Die politische Elite der Schweiz lässt trotz mehrerer Rückschläge nicht locker mit den Angriffen auf die Altersvorsorge, insbesondere auf die AHV. Nach dem Scheitern der Altersvorsorge 2020 (AV2020) und den bescheidenen Erfolgen bei der Steuerreform und AHV-Finanzierung (STAF) geht sie nun wieder zu einem neuen Grossangriff über. Um was geht es?
von Willi Eberle (BFS Zürich)
Was beinhaltet die AHV21?
Mit der AHV21 soll in erster Linie das Rentenalter der Frauen auf 65 Jahre erhöht werden, und damit die gesetzlichen Voraussetzungen für eine zukünftige Erhöhung auf 67 und später auf 70 Jahre für alle geschaffen werden. Im Gegensatz zur Zweiten Säule, wo die Versicherungsgesellschaften und die einzelnen Pensionskassen diesbezüglich nur via BVG-Teil [Bundesgesetz über die berufliche Vorsorge] an die gesetzlichen Bestimmungen gebunden sind (etwa ein Drittel der versicherten Frauen haben in der Zweiten Säule bereits ein Rücktrittsalter von 65), ist der vorgeschlagen Artikel 21 des AHV-Gesetzes bindend. Er wirkt sich indirekt auch auf das Rentenalter in der Zweiten Säule via BVG Artikel 13 aus.
Dieser zentrale Pfeiler der vom Bundesrat Ende August 2019 vorgeschlagenen Gegenreform der AHV[1] wird zwar über vier Jahre gestaffelt eingeführt und für eine Übergangsgeneration von Frauen während neun Jahren abgefedert (Art 34bis). Die Einsparungen von 10 Milliarden Franken in der Periode 2023 bis 2031 durch die Erhöhung des Frauenrentenalters werden damit den Frauen aufgebürdet. Zudem wird eine Erhöhung des Mehrwertsteuersatzes um 0.7% vorgeschlagen. Die vorgeschlagenen Massnahmen für einen sogenannten flexibilisierten Altersrücktritt sind bestenfalls zwiespältig, da gerade Lohnabhängige im untersten Segment angesichts der tiefen Renten und einer unter Umständen fehlenden Zweiten Säule – ganz zu schweigen von der Dritten Säule – zu einem verspäteten Renteneintritt gezwungen sein könnten.
Brisant ist, dass die Frauen durchschnittlich über alle drei Säulen gerechnet ungefähr einen Drittel weniger Altersrente bekommen, hauptsächlich wegen der Zweiten Säule. Über 500’000 unter ihnen müssen nur von der AHV-Rente (mit allfälligen Unterstützungsleistungen) leben. Dazu kommt, dass ihre Löhne gegen 30% tiefer liegen als diejenigen der Männer[2]! Und nun müssen sie noch ein Jahr länger arbeiten. Mit der 9. AHV-Revision von 1996 wurde ihr Rentenalter unter Führung der damaligen SP-Bundesrätin Ruth Dreifuss bereits um zwei Jahre erhöht. Seit dann wurden alle Versuche einer weiteren Erhöhung deutlich abgelehnt, zuletzt bei der AV2020 im September 2017. Mal sehen, ob die SPS, die Grünen und die Gewerkschaften hier einen Riegel schieben, obschon «ihr» Bundesrat Berset das Projekt vorantreibt.
Diese Gegenreform ist ein weiterer Versuch, die finanzielle Lage der AHV auf Kosten der Lohnabhängigen, insbesondere der Frauen, zu verbessern. Dazu wird, wie seit den späten 1960er Jahren immer wieder, eine sich abzeichnende Krise der Finanzierbarkeit der AHV herbeikonstruiert: Höhere Lebenserwartung und steigender Altersquotient (d.h ein steigendes Verhältnis von Rentnern und Rentnerinnen zu aktiven Lohnabhängigen). Damals ging es um die Bekämpfung der von der PdA lancierten und der RML, der POCH und anderen linken politischen Organisationen unterstützten Volkspensionsinitiative[3]. Heute geht es um eine Augenwischerei hinsichtlich der offensichtlichen Krise der Zweiten Säule, wie sie damals von den Unternehmern, Banken, Versicherungen mit Unterstützung der Gewerkschaften und der SPS durchgeboxt wurde. In der Zweiten Säule, die 1985 in Kraft trat, lösten sich seither um die 40% der ursprünglichen Rentenversprechen in den lauen Lüften der Finanzmärkte und der harten Gegenreformen auf[4]. Demgegenüber hat sich die AHV trotz des massiven Leistungsausbaus bis in die 1970er Jahre hinein, trotz des anhaltenden Anstiegs der Anzahl der Rentner und Rentnerinnen und der sehr schwachen Reallohnentwicklung seit 40 Jahren, finanziell als sehr stabil erwiesen.
