In den vergangenen Wochen ist die Schweiz, wie andere Länder auch, zur «Normalität» zurückgekehrt. Die Wiedereröffnung der Pflichtschulen, der Geschäfte und Märkte, der Restaurants, des öffentlichen Verkehrs und der Sportanlagen: Wenn wir bestimmte Randsektoren ausschließen, haben wir praktisch eine Rückkehr zur vollen wirtschaftlichen Aktivität, auch wenn Lohnabhängige und Kleinselbständige zu Recht mit großer Angst in die Zukunft blicken. Deshalb setzen wir uns auch in der Schweiz für eine antikapitalistische und internationalistische Antwort auf die Covid-19-Krise und die beginnende wirtschaftliche Krise ein.
von BFS/MPS und solidaritéS
In einem sehr großen Teil des Landes waren die Produktionsaktivitäten jedoch keineswegs eingestellt worden, insbesondere in der Industrie, im Baugewerbe und in einem großen Teil des tertiären Sektors wurde weitergearbeitet. Dies ist nicht überraschend. Man konnte von einer Regierung, die seit Jahrzehnten alle Aspekte des Neoliberalismus vollumfänglich umsetzt, nichts anderes erwarten. Ein Land, in dem dank der guten Dienste der Führungen der Sozialdemokratischen Partei (SPS) und des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB) die Idee tief verwurzelt ist, dass Marktmechanismen Vorrang vor allen anderen sozialen oder politischen Überlegungen eingeräumt werden müssen. Doch wie wir wissen, kann der Kapitalismus die aktuellen sozialen und gesundheitlichen Probleme überhaupt nicht lösen. Er bringt uns vielmehr endlose soziale, politische und ökologische Rückschritte.
Die Entscheidung von Bundesrat und Kantonen zu Beginn der Pandemie war klar: Produktion und Handel – vor allem in den auf den Weltmarkt ausgerichteten Sektoren – sind um jeden Preis aufrechtzuerhalten, trotz der tödlichen Folgen für die Bevölkerung. Das Wichtigste war, dass private Unternehmen in der Lage sein müssen, ihre Position im internationalen Wettbewerb zu behaupten und während der durch die Pandemie bedingten «Pause» neue Vorteile zu erlangen. Einmal mehr hat der Bundesrat bewiesen, was er wirklich ist: nicht der Schöpfer einer «nationalen Einheit» jenseits des Streites von parteibezogenen Positionen, sondern der treue Vollstrecker einer Politik, die den grundlegenden Interessen der herrschenden Klassen entspricht.
Wir bewegen uns nicht zufällig in eine Richtung, wie sie von den massgebenden Kreisen aus der Wirtschaft und der Rechten vertreten wird; diese kritisieren seit Wochen unablässig die «übertriebene Vorsicht» des Bundesrates bei der Einführung der Lockerungsmassnahmen. Diese Kritik ist auf keinen Widerstand einer «Linken» gestossen, die nicht aufgehört hat, den Bundesrat zu loben – mit Ausnahme der in Genf in den Nationalrat gewählten Kandidatin von Ensemble à Gauche, die einen breiten Appell für die Aussetzung aller nicht dringenden und nicht wesentlichen wirtschaftlichen Aktivitäten lanciert hat. Die Rolle der beiden «sozialdemokratischen» Vertretungen im Bundesrat überrascht nicht, wenn es auch enttäuschend ist, dass sie diese Politik mit der unerschütterlichen Unterstützung ihrer Partei verkörperten.
