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Schweizer Gesundheitssystem: 20 Jahre nach der Einführung des KVG

Wo steht das Gesundheitssystem in der Schweiz, zwanzig Jahre nach dem Inkrafttreten des Krankenversicherungsgesetzes (KVG)? Ein Beispiel, wie sich Konzerne unserer Gesundheit bemächtigen.

von Benoît Blanc (BFS/MPS)

Einige in den letzten Monaten gesammelte „News“ spiegeln die Stimmung wieder:

  • „Zürcher Spitäler investieren Milliarden“, so eine Schlagzeile der NZZ vom 2. Dezember 2015, in der dem Thema eine Doppelseite gewidmet wird – einem Thema von (finanziellem) Interesse … für gewisse Menschen. Es geht um 2,6 Milliarden in 10 Jahren, zwischen 2013 und 2023, um genau zu sein. Und dies nach Inkrafttreten der neuen Spitalfinanzierung im Jahr 2012.
  • Dieselbe Tageszeitung stellt eine Woche später (9. Dezember 2015) fest: Bei den Anbietern von Pflege daheim herrscht Goldgräberstimmung. In kaum einem anderen Markt sind die Wachstumsprognosen so sicher.“ Auch die Finanzierung der Pflege steht seit 2011 auf neuen Füssen.
  • Am 18. Dezember 2015 hat die FDP-SVP-Mehrheit die Gesetzesvorlage versenkt, die den Kantonen dauerhaft ermöglicht hätte, die Zulassung von Spezialärzt*innen zu begrenzen. Für diese mit den Krankenkassen in enger Verbindung stehenden Netze der Rechten – Ignazio Cassis, Präsident der FDP-Fraktion im Bundeshaus, ist Präsident von curafutura, einem der zwei Dachverbände der Krankenversicherungen; der Präsident von santésuisse, dem anderen Dachverband, ist SVP-Vertreter Heinz Brand – geht es darum, „bürokratische Regulierungsmassnahmen“ durch Marktmechanismen zu ersetzen. Dazu zählen niedrige Tarife für Ärzt*innen in Gebieten mit einem höheren Angebot oder die Abschaffung des Vertragszwangs (d.h. die Verpflichtung der Krankenkassen, mit allen zugelassenen Ärzt*innen abzurechnen). Zufall (?): Am Tag der Abstimmung veröffentlichte die NZZ den letzten Artikel der Serie „Liberale Agenda: Was die Schweiz tun muss“ – ein Vademekum für eine neue Welle der Gegenreformen in der Schweiz – mit dem Titel „Für ein freiheitliches Gesundheitswesen“: Die Aufhebung des Vertragszwangs wird darin als Schlüsselmassnahme für „mehr Wettbewerb“ präsentiert.
  • Ende September 2015 berichtete die Presse über die Übernahme der SantéMed-Kette und von 23 Gesundheitszentren der Swica-Versicherung durch Medbase – einer Gruppe von 12 Gesundheitszentren der Migros. Dies resultiert in einem vom orangen Riesen kontrollierten Unternehmen mit 35 Gesundheitszentren, bei denen mehr als 500 Gesundheitsfachkräfte angestellt sind – darunter 217 Ärzt*innen und 163 Physiotherapeut*innen. Migros setzt somit einen (Elefanten-)Fuss ins Zentrum der „freisinnigen Medizin“.
  • Ein weiterer historisch freisinniger Sektor: die Apotheken. Im Jahr 2014 waren ein Drittel der Apotheken nicht mehr unabhängig, sondern Teil von Ketten. Fast ein Fünftel der Apotheken gehörte zu Galenica, der Medikamenten-Grosshändlerin, die ihre vertikale Integration ausgebaut hat und u.a. die Amavita- und Sunstore-Ketten besitzt.

