Für die meisten Menschen weltweit bedeutet der Ausbruch des Corona-Virus eine drastische Verschlechterung ihrer Lebensumstände. Auch wer nicht direkt daran erkrankt, oder geliebte Menschen verliert, leidet. Kurzarbeit, Jobverlust, Doppelbelastung durch Care- und Lohnarbeit. Die Liste ist unendlich lang. Doch einer «Berufs»gruppe kommt der Notstand gelegen: Der Polizei. Denn wie wir an der antirassistischen Autodemo am 18. April 2020 sowie am 1. Mai in Zürich beobachten konnten, ergötzt sich der «Freund und Helfer» – manchmal auch «Freundin» – regelrecht an der Beschneidung der Grundrechte. Kein Wunder, denn seit sie an den Wochenenden keine «verdächtig aussehenden Menschen» mehr drangsalieren können, muss es den Uniformierten furchtbar langweilig sein. Deshalb überrascht es nicht, dass sie am 1. Mai bereits frühmorgens in Vollmontur und auf Krawall gebürstet auf dem Helvetiaplatz in Zürich Spalier standen.
von Karla Kloss
Auf Krawall gebürstet
Während die Yuppies beim Bäcker in der Schlange standen, kontrollierte die Polizei 200 Meter weiter bereits die ersten Personen unsanft. Ohne ersichtlichen Grund wurden diese festgehalten und durchsucht. Um Einzelpersonen zu kontrollieren, braucht es augenscheinlich zwei Kastenwagen und rund sechs Polizist*innen. Was wie der Beginn eines schlechten Witz anmutet, entwickelt sich schnell zu einer unangenehmen Situation. Denn in den Augen der aggressiven Beamt*innen macht sich bereits verdächtig, wer sich auf dem «Ni una Menos»-Platz[1] aufhält. Passant*innen wurden angeschrien, sie sollen weitergehen. Wer nicht augenblicklich spurte, geriet in eine Personenkontrolle. Einer Person, die das aggressive Verhalten eines Polizisten filmte, wurde lauthals mit drei Jahren Gefängnis gedroht. Trotz der Lächerlichkeit dieser Aussage, ist einem nicht nach Lachen zumute.
Am Seebecken bot sich ein ähnlich trauriges Bild. Die dort versammelten Menschen machten – stets unter Wahrung des verordneten Sicherheitsabstands – gemeinsam auf die Menschenrechtsverletzungen der türkischen Regierung aufmerksam. Auch sie wurden von der Polizei vertrieben. Gegen rund 40 von ihnen wurde aufgrund eines angeblichen Verstosses gegen die Covid-19 Verordnung des Bundesrats Anzeige erstattet. Eine Person wurde zudem verhaftet.
Polizei missachtet Hygienevorschriften
Auch die Aktivist*innen, die sich am frühen Nachmittag in Gruppen von vier bis fünf Personen rund um die Eingänge des Hauptbahnhofst aufgestellt haben, hielten sich an die Vorgaben des Bundesamtes für Gesundheit (BAG). Sie trugen Masken, Handschuhe und hielten den Sicherheitsabstand von zwei Metern zu jeder Zeit ein. Mit Flyern und Transparenten machten sie auf die desolate Situation in den griechischen Flüchtlingscamps und an die unmenschliche Politik der EU und der Schweiz im Umgang mit geflüchteten Menschen aufmerksam. Obwohl die Aktion von den angesprochenen Passant*innen durchaus gut aufgenommen wurde, dauerte es nicht einmal zehn Minuten, bis die Polizei auf der Matte stand.
Einmal mehr durchsuchten circa 15 Polizist*innen in Vollmontur die Kleingruppen, die aus jeweils vier bis fünf Personen bestanden. Der Mindestabstand und Hygienemassnahmen wurden dabei zu keinem Zeitpunkt eingehalten. Nicht einEr der Beamt*innen trug Handschuhe, geschweige denn eine Schutzmaske. Auf die Frage der Aktivist*innen, weshalb sie sich nicht an die Vorgaben des BAG hielten und diese unnötig der Gefahr einer Ansteckung aussetzten, reagierten die Beamten mit Zynismus. Während einer erklärte, er hätte Corona gehabt, sie sollten besser aufpassen, liess ein anderer verlauten, dass die Aktivist*innen ja durch ihre eigenen Masken geschützt seien. Gleichzeitig verlangten sie von ihnen jedoch, ihre Gesichtsmasken zu entfernen, und fummelten ohne Handsschuhe in deren Taschen rum.