Darüber hinaus haben die wichtigsten Gewerkschaftsführungen die Gelegenheit nicht genutzt, die einseitige Politik des Bundesrates zugunsten der Unternehmer*innen in Frage zu stellen. In den letzten Wochen haben sie sich bis auf wenige Ausnahmen im Wesentlichen den Positionen der Regierung angeschlossen, die beschlossenen Maßnahmen begrüßt und sich darauf beschränkt, die Verteidigung der Einkommen unterhalb des Medianlohns zu fordern, ohne eine konkrete Mobilisierung vorzuschlagen. Das Ergebnis all dessen ist, dass die Arbeiter*innen, die Angestellten, die Kleinselbständigen mit untergeordnetem Arbeitsverhältnis, die Rentner*innen, also die große Mehrheit der Bevölkerung, «zur Normalität zurückkehrt», obwohl sie materiell, politisch und sozial noch geschwächt ist. Auf der materiellen Ebene hatte die Unterbrechung oder Reduzierung der Aktivitäten erhebliche Auswirkungen auf die Lebensbedingungen von Millionen von Arbeitenden, insbesondere von Frauen, und zwar in mehrfacher Hinsicht: Während der Pandemie arbeiteten 70% von ihnen in den am stärksten exponierten Sektoren. Diejenigen, die zu Hause blieben und eine doppelte Arbeitslast zu tragen hatten, waren oftmals Opfer von Gewalt durch ihre Partner. Auf der politischen Ebene konnten die Lohnabhängigen aufgrund der gesundheitspolitischen Massnahmen ihre Interessen nicht kollektiv vertreten und ihr soziales Gewicht nicht zur Geltung bringen, während der Bund und die Kantonsregierungen in aller Ruhe ihre wirtschaftliche und politische Antwort auf die Pandemiekrise entwickeln konnten. In sozialer Hinsicht sind es die arbeitenden Klassen, insbesondere die zugewanderten Lohnabhängigen, die am stärksten von der Pandemie betroffen sind.
Eine beispiellose Krise des Kapitalismus
Die Pandemie löste eine tiefe wirtschaftliche und soziale Krise aus, die sich seit Monaten in der gesamten kapitalistischen Welt zusammengebraut hatte. Die Warnzeichen dieser Depression waren schon seit Jahren zu sehen, sowohl als zunehmende Kapitalflucht in spekulative Aktivitäten als auch im kontinuierlichen Rückgang der Einkommen in der Arbeitswelt. Die Pandemie war somit ein mächtiger Faktor zur Beschleunigung und Vertiefung eines erwarteten Szenarios.
In der Schweiz wie in anderen Ländern diktieren heute die herrschenden Klassen, die Bosse und ihre politischen Vertreter*innen, die Agenda für eine «Rückkehr zur Normalität». Bereits jetzt sind die grundlegenden Orientierungen hinter den Forderungen der Unternehmer*innen erkennbar, die sich in den kommenden Monaten vertiefen werden: Entlassungen, Lohnkürzungen, längere Arbeitszeiten, mehr Tempo bei den Angriffen auf die Sozialversicherungen und die öffentlichen Dienste. Hinter der Rechtfertigung der «Rückgewinnung» des verlorenen Bodens verbirgt sich eine Offensive, die darauf abzielt, den Produktionsapparat zu rationalisieren, um ihn noch wettbewerbsfähiger zu machen: ein Wille, der mit dem Wunsch verbunden ist, die Positionen der Schweizer Bourgeoisie auf internationaler Ebene in der kommenden Depression zu stärken. Die Pandemie wird herangezogen, um diese Stosslinie auf billige Weise zu rechtfertigen und zu verbergen.
Auf politischer Ebene wurde bereits in verschiedenen Bereichen die Intensivierung von Sparmaßnahmen angekündigt, die darauf abzielen, das zurückzuerhalten, was zur Bewältigung gesundheitlicher und sozialer Notlagen ausgegeben werden musste. Deshalb wird im öffentlichen politischen Diskurs niemals den Vorrang von Unternehmensinteressen in Frage gestellt. Ganz oben auf der politischen Tagesordnung steht dabei die Notwendigkeit, den «Neustart» und die Entwicklung von Unternehmen zu fördern und sie zu unterstützen, da sie als Schlüssel eines künftigen kollektiven Wohlstandes angesehen werden. Auf der anderen Seite sind die materiellen und sozialen Bedürfnisse der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung keineswegs Gegenstand der Überlegungen der Regierungsparteien auf Bundes- und Kantonsebene.
Entwickeln wir angesichts dieser Krise eine ökosozialistische, antirassistische und feministische Alternative!