Der Markt, im Herzen des KVG

Das Gesetz über die obligatorische Krankenversicherung (KVG), das unter Aufsicht der „sozialistischen“ Bundesrätin Ruth Dreifuss (1. April 1993 bis 31. Dezember 2002 und vormals Gewerkschaftsfunktionärin) ausgearbeitet wurde, wird v.a. mit der obligatorischen Krankenversicherung (trotz dem bereits vorgängig hohen Deckungsgrad) und den Pro-Kopf-Prämien in Verbindung gebracht – einkommensunabhängige Prämien ohne „Arbeitgeberbeteiligung“, d.h. ohne indirekte Lohnzahlungen zur Deckung der Gesundheitskosten.
Eine weitere Dimension des KVG, die das Gesundheitssystem selbst betrifft, zog weniger Aufmerksamkeit auf sich. Ihr Prinzip ist in Artikel 32, Absatz 1, festgehalten, der besagt, dass die Leistungen, die von der obligatorischen Krankenversicherung übernommen werden wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich“ sein müssen. Das mag klar erscheinen: Die vergüteten Behandlungen müssen eine vorteilhafte Wirkung haben (effizient sein), einem Bedürfnis entsprechen (zweckmässig sein) und einen „vernünftigen“ Preis haben (wirtschaftlich sein). In Wirklichkeit besteht bei diesem Prinzip die Tendenz, „Kosten“ zum Mass aller Dinge zu machen – auch dafür, was effizient und zweckmässig ist. Darüber hinaus führt es zu wesentlichen Änderungen, wie z.B. der neuen Spitalfinanzierung durch DRG (Diagnosis Related Groups; fallbezogene Gruppen)[1]. Das KVG sanktioniert so den Anschluss an einen gewichtigen Trend, der von Organisationen wie der OECD oder der Weltbank strukturiert und von einer Lawine orthodoxer universitärer Produktion gespeist wird und darauf abzielt, durchzusetzen, dass die Instrumente der Marktwirtschaft (Preis, Profite, Wettbewerb, „private“ Akkumulierung des Kapitals) die einzig relevanten Instrumente für die Steuerung der Gesundheitspolitik sind. Diese Doxa erfordert nicht notwendigerweise, dass alle Akteur*innen auf diesem Markt privat sind; aber alle müssen „Anreize“ erhalten, wie private Unternehmen zu handeln. Der erste – unabdingbare – Schritt in diese Richtung ist, alles messbar, evaluierbar und vergleichbar zu machen.
Diese Ausrichtung zugunsten einer strukturellen Gegenreform des Gesundheitssystems ist mit der Steuer-Gegenreform verknüpft, die tendenziell nach und nach die Geldmittel der öffentlichen Hand austrocknet, in dem das Kapital und seine verschiedenen Ertragsformen immer weniger besteuert werden. Die budgetäre Sackgasse rechtfertigt die Beschleunigung des marktorientierten Umbaus des Gesundheitssystems, der als einziges Mittel zur „Beherrschung“ der Kosten präsentiert wird.
Schliesslich darf man nicht vergessen, dass das Gesundheitssystem von einer besonders mächtigen und konzentrierten, allgegenwärtigen, kapitalistischen Pharmaindustrie durchdrungen wird, die auf allen Ebenen die Interessensverbindungen multipliziert und in den letzten Jahrzehnten durch Empfehlungen und Vorschriften unaufhörlich weiter in die Welt der Medizin, Forschung und Weiterbildung vorgedrungen ist und diese mehr und mehr einschnürt.

Die Industrialisierung der Spitäler

Die neue Spitalsfinanzierung mittels DRG ist das am weitesten fortgeschrittene Beispiel dieser Ausrichtung. Sie trat 2012 in Kraft und kombiniert drei bedeutende Veränderungen. Erstens wird jedem Behandlungstyp ein auf nationaler Ebene harmonisierter (Pseudo-)Preis zugesprochen, wobei die Behandlungen in etwa tausend Diagnosis Related Groups (DRG) gruppiert sind. Diese (Pseudo-)Preise variieren – wie alle Preise – nicht in Abhängigkeit der Kosten jeder individuellen Leistung – es handelt sich nicht um eine Kostendeckung. Es besteht also die Möglichkeit eines Gewinns oder eines Defizits. Zweitens müssen die Spitäler ihre Finanzierung – inklusive Investitionen – über den Verkauf ihrer Leistungen zu einem festgelegten Preis sicherstellen. Im Prinzip gibt es keine Defizitdeckung durch die öffentliche Hand, auch wenn Systeme wie jenes der gemeinwirtschaftlichen Leistungen es ermöglichen, dieses Verbot teilweise zu umgehen. Drittens sind alle – privaten oder öffentlichen – Spitäler formal gleichberechtigt und haben in diesem Sinn, sobald sie in den kantonalen Spitallisten geführt sind, Anrecht auf eine Vergütung ihrer Leistungen zum selben Tarif. Als Konsequenz können die Patient*innen im Prinzip frei wählen, wo sie sich behandeln lassen wollen.
Die – reihenweisen – Auswirkungen nähren sich gegenseitig:

