Die Krise in Europa ist bei weitem nicht zu Ende. Die Schweiz als ökonomisch stark an die EU gebundenes Land bleibt von den Folgen der Krise nicht verschont. In der Linken werden breit Krisenanalysen und politische Strategien zum Ausgang aus der Krise formuliert. Doch kaum jemand wagt sich an die Frage, wie die herrschende Produktionsweise aufgehoben werden könnte.
von Maurizio Coppola; aus vorwärts
Anfang August trafen sich die JungsozialistInnen der Schweiz (Juso) im Wallis zum jährlichen Sommerlager. Im Zentrum des Ausbildungscamps stand die „1:12“-Initiative, mit der die Juso wieder Fragen um (Um-)Verteilung und „soziale Gerechtigkeit“ aufs politische Tapet bringen will. Mit der von Gewerkschaften und SozialdemokratInnen lancierten Mindestlohninitiative gehört die „1:12“-Initiative sinnbildlich zu einer linken Krisenpolitik, welche mit Hilfe des Staates die Arbeits- und Lebensbedingungen der arbeitenden Klassen verbessern solle. Die Bourgeoisie nimmt diese Bestrebungen ernst. Die Neue Züricher Zeitung (NZZ) betreibt seit Monaten eine Kampagne gegen die sozialdemokratischen Anliegen, Tag um Tag werden Studien und Kommentare publiziert, welche die negativen Folgen einer staatlich regulierten Lohnpolitik (Arbeitsplatzvernichtung, Abgang von Topmanagern, Steuerausfälle etc.) aufzeigen sollen.
In der linken Krisenpolitik geht es jedoch nicht mehr um Klassenkampf, sondern fast ausschliesslich nur noch um Abstimmungskampf. Für einen Abstimmungserfolg wird auch nicht zurückgeschreckt, die Waffen der Gegner anzuwenden. Praktische Politik heisst heute in der Linken in erster Linie Rhetorik- und Medientraining. Diese politischen Strategien basieren auf der Überzeugung, die vom Kapitalismus produzierten Institutionen können durch genügend politischen Druck und durch ihre Umgestaltung für das Wohl aller (siehe den SP-Slogan „Für alle statt für wenige“) benutzt und die Krise verscheucht werden.
Linke Reformillusionen
Dass es bei den Vorschlägen einer „Umsteuerung der sozioökonomischen Entwicklung“ auch um die berechtigte Angst vor den sozialen Folgen der globalen Krise geht, daran besteht kein Zweifel. Doch verschwindet aus diesen Überlegungen der Gedanke an die Sachzwänge der politischen Ökonomie vollständig. Es liegt aber in der Natur des kapitalistischen Gesellschaftssystems, dass Hochkonjunkturen irgendwann zur allgemeinen Überproduktion mutieren und die Profitrate sinkt. Das Kapital kann seine Akkumulation längerfristig nur über die vorübergehende Zerstörung von Arbeit und Kapital selbst retten. Dieser Prozess ist durch keine gut gemeinte Umverteilungspolitik zu „bereinigen“.
Dadurch wird auch der Staat als „Kampffeld“ verstanden, auf dem es mitzumischen gilt. Die Krisen-Lösungsvorschläge beschränken sich denn auch auf eine „bessere“ Wirtschaftspolitik oder auf künftige Regierungsbeteiligungen (siehe zum Beispiel Syriza in Griechenland). Solche Reformillusionen helfen niemandem wirklich. Vielmehr werden dadurch mögliche Klassenkämpfe in institutionelle Bahnen gelenkt und „befriedigt“.
Mythos Neoliberalismus
Damit einher geht die Kritik am „Neoliberalismus“, der als Rückzug des Staates aus der ökonomischen Sphäre zwecks Bereicherung der Reichen verstanden wird, und der Verweis auf die besseren Zeiten der „sozialen Marktwirtschaft der Nachkriegszeit“. Die „goldenen“ Jahre des Kapitalismus (1950-1980) basierten jedoch gerade auf der Vernichtung von Kapital während des Zweiten Weltkrieges und auf einem nachfragestützenden Sozialstaat. Der Sozialstaat stellt also kein Gegenstück zum Kapitalismus dar, sondern seine ergänzende Institution. Die wirkliche Natur des Sozialstaates kam dann zum Vorschein, als der Kapitalismus in den 1980er Jahren wieder in eine Krise stürzte und auch der Sozialstaat daran nichts ändern konnte. Keine einzige Krise in der Geschichte wurde über den sozialstaatlichen Weg überwunden.
Auch das Krisenmanagement seit 2008 zeigt keine Spur neoliberaler Hegemonie. Die Regierenden haben stets auf die staatlichen Institutionen zurückgegriffen, wenn es zu brenzlig wurde (Rettungspakete, Konjunkturprogramme). Auch die radikalsten Staatskritiker-KapitalistInnen fürchten einen Crash mehr als die staatliche Rettung der bestehenden Ordnung.
Wann wenn nicht jetzt?
In ganz Europa – und auch in der Schweiz – herrscht bei den Linken das Gefühl, jetzt sei der Moment gekommen, um eine wirkliche „linke Wirtschaftspolitik“ zu propagieren, um die fragile Situation der Herrschenden auszunutzen. Hinter dieser Überzeugung steckt eine Menge Politizismus, also die Vorstellung, der Kapitalismus liesse sich auf politischem Wege und schrittweise per Reformen aufheben. Doch eine „soziale Krisenlösung“ gibt es nicht und hat es auch nie gegeben.
Die wirtschaftliche Depression produziert Massenarbeitslosigkeit (die Hälfte der spanischen, griechischen und italienischen Jugendlichen sind ohne Arbeit) und eine autoritäre und repressive Reaktion auf Platzbesetzungen, Wiederaneignung von geräumten Wohnungen und Arbeitskämpfen. Wäre es nicht gerade jetzt an der Zeit, über die Abschaffung des Lohnsystems, über das Ende des Staates und über die Fähigkeit zur Selbstorganisation der Menschen zu sprechen? Die globalen Kämpfe werden die Krise nicht lösen, sondern sie unausweichlich verschärfen. Damit setzen diese Kämpfe, bewusst oder unbewusst, jene Frage nach der Aufhebung der jetzigen Produktionsweise auf die Tagesordnung. Jene Frage, die sich Linke in ihrer Reformborniertheit schon gar nicht mehr stellen.