Als Antwort auf diese Offensive ist es notwendig, dass die antikapitalistische Linke einen Diskurs und Interventionen entwickelt, die von der Notwendigkeit des Aufbaus einer globalen Alternative zum Kapitalismus ausgeht.
Vor allem muss an die zerstörerische Logik dieses Systems erinnert werden, das nicht nur die menschliche Gesellschaft, sondern auch das Leben insgesamt bedroht und die Zukunft unserer Spezies auf diesem Planeten gefährdet. Vergessen wir nicht, dass die aktuelle Pandemie im Grunde das Ergebnis von Ungleichgewichten in den Ökosystemen ist, die durch den globalen Kapitalismus und seinen ungezügelten Wettlauf um Profit verursacht werden.
Angesichts der tiefgreifenden Logik dieses System bekräftigen wir die Unmöglichkeit, seiner «Reformierbarkeit», es «menschlicher», «sozialer» oder «respektvoller» gegenüber der Umwelt zu machen. Im Gegenteil, wir wollen, dass die Produktionsentscheidungen auf demokratische Weise von möglichst vielen Menschen getroffen werden, um die sozialen Grundbedürfnisse zu befriedigen und gleichzeitig die großen ökologischen Gleichgewichte zu respektieren. Ein solches Ziel setzt das gesellschaftliche Eigentum an den wichtigsten Produktions-, Transport-, Vertriebs- und Kreditmitteln voraus.
Unsere Hoffnung in den kommenden Monaten kann nur auf den sozialen Bewegungen ruhen, die in den letzten Jahren jenen Kraft und Leben geschenkt haben, die gegen soziale Ungerechtigkeit und Umweltzerstörung kämpfen: die Kämpfe der Lohnabhängigen, vor allem im öffentlichen Dienst, gegen die Sparpolitik; die Frauenbewegung für Gleichberechtigung; die Jugendbewegung für das Klima. Durch die Mobilisierung von Millionen von Menschen auf der ganzen Welt haben diese Bewegungen die Notwendigkeit eines radikalen Systemwechsels aufgeworfen. Sie haben bekräftigt, dass die Ausbeutung der Arbeit, die Unterdrückung der Frauen und die Zerstörung des Planeten Aspekte sind, die eng mit der Struktur und dem Funktionieren der kapitalistischen Produktionsweise verbunden sind, und dass nur durch die Infragestellung dieses Systems radikale Veränderungen möglich sein werden. Schliesslich fordern die antirassistischen BlackLivesMatter-Mobilisierungen, die sich weltweit und in der Schweiz mit grosser Kraft entwickelt haben, die rassistische Entmenschlichung an der Basis des Kapitalismus heraus. Indem sie behaupten, dass das Leben der Schwarzen Menschen zählt, wenden sie sich nicht nur gegen Polizeigewalt, sondern auch gegen die rassische Arbeitsteilung, die urbane Segregation, die mörderische Asylpolitik der Schweiz und die Ausplünderung der Länder des globalen Südens durch den Westen.
Die Verpflichtung, die Mobilisierungen dieser Bewegungen zu unterstützen und zu entwickeln, wird Hand in Hand gehen müssen mit der Stimulierung der Selbstorganisation der Arbeiter*innen und der Aktionen zur Verteidigung der materiellen und sozialen Lebensbedingungen der unteren Klassen in diesem Land, die, wie überall sonst, dem Kreuzfeuer der Offensive der herrschenden Klasse und ihrer Regierungen ausgesetzt werden. In diesem Sinne müssen alle Versuche zur Mobilisierung in den Betrieben, zur Reaktivierung verkümmerter Gewerkschaftsstrukturen, zur Schaffung von Formen kollektiver Solidarität unterstützt und entwickelt werden.
Diesen Aufgaben werden die Aktivist*innen der Bewegung für den Sozialismus (BFS/MPS) und von solidaritéS in der vor uns liegenden schwierigen Phase ihre Kräfte widmen. Wir laden all jene ein, die diese antikapitalistische und internationalistische Perspektive teilen, sich mit uns zu organisieren!
Hier ist das Statement auf Italienisch und Französisch.