Jahre. Bundesrat und Parlament versuchen seither, sich auf eine Neuauflage der 11. AHV-Revision zu einigen.