Menu Schließen

Die Schweiz: Ein einig Volk in Quarantäne?

Die parlamentarische Politik verlautet durchs Band, in Zeiten der Corona-Krise solle man zusammen stehen und politische Differenzen hinter sich lassen. Gleichzeitig zeigt die Epidemie so klar wie selten zuvor die bestehenden Konflikte in unserer Gesellschaft auf. Doch die Befolgung von Verhaltensregeln schliesst die Kritik an den Herrschenden auf keinen Fall aus. Denn eine Kritik, die in Krisenzeiten nicht mehr angebracht sein sollte, ist keine Kritik.

von Emil Spotter (BFS Zürich)

Demonstrative Einigkeit der Parteien

Alle Schweizer Parteien stehen anstandslos hinter dem Bundesrat und den von ihm verabschiedeten Massnahmen gegen die Corona-Pandemie. Selten war eine solch demonstrative Einigkeit der etablierten politischen Kräfte zu beobachten, schon gar nicht in Zeiten einer Krise. Man lauscht andächtig den Worten von Daniel Koch, Epidemieexperte beim Bundesamt für Gesundheit (BAG), repetiert die Hygieneregeln und weist auf die drohenden Einbussen der Volkswirtschaft hin.

Die Parteien sind trotz offensichtlicher Krisensituation ungewohnt ruhig. Und wenn etwas geäussert wird, dann in Form von vorsichtigen Ergänzungen zu den bereits in Kraft getretenen Massnahmen des Bundesrates. Die Grünen wollen mit einer Petition die finanziellen Ausfälle von kleinen Unternehmen und Selbständigen kompensieren. Die SP legt einen «Drei-Pfeiler-Plan» vor, um unter anderem die Kurzarbeit auszudehnen. Die CVP und die FDP rufen den Bundesrat zu «pragmatischen und unbürokratischen Massnahmen» auf, um die Unternehmen zu stabilisieren. Und die SVP lässt lapidar verlauten, dass sie die Verschiebung der Abstimmung über ihre rassistische «Begrenzungsinitiative» akzeptiere.

Zuspitzung von Konflikten

Kritik und Kämpfe scheinen für die kommenden Monate aus dem politischen Diskurs also ausgeklammert zu sein. Unvorstellbar mutet die Möglichkeit an, die Notwendigkeit von Schutzmassnahmen zu betonen und gleichzeitig Kritik zu äussern an einem ungenügend vorbereiteten System, welches Millionen von Menschen ohne Not einer krassen Prekarität aussetzt. Natürlich ist es absolut zentral, angesichts einer Pandemie wie dem Coronavirus entschieden zu handeln und einschneidende Schritte in die Wege zu leiten. Dies haben wir bereits mehrmals betont.

Aber es ist ebenso klar, dass diese Pandemie in erster Linie eine soziale Krise ist. Augenfällig verschärfen sich mit ihr zahlreiche bereits bestehende gesellschaftliche Konflikte. Innert weniger Tage ist schlagartig allen bewusst geworden, worin die gesellschaftlich notwendige Arbeit besteht und wer sie verrichtet. Es sind Angestellte im Gesundheitswesen, Kinderbetreuer*innen in Kitas, Verkäufer*innen in Supermärkten und Mitarbeitende in der Logistik, die pflegen, Kinder betreuen, Regale in den Läden auffüllen und die Versorgung aufrecht erhalten.

Hingegen hält es niemand für nötig, mittags auf dem Balkon für die Bauherren zu klatschen, die Arbeit von Unternehmensberater*innen zu loben oder den Einsatz von Marketingexpert*innen zu würdigen. Und wie durch Zufall sind alle Jobs der ersten Gruppe scheisse bezahlt und vornehmlich durch Frauen* besetzt, während die Angestellten in der zweiten Gruppe einen guten Lohn beziehen und mehrheitlich Männer sind.

