Die vom Bundesrat angekündigten Corona-Beschlüsse – sowohl diejenigen, die bereits Anfang dieser Woche in Kraft getretenen sind, als auch diejenigen, die ab dem 11. Mai zur sogenannten Phase 2 in Kraft treten – stellen eine entscheidende Beschleunigung des Prozesses der sogenannten „Rückkehr zur Normalität“ dar. Dies wird unweigerlich mit einem erneuten Anstieg der Infektionen einhergehen. Die entscheidenden Fragen in Bezug auf die Lockerungen sind deshalb: Wer profitiert davon? Und wer muss sich dadurch einer erhöhten gesundheitlichen Gefahr aussetzen? Die Antworten auf diese Fragen sind klar: Die Unternehmen profitieren davon und wir Lohnabhängigen zahlen dafür.
von BFS Tessin; aus mps-ti.ch
Obligatorische Schulen, Geschäfte und Märkte, Restaurants, öffentliche Verkehrsmittel (mit normalen Fahrzeiten), sportliche Aktivitäten: Abgesehen von Bars, Gymnasien, der Luftfahrt und einigen kleineren Sektoren (die jedoch für die am 8. Juni in Kraft tretende dritten Phase vorgesehen sein dürften) haben wir also praktisch eine Rückkehr zur vollen wirtschaftlichen Aktivität. Und die wirtschaftliche Aktivitäten, die in weiten Teilen des Landes gar nicht erst ausgesetzt worden waren, d.h. insbesondere in der Industrie, im Baugewerbe und in einem Großteil des tertiären Sektors, werden ohnehin fortgesetzt.
Dies überrascht uns nicht. Was hätte man denn von der Regierung eines der Länder, das sich historisch durch ein hohes Maß an Liberalisierung auszeichnet, auch anderes erwarten sollen? Von einem Land, in dem die Idee tief verwurzelt ist, dass die Marktmechanismen an erster Stelle stehen. Von einem Land, in dem man den Regeln, nach denen der Markt funktioniert, die Fähigkeit zuspricht, die geeigneten Antworten für den Fortschritt der gesamten Gesellschaft und die Lösung der verschiedenen Probleme zu finden.
Und um diesen Kurswechsel zu rechtfertigen, gibt es keine ernsthaften und fundierten Erwägungen aus gesundheitlicher oder epidemiologischer Sicht. Wie wenig solche Dinge doch von Bedeutung sind, haben wir bereits in den letzten Tagen anhand der surrealen Erklärungen von „Mr. Coronavirus“ Koch [BAG Direktor Daniel Koch, Anm. d. Red.] gesehen: Wir sahen, wie sich die Wissenschaft und ihre Beweise den Bedürfnissen politischer Projekte beugen.
Natürlich wissen wir, dass diese Macht der Marktmechanismen und der wirtschaftlichen Freiheit weit davon entfernt ist, die sozialen und gesundheitlichen Probleme zu lösen, mit denen wir konfrontiert sind. Aber die Entscheidung der Schweizer Regierung scheint klar zu sein: Die Wirtschaft muss mit voller Kapazität wieder in Gang kommen, insbesondere diejenigen Bereiche, die sich an den Weltmärkten orientieren. Dem wird auch die menschliche Gesundheit geopfert. Es kommt ihnen zu aller erst darauf an, dass diese Unternehmen im Vergleich zu anderen Großunternehmen gewinnen können und nach dem erzwungenen Bruch des Coronavirus wieder Wettbewerbsvorteile erlangen.
Einmal mehr hat sich der Bundesrat als das erwiesen, was er ist: Sicherlich kein Sprachrohr einer nicht vorhandenen „nationalen Einheit“, sicherlich kein überparteiliches Organ, sondern ein getreuer Vollstrecker einer Politik, die den grundlegenden Interessen der herrschenden Klassen dieses Landes entspricht.
Es ist kein Zufall, dass wir uns in dieselbe Richtung bewegen, wie sie sich die grossen Bosse und die politische Rechte, die in den letzten Tagen mehrfach die angeblich übertriebene Vorsicht des Bundesrates bei der Einleitung von Wiedereröffnungsmassnahmen kritisiert hatte, erhofft haben. Die Kritik von rechts (und von der extremen Rechten wie der SVP) traf auf keinen Widerstand. Und was eigentlich die „Linke“ sein sollte, hat sich als Sprachrohr des Bundesrates präsentiert. Es ist trostlos, aber sicher nicht überraschend, wenn man sieht, welche Rolle die beiden „sozialistischen“ Vertreter*innen in der Regierung (auch in der heutigen Pressekonferenz) spielten, die im Übrigen von ihrer Partei voll und ganz unterstützt werden.
Und aus der Gewerkschaftsbewegung (oder dem, was von ihr hinsichtlich ihrer Mobilisierungsfähigkeit übriggeblieben ist) ist noch nicht einmal ein Lebenszeichen wahrzunehmen. In den letzten Wochen haben sie sich, von wenigen momentanen Ausnahmen abgesehen, grundlegend an den Positionen der Bundesregierung ausgerichtet. Die gleiche Dynamik hat sich (in politischer und gewerkschaftlicher Hinsicht) auf der Ebene der Kantonsregierungen entwickelt.
Angesichts all dessen bleibt uns nichts anderes übrig, als unsere Opposition aufrechtzuhalten und die Verurteilung der genannten Entscheidungen fortzuführen; Entscheidungen, hinter denen nichts anderes steht als das Projekt eines „Neustarts“ in die gleiche Richtung wie zuvor, in der gleichen wirtschaftlichen und sozialen Logik wie zuvor, wobei all die „guten Absichten“ vergessen werden, die hier und da aufgetaucht sind.
Und alle Entscheidungen, die in den nächsten Tagen getroffen werden (sicherlich durch Wiederholung, Meineide, Empfehlungen, Sicherstellung, dass alle Maßnahmen der Hygiene und der sozialen Distanzierung eingehalten werden), werden ohnehin nur zur vorgefassten Idee von der Notwendigkeit einer Rückkehr zur Normalität des täglichen Kapitalismus beitragen; wie z.B. die der (sicherlich umsichtigen und vorsichtigen) Eröffnung von obligatorischen Schulen im Tessin.
Uns aber erscheint es gerade angesichts von Entscheidungen wie derjenigen des Bundesrates notwendiger denn je, unsere antikapitalistische Kritik neu zu beleben und zu vertiefen und die Unreformierbarkeit dieses Systems und seiner Logik, die immer zerstörerischer wird, hervorzuheben.
Wiederholen wir es noch einmal, weil es nötig ist: Unser Leben ist mehr wert als ihre Gewinne!