  • Es entsteht eine neue Spitalkarte, auf der rentable Einrichtungen und Aktivitäten von jenen unterschieden werden, die mit Verlust arbeiten.
  • Anschliessend kommen klassische Mechanismen ins Spiel: Spezialisierung und/oder Suche nach Ausbau rentabler Aktivitäten; Verringerung oder Aufgabe unrentabler Aktivitäten; Konzentration der Aktivitäten, um von den Kostenvorteilen zu profitieren, Standardisierung der Behandlungsverfahren. Kurz: Eine Industrialisierung, die von den Anhänger*innen der Spital-„Reform“ auch eingefordert wird.
  • Auch die Führung der Spitäler und der dort herrschende Geist ändern sich. Es sind klar wirtschaftliche Kriterien am Ruder, medizinische Überlegungen sind untergeordnet. Diese „Führung“ erfordert neue Spielräume zur Marktanpassung: Die Spitäler müssen zu unabhängigen Einrichtungen werden. Im Kanton Bern wurden sie z.B. systematisch in Aktiengesellschaften umgewandelt, auch wenn der Staat bis dato der einzige Aktionär bleibt. Das ermöglicht, in einer weiteren Phase, die Spitalpolitik zu „depolitisieren“: Es gibt keine politischen Wahlmöglichkeiten mehr, sondern die Unternehmen passen sich an die Marktzwänge an. Es wird auch die Möglichkeit einer späteren – teilweisen oder vollständigen – Privatisierung geschaffen.
  • Zur Verteidigung und Ausweitung ihrer Marktanteile müssen die Spitäler investieren, um in Bezug auf die „Hotellerie“ im Spital, die modernsten Geräte usw. wettbewerbsfähig zu sein. Schon vor dem Inkrafttreten der DRG haben sich die Geräteanschaffungen vervielfacht. Der eingangs zitierte Artikel der NZZ zeigt, dass diese Dynamik andauert. Investitionen benötigen eine ausreichende Gewinnmarge zu ihrer Finanzierung. Das kann zur Schliessung von Einrichtungen und Zusammenschlüssen führen.
  • Die Gleichstellung der privaten Spitäler ist eine grundlegende Ungleichheit, weil diese im Allgemeinen nicht denselben Zwängen ausgesetzt sind – wie der Aufnahme aller ihr zugewiesenen Patient*innen. Sie können sich auf die rentablen Segmente konzentrieren, wie zahlreiche planbare chirurgische Eingriffe (die nicht mit einem Notfall verbunden sind) an Patient*innen, die nicht an mehreren Krankheiten leiden. Sie haben so die Garantie, dass sie den gleichen Preis wie die allgemeinen Spitäler erhalten – bei strukturell niedrigeren „Produktionskosten“. Hier öffnet sich ihnen ein ganzes Feld rentabler Investitionen und Aktivitäten.
  • Die mittelgrossen allgemeinen Spitäler, die eine Region vollständig abdecken müssen, stehen oft vor den grössten Schwierigkeiten. Dies führt zu regionalen Zusammenschlüssen und einem erhöhten, internen Druck zur Reduzierung der Kosten. Eine solche Entwicklung kann zur Marginalisierung der Regionen beitragen, denen man ihr Spital wegnimmt. Gleichzeitig kann es die Flucht der Ärzt*innen in den Privatsektor beschleunigen. Man sieht sich also mit einer selbsterfüllenden Prophezeiung konfrontiert: Die Schliessung eines Spitals wird durch eine angebliche Unmöglichkeit der Sicherstellung hochqualitativer Behandlung gerechtfertigt; durch die Flucht der Ärzt*innen wird diese Unmöglichkeit Wirklichkeit. Diese Art von Dynamik ist z. B. seit einigen Jahren im Kanton Neuchâtel zu beobachten.
  • Ein anderer Weg – auf der Ebene der einzelnen Einrichtung – ist die Verdichtung der Behandlungen: Ziel ist die grösstmögliche Verkürzung der Aufenthaltsdauer, um die Einrichtungen (Betten, Operationssäle usw.) maximal nutzen zu können. Es sind neue Berufe entstanden: Krankenpfleger*innen planen nunmehr bei der Aufnahme den Behandlungsverlauf der Patient*innen, um die Nutzung der Spitalsressourcen zu optimieren. In diesem Fall dient das Spitalspersonal, allen voran die Krankenpfleger*innen, als Anpassungsvariable. Das führt zu einer Intensivierung der Arbeit, einer immer grösseren Schwierigkeit, dem nichttechnischen (Beziehungs-)Teil der Arbeit gerecht zu werden – der aber von zentraler Bedeutung für die Behandlungsqualität ist – und in der Folge zum andauernden Gefühl, die Arbeit nicht so zu machen, wie man sollte. Zahlreiche Studien haben bestätigt, dass dies wiederum zu einer Verringerung der Behandlungsqualität führt. Die Patient*innen und ihr Umfeld müssen also einen grösseren Teil der „peripheren“ Arbeiten übernehmen, die über den Eingriff stricto sensu hinausgehen: Arztbesuche vor der Spitalaufnahme; Betreuung nach einer raschen Entlassung aus dem Spital, zum Zeitpunkt einer noch sehr geringen Selbständigkeit usw. Dies geht mit einer Angst- und Kostenzunahme einher.
  • Es liegt auf der Hand, dass diese neue Finanzierung einen Anreiz zum möglichst grossen Ausbau rentabler Aktivitäten, d.h. zur Erbringung „nicht angemessener“ Leistungen – um das Vokabular des KVG aufzugreifen – schafft, was von ärztlichen Berufsverbänden auch angeprangert wird. Die Überversorgung wird so durch die Verbreitung der Marktlogik genährt, was nicht wirklich überrascht. Das Abwehrmittel ist allerdings längst gefunden: zusätzliche Vorschriften, Qualitätsindikatoren, Analysen des Kosten-Leistungsverhältnisses verschiedener Eingriffe. Diese Entwicklung führt einerseits zu einer noch grösseren Bürokratisierung und „formalisiert“ die Arbeit noch zusätzlich, was das Gefühl der Fachkräfte, die Kontrolle über ihren Beruf zu verlieren, noch verstärkt. Andererseits sind diese Kontrollsysteme (Qualitätsindikatoren, Kosteneffizienz-Berechnungen) Nebenprodukte der von der Industrie übernommenen, allgemein angewandten Marktlogik. Der beherrschende Einfluss der Wirtschaftslogik wird nicht gelockert, im Gegenteil: Die Schrauben werden noch stärker angezogen.