Aber auch die tödlichen Auswirkungen neoliberaler Politik zeigen sich nun klarer. Bereits vor Ausbruch der Epidemie waren die Angestellten im Gesundheitswesen überlastet. Nun drohen die Spitäler unter dem Ansturm demnächst zu kollabieren. Die jahrzehntelange Sparpolitik führte zur Zusammenlegung von Spitälern, Kürzung der Budgets, Privatisierung zahlreicher Institutionen und einer starken Reduktion der Spitalbetten um 10’000 Stück seit 1998 (bei zeitgleicher Zunahme der Bevölkerung um 1.3 Millionen Menschen). Selbstredend wurde auch die Erforschung seltener Krankheiten kaum als notwendig erachtet, da die teure Forschung nicht das grosse Geld mit Medikamentenpatenten verspricht. Und während die Mehrheit der Bevölkerung unter exorbitant hohen Krankenkassenprämien ächzt, scheinen Anwaltskanzleien keine Probleme zu haben, die beschränkt vorhandenen Coronavirus-Tests kaufen zu können, um alle ihre Mitarbeitenden testen zu lassen (auch wenn sie keine Symptome haben, versteht sich).

Das «unsichtbare» Leiden

Es ist ein Trauerspiel, dass die parlamentarische Linke in Zeiten der Corona-Krise nicht mal diese offenkundigen Missstände des schweizerischen und globalen Kapitalismus klar zu benennen weiss. Dieses Versäumnis wird umso eklatanter, als die eben beschriebenen Verhältnisse nur die Spitze des Eisbergs ausmachen. Denn die «unsichtbaren» Gruppen der Gesellschaft leiden besonders stark unter der Corona-Krise.

So haben Obdachlose aufgrund der bewusst tiefgehaltenen Anzahl öffentlicher sanitärer Anlagen kaum die Möglichkeit, die Hygieneregeln einzuhalten. Ausserdem ist ihnen keine würdige Möglichkeit zur eigenen Isolation gegeben. Auch für Sans Papiers ist das Coronavirus absolut existenzbedrohend, da nun viele ihren Job verlieren und kein Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe beziehen können. Dies schränkt ihren Zugang zu Gesundheitsinstitutionen weiter ein und zwingt sie, den ganzen Tag in ihren oftmals sehr prekären Wohnverhältnissen zu verbringen.

An den EU-Aussengrenzen werden Geflüchtete weiterhin mit mörderischen Methoden an der Einreise gehindert, und wer es doch über die Grenze schafft, wird in überfüllten Lagern interniert. In beiden Situationen ist es den Betroffenen unmöglich, die unbedingt notwendigen Hygienemassnahmen zur Eindämmung des Virus auch nur annähernd einzuhalten. Ferner werden die Insassen von Gefängnissen weiter unterdrückt, indem die Besuchszeiten praktisch aufgehoben wurden (wobei die Knastrevolten in Italien einen eindrücklichen Widerstand dagegen darstellen).

Kritik oder Kapitulation

Die Linke hat unter diesen Umständen auf keinen Fall zu kuschen. Die Covid-19-Epidemie ist eine Krise historischen Ausmasses, die zahlreiche irreversible Veränderungen mit sich bringen wird. Sie geht einher mit einer bereits angekündigten Wirtschaftskrise und wird brutale Verteilungskämpfe und grosse geopolitische Verschiebungen mit sich bringen. Unter diesen Vorzeichen gleicht die Unterstützung der bundesrätlichen Massnahmen plus die Forderung nach weichgespülten Ergänzungen einer Kapitulation der parlamentarischen Linken. Es gilt, die Wichtigkeit von Schutzmassnahmen für die Bevölkerung zu betonen und gleichzeitig die systemischen Verhältnisse in der Pandemie einer radikalen Kritik zu unterziehen. Die Linke hat keine Zeit zu verlieren. Denn die Alternative ist die Barbarei.

Verwandte Artikel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert