Am 5. Juni 2016 wird im Tessin über die kantonale Initiative „giù le mani dagli ospedali“ der BFS abgestimmt. Diese wurde bereits Anfangs 2013 lanciert und gelangt nun zur Abstimmung. Die Initiative wehrt sich gegen die aktuelle Spitalplanung im Tessin, gegen voranschreitende Rationalisierungen und Privatisierungen im öffentlichen Sektor, die das Gesundheitswesen zunehmend einer kapitalistischen Logik unterwerfen. (Red.)
von BFS Tessin
Am 1. Januar 2012 sind auf nationaler Ebene zwei wichtige Änderungen des Krankenversicherungsgesetzes (KVG) in Kraft getreten: die öffentliche Finanzierung (55% zu Lasten der Kantone) der Spitalleistungen von Privatkliniken, die in die kantonalen Planungen integriert wurde und die Finanzierung der Leistungen gemäss dem Prinzip der Fallpauschalen (was bedeutet, dass jede Leistung pauschal rückvergütet wird; unabhängig vom konkreten Fall, von der Situation der Patient*in, von der Dauer des Spitalaufenthaltes, etc.). Es handelt sich dabei um die berüchtigten diagnosebezogenen Fallgruppen.
Diese zwei Massnahmen wurden beeinflusst durch die kantonalen Gesundheitspolitiken. Beide Massnahmen zielen deutlich in Richtung einer immer stärker werdenden Rentabilitätslogik im Gesundheits- und Spitalwesen. Die Gesundheitsleistungen werden zum Subjekt der kapitalistischen Produktionslogik und unterliegen somit derselben. Vor allem steuern sie in Richtung von Reorganisation, Restrukturierung und Rationalisierung von sanitären Prozessen. Beispielsweise zielen die Fallpauschalen auf eine Spezialisierung gewisser Eingriffsarten mit dem Ziel, Kosteneinsparungen zu betreiben, Investitionen schneller zu amortisieren, die Produktivität zu erhöhen und folglich die Kosten eines Eingriffes zu senken. Geringere Kosten für die verschiedenen Eingriffe bedeuten eine Steigerung der Profitmarge, die sich aus der Differenz zwischen diesen Kosten und dem von der Krankenkasse anerkannten Pauschalbetrag für die entsprechende Behandlung ergibt.
Was man im Tessin Spitalplanung nennt, existiert in allen Kantonen. Diese müssen über eine Spezialisten- und Spitälerliste ausweisen, welche Spitäler dazu autorisiert sind, gewisse Behandlungen vorzunehmen. Nur durch die entsprechenden Spitäler ausgeführte Behandlungen werden von den Krankenkassen anerkannt.
Die Initiative in ihren Anfängen
In Anbetracht der Reformen, die bereits in Kraft getreten sind, und der Tatsache, dass diese Planung im Tessin weiter voranschreiten soll, hat die BFS bereits seit Ende 2012 das öffentliche Gesundheitswesen zu einem der Schwerpunkte ihres Wirkens gemacht, um den Prozess des Einzuges der kapitalistischen Logik ins Gesundheitswesen durch das KVG und die jüngsten aktuellen Reformprozesse hervorzuheben. Es handelt sich dabei um einen Sektor, der bereits in den letzten Jahren zu einem der grössten Interventionsfelder des Privatkapitals geworden ist. Ein Terrain auf dem das Kapital immer neue Möglichkeiten zur Rentabilisierung und zur Valorisierung vorfindet.
Es war in der Analyse der BFS offensichtlich, dass der neue Entwurf der Spitalplanung, der vorgelegt wurde, mit Sicherheit zu Diskussionen um die öffentlichen Spitäler, deren Struktur und das Angebot in verschiedenen Spitälern (besonders in denjenigen in den Tälern) geführt hätte. Er hätte ausserdem einen grossen Schritt in Richtung Privatisierung bedeutet, die im Tessin ohnehin schon sehr präsent ist (40% der Patient*innen werden – natürlich finanziert durch die Krankenkasse – in privaten Einrichtungen behandelt, der Durchschnitt im Rest der Schweiz liegt bei 15-20 %). Nicht zu vergessen ist auch, wie diese Reformen die Arbeiter*innen in den Spitälern durch Intensivierung des Arbeitsrhythmus sowie durch komplexe Verschlechterungen der Arbeitskonditionen unter Druck gesetzt hätten.
Aus diesem Grund hat die BFS Anfangs 2013, als die Ausarbeitung der Spitalplanung noch in der ersten Vorbereitungsphase war, entschieden, eine Volksinitiative mit dem Namen „Giù le mani dagli ospedali“ (deutsch: Hände weg von den Spitälern) zu lancieren, die zwei Dinge forderte. Einerseits, dass in den regionalen Spitälern (Bellinzona e Valli, Lugano, Locarno und Mendrisio) die Leistungen und die grundlegenden Stationen (hierzu zählen innere Medizin, Chirurgie, Pädiatrie, Gynäkologie, Geburtsstation, sowie die Notfall- und Intensivstation) erhalten blieben. Andererseits, dass sowohl in den regionalen Spitälern (siehe oben), als auch in den sogenannten „Zonenspitälern“ (Acquarossa im Bleniotal und Faido im Leventinatal) allgemeinmedizinische Polyambulatorien geschaffen würden, an die sich jede Person jederzeit wenden könnte.
Mit der Lancierung dieser Initiative (2013) begann eine Kampagne, die in einigen Wochen mit der Volksabstimmung ihren Abschluss finden wird.
Eine Debatte wird eröffnet
Jedoch wird nicht nur über die Initiative der BFS abgestimmt. Tatsächlich hat die BFS im Rahmen ihrer Kampagne – die seit der Lancierung der Initiative keine Rast kannte – begonnen, die besorgniserregenden Aussichten der Projekte die sich im Bereich der Vorbereitungsarbeiten auf die Spitalplanung abzeichneten, öffentlich anzuprangern.
So konnte die BFS ab Beginn des Herbstes 2013 mit Genauigkeit voraussagen, welche noch unveröffentlichten Projekte als Grundlage des neuen Planungsgesetzes diskutiert würden. Insbesondere wurden zwei Punkte diskutiert:
– Die Schliessung der Spitäler in den Tälern (die beiden “Zonenspitäler” Acquarossa und Faido –entfernte Sitze des Regionalspitales von Bellinzona), die Abschaffung ihrer Medizin- und Notfallstation und ihre Umwandlung in simple Pflegekliniken (mit Ausrichtung auf Rehabilitation).
– Die Privatisierung verschiedener Stationen durch die Gründung von Aktiengesellschaften mit privaten Gruppen (eine davon ist die Genolier-Gruppe) mit der Perspektive, von AG betriebene Spitäler zu schaffen (wie das von Locarno) im Rahmen einer immer stärker werdenden Konkurrenz zwischen den Spitälern, zwischen Stationen von privaten und öffentlichen Spitälern und zwischen privatem und öffentlichem Sektor.
Die Vorwürfe der BFS eröffneten sofort eine Debatte über die Zukunft des Spitalsektors, über die Zukunft der Spitäler in den Tälern und über das Verhältnis zwischen dem privaten und dem öffentlichen Sektor. Die BFS hat in den Tälern eine Petition gestartet und sammelte innert weniger Wochen tausende Unterschriften, organisierte öffentliche Versammlungen mit hoher Teilnahme und weitere Mobilisationen vor den Spitälern.
Um darauf zu reagieren, fühlten sich selbst die bürgerlichen Parteien verpflichtet, eine eigene Petition zu lancieren (die im Wesentlichen die Forderungen der BFS enthielt), die den starken Bezug der Bevölkerung zu den Spitälern bestätigte.
Schliesslich, im Mai 2014, erschien auch der offizielle Vorschlag der Regierung, der bestätigte, was die BFS angeprangert hatte. Es begann eine ausführliche, öffentliche Debatte, die zu einer herben Konfrontation zwischen der BFS auf der einen und der bürgerlichen Regierung auf der anderen Seite führte. Eine Debatte, die in der Bevölkerung ein starkes Echo fand, hauptsächlich dank der systematischen Informations- und Aktionskampagne, die von der BFS geführt wurde. Es zeigt sich, dass selbst die bürgerlichen Kräfte grosse Schwierigkeiten hatten mit einer parlamentarischen Debatte, die über Vorschläge, Gegenvorschläge, Korrekturen und Widerrufe einen sehr, sehr langen Weg zurückgelegt hat. Dies wird deutlich wenn man betrachtet, dass es eineinhalb Jahre gedauert hat, bis das Projekt im Parlament des Kantons Tessin diskutiert werde konnte.
Das Planungsprojekt nahm im Grunde die Vorschläge der Regierung auf, mit kleinen Veränderungen im Bereich der Forderungen der Bevölkerungsproteste. Aber das Planungsprojekt, gegen das kein Referendum erhoben werde kann, benötigte einige Gesetzesänderungen, um realisiert werden zu können. Namentlich müsste das Gesetz über den Spitalverbund EOC (EOC – der Spitalverbund der die kantonalen Spitäler betreibt) verändert werden, damit die Zusammenarbeit mit Privaten im Rahmen verschiedener Aktiengesellschaften ermöglicht werden kann.
NEIN zum Referendum – JA zur Initiative!
Hier konnte die Initiative der BFS auch auf die Unterstützung der SP und der Grünen zählen. Es wurde ein Referendum lanciert, das innert weniger Wochen fast 13000 Unterschriften erreichte (fast das Doppelte der verlangten 7000 Unterschriften). So begann die Kampagne für das NEIN zur Revision des Gesetzes über den Spitalverband EOC (LEOC – Legge sull’Ente Ospedaliero cantonale) und für das JA zur Initiative „giù le mani dagli ospedali“. Es handelt sich dabei um zwei Instrumente, das Referendum und die Initiative, die die Logik der Spitalplanung bekämpfen. Und obwohl diese nicht das eigentliche Objekt der Abstimmung darstellt, ist sie es aus politischer Sicht dennoch. Ein Sieg beim Referendum (also ein NEIN zur Revision der LEOC) oder der Initiative würde ausreichen, um das Projekt der Spitalplanung und die kapitalistische Logik der Privatisierung, die ihr zu Grunde liegt, erneut zur Diskussion zu stellen. Zwei Fliegen auf einen Streich. Die Hoffnung der Genoss*innen der BFS, die in den letzten drei Jahren mit grossem Engagement gekämpft und sich in die politische Debatte eingebracht haben, besteht darin, dass am 5. Juni wenigstens in einem der beiden Anliegen ein Sieg errungen werden kann.
übersetzt von BFS (Jugend) ZH
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