Weshalb die AHV21?
Das Scheitern der AV2020 (umfassende Reform der Altersvorsorge, einem Lieblingsprojekt von Alain Berset, SPS) zwang den Bundesrat, zwei parallele Reformen auszuarbeiten: die AHV21, für die die Regierung zuständig ist, und die Reform der Zweiten Säule (BVG, Bundesgesetz über die berufliche Vorsorge), die sie an die Verantwortung der «Sozialpartner» weitergereicht hat.
Zu Beginn der Verhandlungen über eine Reform der Zweiten Säule zwischen den Gewerkschaften und dem Arbeitgeberverband konzentrierte sich die Diskussion auf das Rentenalter der Frauen. Es war schnell klar, dass diese Streitfrage aus jenen Verhandlungen herausgenommen werden musste, wollte man weiterkommen. Ein bauernschlauer Schachzug, denn nun übernimmt die AHV21 die Aufgabe für das BVG, das Rentenalter für Frauen auf 65 Jahre anzuheben. Der Entwurf des Bundesrates[5] ändert sowohl Artikel 21 des Gesetzes über die die AHV («Personen, die das 65. Altersjahr vollendet haben (Referenzalter), haben Anspruch auf eine Altersrente ohne Abzüge und Zuschläge.») und Artikel 13 BVG («Das Referenzalter in der betrieblichen Altersvorsorge entspricht dem in § 21 AHV-Gesetz festgelegten Referenzalter»)[6].
Die beiden Änderungen werden denn auch wörtlich aus der AV2020 übernommen. Diese scheiterte in der Volksabstimmung vom Herbst 2017 bekanntlich vor allem an der Frage der Erhöhung des Frauenrentenalters und daran, dass ein Bündnis aus linken politischen und gewerkschaftlichen Sektoren das Referendum dagegen ergriffen hat und so eine Stellungnahme der Stimmberechtigten ermöglicht hat. Allerdings wurden die linken gewerkschaftlichen Sektoren, die vor allem aus der Romandie kamen, nach dem Erfolg des Referendums durch die Führungen ihrer Zentralverbände scharf gemassregelt.
Wie glaubhaft die Begründung einer angeblichen Krise der Finanzierbarkeit künftiger AHV-Renten ist, zeigt untenstehende Grafik, zusammengestellt aus Daten aus dem Bundesamt für Statistik[7]. Damit wird aufgezeigt, dass die immer wieder aufgebrachten Argumente einer bevorstehenden Finanzierungslücke der AHV an der Realität vorbeigehen – sie dienen vor allem einer Panikmache, um die Stimmung für Gegenreformen dieses sozialen und soliden Sozialwerkes aufzubauen.
Da die AHV zu über 80% aus Lohnbestandteilen finanziert wird, so erstaunt eigentlich ihre anhaltende finanzielle Robustheit: Die Reallöhne erhöhten sich seit 1976 lediglich um den Faktor 1.36, während sie in der Periode 1946 bis 1975 um den Faktor 2.42 anwuchsen[8]. In dieser Periode des «Goldenen Zeitalters des Kapitalismus» erfolgten auch die grössten Schritte des Aufbaus der AHV gleichzeitig mit einer markanten Erhöhung der Lebenserwartung. Es ist zudem eine Schande für dieses Gesellschaftssystem, dass die steigende Lebenserwartung, die naturgemäss höhere Rentenleistungen erfordert, ein Fluch sein soll, für den nun die Lohnabhängigen zur Rechenschaft gezogen werden sollen. Obschon die Vermögen der Reichsten 300 in der Schweiz mittlerweile 702 Milliarden Franken betragen und sich das reale BIP in den vergangenen 40 Jahren verdoppelt hat. Irgendwas läuft da schief!