Eine bereits stark verbreitete Auswirkung dieses Veränderungspaketes ist die Allgegenwärtigkeit des „Wirtschaftlichkeitskriteriums“ – nicht nur in der Führung der Spitäler sondern auch in ihrem Alltag. Es entsteht eine neue „Kultur“: Sie durchdringt das Bezugssystem, es werden neue Prioritäten gesetzt und neue Grenzen des Möglichen gezogen. Dies obwohl die direkten Auswirkungen der neuen Spitalsfinanzierung erst am Anfang stehen. Sie werden sich in den nächsten Jahren unter den gemeinsamen Auswirkungen des Drucks der Krankenversicherungen auf die Reduzierung der Baserate (die Einheitskosten des DRG-Punkts, um zu vereinfachen), der Steuerkrise der Kantone und der Verpflichtung der Spitäler, ihre neuen Investitionen selbst zu finanzieren, noch verstärken. Ausserdem wird das DRG-Finanzierungssystem – das derzeit nur für Akutbehandlung gilt – demnächst auf die Psychiatrie ausgeweitet, obwohl sich dieser Sektor noch weniger für diese Art der Finanzierung eignet.
Damit haben die Versicherungen und die Rechte noch folgende Karte in petto, die die Spitalsrevolution vollenden würde: die monistische Finanzierung. Derzeit werden 55% der Spitalrechnung direkt von den Kantonen finanziert, das Saldo wird von den Krankenversicherungen oder den Patient*innen bezahlt. Die Krankenversicherungen sehen in der direkten Finanzierung durch die Kantone ein Hindernis für den vollen Ausbau der Markt-„Anreize“ – was die Spitalreform bremst. So könnten die Kantone z.B im Namen regionaler Überlegungen „übertriebene“ gemeinwirtschaftliche Leistungen finanzieren, die den Wettbewerb „verzerren“. Eine alleinige Finanzierung durch die Krankenversicherungen hingegen gäbe Letzteren volle Macht, auf die zukünftige Entwicklung der Spitäler einzuwirken. Bis dato haben sich die Kantone einer solchen Lösung immer widersetzt. Die Spitäler machen einen bedeutenden Posten in ihrem Budget aus und es steht wirtschaftlich, aus regionalen Gründen und politisch zu viel auf dem Spiel. Aber die Versicherungen geben nicht klein bei. Sie setzen auf eine Verschärfung der Steuerkrise der Kantone, um neue Mehrheiten zu diesem Thema aufzubauen.