Kritiker*innen werden mundtot gemacht
Der verqueren Logik der Polizist*innen zufolge ist die Bevölkerung also selbst dafür verantwortlich, sich vor Corona zu schützen. Es stellt sich die Frage: Wozu dann der Einsatz der Polizei? Aus der inkoherenten Argumentation der Polizist*innen, sowie deren offenkundigen Missachtung der Regeln des BAG, lässt sich klar erkennen, worum es der Stadtregierung bei diesem Einsatz wirklich ging: Nicht der Schutz der Bevölkerung steht an oberster Stelle, sondern die Einschränkung der Freiheit auf Meinungsäusserung. Menschen, die sich bemühen, die Regeln des BAG einzuhalten, wurden verhöhnt und der Gefahr auf Ansteckung fahrlässig ausgesetzt. Was wir schon vor Corona wussten, wird in Zeiten dieser «Krise» somit überdeutlich: Die wahre Gefahr ist der neoliberale Kapitalismus. Denn innerhalb dieses Systems werden im Namen der «nationalen Sicherheit» der Staatsapparat und seine Vollstrecker*innen ermächtigt, die Grundrechte der Bevölkerung auf Bewegungs-, Versammlungs- und Meinungsäusserungsfreiheit drastisch einzuschränken. Wer auf die Diskrepanzen und Unstimmigkeiten innerhalb dieses Systems aufmerksam macht, wird durch die Polizei mundtot gemacht.
Solidarität heisst Widerstand
Auch ein Blick in den Bericht des Sicherheitsdepartements der Stadt Zürich zum 1. Mai lässt schnell erkennen, was mit diesem Einsatz erreicht werden sollte. Denn bei den angeblichen «Vergehen» der Aktivisitinnen handelt es sich hauptsächlich um Dinge wie Flyer verteilen und Transparente aufhängen. Inwiefern diese Aktionen eine Ansteckungsgefahr bedeuten, bleibt unerwähnt. Ein Beispiel daraus, das die Unverhältnismässigkeit des Polizeiaufgebots adequat beschreibt: «Kurz vor 14.30 Uhr wurden an der Europaallee beim Hauptbahnhof zehn Personen, die Flyer verteilten, kontrolliert. Drei Personen wurden für weitere Abklärungen in eine Polizeiwache gebracht.» Seit die sogenannte Corona-Krise den Sicherheitsapparat ermächtig, willkürlich gegen Kritiker*innen vorzugehen, kann also bereits das Verteilen von Flyern oder das Mitführen von Transparenten zu einer Verhaftung führen.
Immerhin führte das aggressive Eingreifen der Polizei dazu, dass sich rund um die verschiedenen Aktionen Zuschauer*innen mit den kontrollierten und schikanierten Personen solidarisierten. Der völlig unverhältnismässige Einsatz der Polizei macht somit auch für Unbeteiligte klar: Die Übergriffe durch den Staatsapparat gehen uns alle etwas an.
Die Zahlen, welche das Sicherheitsdepartement in ihrer Schlussbilanz veröffentlicht hat, bestätigen das hier gezeichnete Bild eines überaus unverhältnismässigen Einsatzes: Insgesamt wurden 24 Personen festgenommen, darunter 11 Frauen und 13 Männer. Gegen weitere 113 Personen wurde eine Wegweisung ausgesprochen. 21 der verhafteten Personen wurden nach Überprüfung der Identität bereits am Freitag entlassen, eine weitere Person erst am Sonntagmorgen. Zum Zeitpunkt als der Artikel verfasst wurde, waren zwei Personen noch immer inhaftiert. Ihnen gilt unsere volle Solidarität. Und: Solidarität heisst Widerstand!
Die Redaktion dank der Autorin für die Zusendung dieses Berichts. Das Titelbild zeigt die Verhaftung einer Pflegerin, weil sie am 1. Mai darauf aufmerksam machte, dass sie unter Wertschätzung nicht unbedingt 13-Std.-Arbeitstage versteht. Weitere Erfahrungsberichte zur Repression am 1. Mai 2020 finden sich hier.
[1] Der Helvetiaplatz in Zürich wurde von der feministischen Bewegung in «Ni una Menos»-Platz umgetauft.