In einem Interview mit der Basler Tageswoche äusserte sich der Zürcher Altersforscher François Höpflinger kürzlich zur Strategie, die hinter den pessimistischen Prognosen steckt, die immer von neuem aufgetischt werden. Die Schwarzmalerei habe einen politischen Hintergrund. «Auf die Zukunft projizierte Katastrophenszenarien eignen sich gut als politische Instrumente. Schon Ende der 1930er Jahre wurde das Schreckgespenst einer aussterbenden und überalterten Schweiz gezielt eingesetzt, um die Einführung einer AHV zu bekämpfen. 1948 wurde die heutige AHV dann eingeführt. Zwischen 1970 und 1990 wurde sie von den Finanzkreisen bewusst schlechtgemacht, weil man einen Wechsel vom Umlagesystem auf die zweite Säule wollte.»
Was tun?
Eins ist sicher: auch wenn wir nun angeblich ein «linkeres» Parlament haben und zwei «linke» Bundesrätinnen, so wird sich die Dynamik der Angriffe auf die Altersvorsorge beschleunigen, vor allem auf die Renten in der Zweiten Säule. Es gibt mehrere Optionen, diesen Angriffen zu begegnen:
Erstens könnte einfach versucht werden, die alten Fehler zu korrigieren und das gesamte Vermögen von über 1’000 Milliarden Franken der Zweiten Säule und die dazugehörenden aktuellen Rentenversprechen als «Besitzstandsgarantie» in die AHV zu überführen. Dieses Projekt taucht über die vergangenen Jahre in der äusseren Linken regelmässig auf. So einleuchtend es auf den ersten Blick ist, so politisch unrealistisch ist es zumindest vorderhand. Es ist absehbar, dass sich die Gewerkschaften und die institutionelle Linke dagegenstellen würden, ein Herz und eine Seele mit den Unternehmern, mit den Banken, den Versicherungen und ihren politischen Parteien und Verbänden – wie bereits bei der Abstimmung zur Volkspension 1972. Obschon: «Ein solcher Umbau der Altersvorsorge ist zwar sicher technisch und vor allem politisch nicht einfach, aber Geld wäre genügend zur Verfügung, um allen ab 64/65 eine Rente von mindestens 5’000 CHF zu garantieren, samt automatischem Teuerungsausgleich. Letzterer wäre angesichts der aufgeblähten Finanzblase eine absolute Notwendigkeit, um den systemisch hohen Risiken einer massenweisen Altersarmut entgegenzuwirken. Das ganze Übergangsszenario könnte unseres Erachtens einen Besitzstand, von sagen wir, bis zu einer Jahresrente von 100’000.- garantieren. Wie [… eine] Überschlagsrechnung der wichtigsten Variablen zeigt, wäre dieser Übergang solide finanzierbar, vor allem wenn entsprechende Lohnerhöhungen erkämpft und gegebenenfalls die Profite stärker besteuert würden.»[9] Dies allerdings würde eine grundsätzliche Änderung der Strategie der Gewerkschaften erfordern: Sie müssten beginnen, auf allen Ebenen, bis in die Betriebe hinein, die Kampffähigkeit der Arbeiterklasse aufzubauen.
Zweitens kann gegen das Projekt der AHV21, nachdem es im Frühjahr 2020 im Parlament mit ggf. kleinen Korrekturen beschlossen werden wird, das Referendum ergriffen werden. Diese Perspektive ist kurzfristig notwendig und vermutlich auch realistisch. Auch wenn durchaus unklar ist, wie sich die SPS, die Grünen und die Gewerkschaftsverbände zu einem solchen Referendum stellen werden. Damit aber könnten die Pläne zu einer weiteren Gegenreform in der Zweiten Säule, wie sie von den «Sozialpartnern» im Sommer 2019 beschlossen und vom Bundesrat übernommen wurden[10], verhindert werden. Denn diese stützen sich implizit in ihren Annahmen auf die Erhöhung des Frauenrentenalters auf 65 Jahre ab.