Ein neuer Markt: die Pflege zu Hause

In Bereich der Pflege zu Hause findet man eine teilweise ähnliche Dynamik. Die Zunahme der Anzahl der sehr alten Menschen und die Entscheidung, den Eintritt in Pflegeheime möglichst lange hinauszuschieben – auf Seiten der öffentlichen Hand aus Kostengründen und auf Seiten der Nutzer*innen, weil sie dies vorziehen und aus Kostengründen – führen dazu, dass der Sektor in vollem Wachstum begriffen ist. Zwischen 2002 und 2014 hat sich die Anzahl der dort Beschäftigten verdoppelt.
Nun hat sich aber durch eine im Jahr 2011 in Kraft getretene neue Pflegefinanzierung in diesem historisch von gemeinnützigen Organisationen monopolisierten Sektor die Situation für private Unternehmen verändert: Auch sie wurden aus Finanzierungssicht auf gleichen Fuss mit gemeinnützigen Organisationen gestellt. Das hat ihnen neue Horizonte geöffnet: Bis dahin boten die privaten Unternehmen ihre Leistungen Privatpersonen an, z.B. Dienstleistungen von polnischen oder ukrainischen – unterbezahlten und überausgebeuteten – Altenpfleger*innen, die älteren Personen Tag und Nacht zur Verfügung stehen. Sie können sich künftig daran machen, die Märkte der öffentlichen Mandate zu erobern, um z.B. die Bedürfnisse der Pflege zu Hause in einer Gemeinde abzudecken, die in der Deutschschweiz oft für diesen Bereich verantwortlich sind. Die unter finanziellem Druck stehenden Gemeinden und Kantone können natürlich an ihren Angeboten interessiert sein, die billiger sind, weil sie grundsätzlich auf einer höheren Ausbeutung des Personals beruhen.
Seit 2011 hat im Bereich der Pflege zu Hause die Beschäftigung in privaten Unternehmen denn auch bedeutend schneller zugenommen als in gemeinnützigen Organisationen. Dieser Wettbewerb erzeugt Druck auf historische Organisationen der Pflege zu Hause und ihr Personal. Er fällt mit der Intervention der Krankenkassen und der öffentlichen Hand zur Begrenzung der Ausgaben in diesem Sektor zusammen. In diesen Kontext fällt die Ausweitung genauer Zeitpläne für die Arbeit, ihrer Steuerung durch Tablets und ihre Entmenschlichung. Auch Löhne und Arbeitszeiten kommen unweigerlich ebenfalls unter Druck.

Apotheken und Pflegeheime: Neue Grössenordnungen

Die Apotheken und die Pflegeheime sind historisch gesehen die Domäne kleiner, unabhängiger Unternehmen. Es war nicht notwendig, diesen Raum für die Privatwirtschaft zu öffnen, weil diese dort immer dominierte (obwohl sie in Bezug auf die Pflegeheime subventioniert und damit in gewissem Mass kontrolliert war). Die Markmechanismen, deren Schlagkraft durch die Erhöhung der Finanzzwänge (neues Pflegevergütungssystem durch die Krankenversicherungen und Budgetzwänge der Kantone) erhöht wurde, haben „einfach“ ihre logischen Auswirkungen gezeitigt und einen Konzentrationsprozess ausgelöst.
Im Bereich der Apotheken ist dieser wie oben angeführt bereits sehr fortgeschritten. Die Pharmazieberufe wurden revolutioniert und ähneln immer mehr jenen des Verkaufs in Supermärkten. Für die Öffentlichkeit verkümmert die beratende Rolle der Apotheker*innen.
Im Pflegeheimsektor steht diese Entwicklung erst am Anfang. Sie ist aber „vielversprechend“. Schätzte nicht die Credit Suisse in einer im Jahr 2015 erschienenen Studie über „Die Zukunft des Pflegeheimmarkts“ die Investitionen in diesem Sektor bis zum Jahr 2040 auf 20 Milliarden Franken? Wie auch immer die genaue (per Definition sehr diskutable) Grössenordnung aussieht: Man kann Geschäfte machen. Und diese werden auch bereits gemacht. So umfasst die v.a. in der Deutschschweiz und im Tessin präsente Tertianum-Gruppe heute 53 Heime, die mehr als 3000 Betagte betreuen. Seit 2013 ist Tertianum im Besitz von Swiss Prime Site, dem führenden Immobilienunternehmen der Schweiz, mit einem Portfolio im Wert von 9,9 Milliarden Franken. Andere Ketten entwickeln sich, wie Senevita mit 21 Pflegeheimen und 2300 Betten, das seit 2014 Teil von ORPEA ist. ORPEA ist eine börsennotierte, europäische Gruppe französischen Ursprungs, die in Belgien, Deutschland, Österreich, der Schweiz, Spanien, Italien und Tschechien präsent ist und fast 68‘000 Betten in 690 Heimen verwaltet und auch in den Bereichen Rehabilitation, Psychiatrie und Pflege zu Hause aktiv ist. Solche kapitalistischen Akteur*innen werden also vermehrt die Entwicklung eines Sektors bestimmen, dessen soziale Bedeutung im Anstieg begriffen ist, und dort Referenzen sowohl in Bezug auf Arbeits- als auch die Betreuungsbedingungen schaffen.

Wie war das nochmal: freisinnige Medizin?

Die Hausärzt*innen mögen von diesen Veränderungen weniger betroffen sein. Das offizielle Modell bleibt jenes der freisinnigen Medizin, mit unabhängigen Ärzt*innen, die gemäss ihren Aktivitäten vergütet werden (Tarmed-Tarif). In den letzten zwanzig Jahren fanden aber dennoch bedeutende Veränderungen statt. Und der Wille zu deren Beschleunigung besteht – wie die bereits erwähnte Entscheidung des Nationalrats zur Versenkung des Gesetzes zeigt, mit dem die Kantone die Zulassung von Spezialärzt*innen hätten begrenzen können. Es können vier Dimensionen der in den letzten zwei Jahrzehnten stattgefundenen Veränderungen hervorgehoben werden.
Erstens haben die Krankenversicherungen bei der Kontrolle und Anfechtung der Fakturierung der Ärzt*innen sehr schnell einen Gang zugelegt – mithilfe von bürokratischen Schikanen und finanziellen Sanktionen. Dies hat zur Verbreitung eines neuen Geistes beigetragen: Die sich überwacht fühlenden Ärzt*innen haben die Erwartungen der Versicherungen übernommen.
Zweitens kam es zu einer Vervielfachung der Normierungen der Behandlungen und der Empfehlungen – die immer öfter die Form von „Kosten-Nutzen“-Evaluierungen der Behandlungen annehmen, z.B. durch das Swiss Medical Board. Auch dies trägt dazu bei, die wirtschaftliche Logik im medizinischen Zugang zu verankern.
Diese Verankerung kann sich drittens sowohl in einem restriktiven Zugang zu gewissen Verschreibungen (z.B. in Bezug auf Krankschreibungen), als auch in einem vollen Engagement zur Nutzung von Geschäftsmöglichkeiten – in einer Gruppenpraxis oder in Verbindung mit privaten Ketten – ausdrücken.
Viertens führten Veränderungen von Seiten der Patient*innen (sinkende Bedeutung des Bildes des Familienarztes, Streben nach ausgeweiteten Sprechstunden als Reaktion auf das durch Arbeit und Pendeln vermehrt eingeschränkte Zeitbudget, Gewohnheit einer sofortigen Erreichbarkeit) wie auch von Seiten der Ärzt*innen (Feminisierung, sinkende Wahrnehmung des Berufs als Berufung, Notwendigkeit der gemeinsamen Tragens der Niederlassungskosten) zu einem bedeutenden Rückgang von Einzelpraxen zugunsten von Gruppenpraxen aber auch von „Gesundheitszentren“ verschiedenster Art. So ist z.B. in Lausanne die VidyMed-Gruppe an drei Standorten präsent und zählt etwa 80 „Gesundheitsdienstleister*innen“ (mehrheitlich Ärzt*innen, die Aktionär*innen der Gruppe sind) und 180 Angestellte.
Das Markteintreten der Migros zeigt einen möglichen Weg einer anderen Dimension auf: die Entwicklung wahrer nationaler Ketten, in Synergie mit den Wellness- und Fitnessmärkten (die Gesundheitszentren der Migros sind häufig in bzw. in der Nähe von Fitnesszentren der Gruppe angesiedelt). Es könnte also ein analoger Prozess zu jenem im Bereich der Zahnpflege stattfinden, mit der Zunahme von mehr oder weniger billigen Ketten, die zur Referenz eines ganzen Segments der „Klientel“ werden.
Solche Zusammenschlüsse böten neue Entwicklungschancen, wenn zwei Hürden genommen würden: Die Umsetzung von Vertragsfreiheit und Managed Care. Die Vertragsfreiheit steht zuoberst auf der Liste der gewünschten Reformen: Wenn die Krankenversicherungen die Möglichkeit haben, die Ärzt*innen und Spitäler auszuwählen, mit denen sie zusammenarbeiten, so hätten sie eine nie dagewesene Macht zur Durchsetzung ihrer Zielsetzungen. Andererseits wäre das in der Abstimmung abgelehnte Managed-Care-System ein Mittel, um die durch die Erhöhung der Krankenkassenprämien finanziell ans Limit gebrachten Versicherten im Gegenzug zu einer (leichten und provisorischen) Reduzierung ihrer finanziellen Belastung dazu zu bewegen, deutlich standardisiertere Behandlungen zu akzeptieren.
Bis dato scheiterten beide Projekte am Widerstand der Ärzt*innen und der Wichtigkeit der freien Arztwahl für eine Mehrheit der Bevölkerung. Die Rechte und die Krankenversicherungen zählen für die Beseitigung dieses Hindernisses auf den kombinierten Druck des ungebrochenen Anstiegs der Krankenkassenprämien und die Verschärfung des Wettbewerbs zwischen den Ärzt*innen.