Drittens muss die AHV gestärkt werden, auf Seiten der Renten wie auf Seiten der Finanzierung. Die vorgesehene Initiative des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB) für eine 13. AHV-Rente[11] ist ein Schritt in die richtige Richtung. Allerdings ist zu befürchten, dass deren Finanzierung nicht mit einer Kampagne und starken Mobilisierung für breite und starke Lohnerhöhungen verbunden wird, sondern wie gewohnt über eine Erhöhung der Mehrwertsteuer und der Lohnabzüge sichergestellt werden soll. Und diese unsozialen Finanzierungsinstrumente gilt es unbedingt zu bekämpfen. Die Zuleitung der Gewinne der Nationalbank in die AHV[12] ist ein akzeptabler Kompromiss, der aber politisch und finanziell zu wenig nachhaltig ist.
Diese drei Achsen müssen im Rahmen einer Politik, die sich an den Interessen der Lohnabhängigen, vor allem der schwächeren Segmente, misst, gleichzeitig angegangen werden. Dazu sind linke politische Handlungszusammenhänge notwendig, die die entsprechenden Kampagnen entwickeln und führen können. Das heisst, es müssen an der Basis, bei den Lohnabhängigen selbst, Mobilisierungen aufgebaut werden. Dies ist ein ehernes Gesetz überhaupt, um aus der fatalen «Logik des kleineren Übels» herauszukommen, wie sie von den Führungen der institutionellen und sozialpartnerschaftlichen Linken seit Jahrzehnten mit faulen «Deals» geführt wird, und die gerade in der Altersvorsorge zu verhängnisvollen Gegenreformen geführt hat.
Das Bild zeigt die Gewerkschaftsdemonstration „Rentenabbau stoppen – AHV stärken“ vom 10. September 2016 in Bern, an der über 20’000 Menschen teilgenommen haben.
[1] Siehe Bundesblatt unter https://www.admin.ch/opc/de/federal-gazette/2019/6437.pdf
[2] Siehe: https://sozialismus.ch/artikel/2019/schweiz-wie-hoch-die-lohnungleichheit-tatsaechlich-ist/
[3] Zu der damaligen Auseinandersetzung siehe: Jost Steiger: Zweite Säule: Sozialwerk oder Geschäft? Vollausbau der AHV/IV als Alternative zur «Drei-Säulen-Konzeption». Limmat Verlag, Zürich, 1977. Die Aussagen in dieser wegweisenden Schrift haben sich in wesentlichen Zügen bestätigt, insbesondere der unsoziale Charakter der Zweiten Säule und ihre unsichere und problematische Finanzierungsbasis. Die AHV weist mit ihrem Finanzierungsmodell des Umlageverfahrens und ihrer Allgemeingültigkeit keine dieser drei Hauptschwächen auf. Beim Umlageverfahren werden die laufenden Renten zum grössten Teil mittels der laufenden Beiträge aus den Lohnabzügen finanziert. Siehe auch die Diskussion in Schweiz: Keine gesicherte Altersvorsorge im Kapitalismus
[4] Siehe Referenz 3
[5] Siehe: https://www.admin.ch/gov/de/start/bundesrecht/bundesblatt.html
[6] Siehe: https://www.admin.ch/opc/de/federal-gazette/2019/6305.pdf, 5.3.4 Art. 13
[7] https://sichere-renten-ja.ch/. Diese Webseite bringt einige interessante Einwände gegen diesen Diskurs einer Finanzierungskrise der AHV. Pikanterweise wurde diese Webseite seinerzeit zur Unterstützung der Kampagne für die AV2020 aufgebaut. Wir haben uns bereits damals als gegen jene Gegenreform gewandt!
[8] Berechnung gemäss: https://www.bfs.admin.ch/bfsstatic/dam/assets/8046224/master
[9] Aus: Die AV2020: Griff in den Giftschrank der Sozialpartnerschaft
[10] Siehe z.B. die NZZ vom 14. Dezember 2019: Wie der Bundesrat die berufliche Vorsorge stabilisieren will
[11] https://www.sgb.ch/gremien/detail/weichenstellung-in-der-altersvorsorge-volksinitiative-fuer-eine-13-ahv-rente
[12] Interessanterweise wurde diese Idee zuerst durch die SVP formuliert.
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