Versicherungen: Privatwirtschaft beherrscht eine öffentliche Aufgabe

In Bezug auf die Krankenversicherungen hat der vom KVG gewollte Wettbewerb sehr rasch zu einer nie dagewesenen Konzentration in der Branche geführt: Heute wird der Markt – der historisch zwischen Dutzenden Kassen zersplittert war – von weniger als 10 grossen Gruppen (CSS, Helsana, Sanitas, Mutuel, Assura, Swica, Visana, CPT) total dominiert. Eine öffentliche Aufgabe – die Verwaltung einer obligatorischen Sozialversicherung – liegt also in den Händen eines Oligopols von Privatinteressen. Die grossen Versicherungen sind zwar durchaus mit Interessenskonflikten konfrontiert, die sich insbesondere in der Existenz zweier Dachverbände – santésuisse und curafutura – wiederspiegeln, die Unerschütterlichkeit ihrer politischen Bindeglieder und ihre Kapazität, ihre Prioritäten aufzuzwingen, sind aber sehr bemerkenswert. Dies wird durch die Posse der Krankenversicherungsaufsichtsverordnung illustriert, die völlig ausgehöhlt wurde – obwohl das Gesetz von Bundesrat Alain Berset, Mitglied der SP, als vernünftige Antwort auf die Einheitskasse präsentiert wurde. Ein weiteres Beispiel ist das Versenken der kantonalen Kontrolle über die Zulassung von Ärzt*innen. Dazu kommt ihre Kapazität, durch den zweimaligen haushohen Sieg über die Initiativen für eine Einheitskasse (2007 und 2014) Reformversuche des Krankenversicherungssystems im Keim zu ersticken.
Das Krankenversicherungssystem mit einer Kopfprämie für die Versicherten führte in den letzten 20 Jahren zu einer ununterbrochenen Steigerung der Beitragsbelastung, die mit den Franchisen und den Selbstbehalten einen steigenden Anteil des Haushaltsbudgets ausmachen. Die Zersplitterung der Situation der Versicherten aufgrund der Unterschiede zwischen den Versicherungen, den Regionen, den „Versicherungsmodellen“ (Höhe der Franchise, Hausarzt usw.), aber auch aufgrund der einkommensabhängigen Prämienverbilligungen (27% der Versicherten erhalten eine Prämienverbilligung) hat bis dato das kollektive Unzufriedenheitspotenzial neutralisiert, das durch diese Entwicklung Nahrung bekommen könnte.
Die finanzielle Sackgasse wird sich in den nächsten Jahren noch verstärken: Das Ansteigen der Krankenkassenprämien im Zuge der Erhöhung der Gesundheitsausgaben wird durch die Auswirkungen der Sparmassnahmen der öffentlichen Haushalte verstärkt werden (Verringerung des kantonalen Anteils an den Verbilligungen, Verlagerung eines steigenden Anteils der Kosten auf die Nutzer*innen der Pflege zu Hause oder auf die Heiminsass*innen usw.).
Für die Krankenversicherungen und ihre politischen Bindeglieder ist diese finanzielle Sackgasse eine Chance: Sie ermöglicht ihnen, mit mehr Widerhall erneut Vorschläge auf den Tisch zu bringen, die sonst kaum eine Chance auf Echo hätten – und die allesamt in Richtung der Auflösung der wenigen Solidaritätsmechanismen gehen, die in der Finanzierung des KVG vorhanden sind. Der erste konkrete Schritt ist der Vorschlag, die Prämien der Jungen zu reduzieren, was durch eine Erhöhung der Prämien älterer Menschen kompensiert würde. Was nichts anderes bedeutet, als dass man dem Prinzip der risikogebundenen Prämien Tür und Tor öffnet. Auch die Frage der Verkleinerung des von der Krankenversicherung abgedeckten Leistungskatalogs wird wieder zur Sprache gebracht, was den einkommensabhängigen Graben in Bezug auf den Zugang zu Behandlungen vergrössern würde. Am Horizont sind noch radikalere Vorschläge auszumachen, die z.B. in Richtung einer Art 2. Säule (d.h. eines Kapitalisierungssystems) für die Finanzierung der Pflege der Betagten gehen.
(6. Januar 2016)
[1] Diese sind Teil des System der Fallpauschalen, welches darauf abzielt, die medizinischen Leistungen nicht aufgrund der tatsächlichen Kosten, sondern anhand eines vorher definierten Betrags pro Leistung zu vergüten. Die Krankenkassen zahlen dem Spital z.B. für eine Blinddarmoperation einen fixen Betrag, egal wie „teuer“ die Operation schlussendlich war. Die Krankenkassen senken so ihre Beiträge an die Spitäler.

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2 Kommentare

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