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Die vierte Welle baut sich auf – und die Politik schaut zu

Die Pandemie meldet sich auch in der Schweiz zurück. Eine erneute Verschärfung der Massnahmen ist trotzdem weit und breit nicht in Sicht. Der Bundesrat hat sich mit seiner Ankündigung im Mai 2021, die Lockerungen garantiert nicht mehr rückgängig zu machen, politisch in die Sackgasse manövriert. Dass es spätestens im Herbst zu einer vierten Welle kommen wird, wird schulterzuckend akzeptiert, wie wenn ausser Impfen nichts dagegen unternommen werden könnte. Beste Voraussetzungen also, dass das Spiel wieder von vorne beginnt.

von Eva L. Blum und Philipp Gebhardt (BFS Zürich)

Seit Anfang Juli verdoppeln sich die Corona-Infektionen in der Schweiz jede Woche – aktuell sind es rund 600 pro Tag. Rechnet man konsequent weiter, dürften wir gegen Ende August auf 10’000 positive Tests an einem Tag kommen, Ende September dann auf 20’000. Der Anteil der deutlich ansteckenderen Delta-Variante liegt mittlerweile bei knapp 80%. Die erstmals in Indien aufgetretene Mutation dürfte alle anderen Varianten bald vollständig verdrängen. Ähnliche Entwicklungen gibt es u. a. in Grossbritannien oder Portugal, in Österreich liegt der Anteil der Delta-Variante bereits bei 90% der Neuinfektionen. Doch die Schweizer Behörden ergreifen bislang keinerlei Massnahmen, denn die Lage, so Bundesrat Berset gegenüber SRF, habe sich jetzt völlig geändert; nun gebe es ja die Impfung. Also lässt man die Sache laufen und redet sie klein: Vor allem jüngere Personen, die noch nicht geimpft seien, werde es wohl treffen, aber diese erkrankten in der Regel nicht so schwer, weshalb auch nicht mit einer erneuten Überlastung des Gesundheitswesens zu rechnen sei.

Einmal mehr werden alle Warnungen ignoriert

Mit Behauptungen wie diesen unterstreicht die Politik einmal mehr, dass ihr die Wettbewerbsfähigkeit der Schweizer Wirtschaft wichtiger ist, als das Wohlergehen der eigenen Bevölkerung. Darüber hinaus offenbart sie, dass sie wissenschaftliche Erkenntnisse zur Pandemie nach wie vor konsequent ignoriert. Erst Anfang Juli erschien ein weiterer Aufruf verschiedener europäischer Wissenschaftler:innen im britischen Fachblatt The Lancet. Auch wenn dieser sich an die britische Regierung richtet, die trotz massiv steigender Infektionszahlen am 19. Juli 2021 praktisch alle Schutzmassnahmen gegen Sars-CoV-2 aufgehoben hat; die Warnungen der Wissenschaftler:innen sind auch auf die Situation in der Schweiz übertragbar. Ähnlich wie in Grossbritannien sind auch hier erst rund die Hälfte der Menschen geimpft – zu wenig, um das Virus, vor allem in seiner ansteckenderen Variante auszubremsen. Die Zahlen werden also auch hier weiter steigen und dabei zeigen immer mehr Berichte u. a. aus Deutschland, dass auch jüngere Menschen schwer erkranken und Long Covid entwickeln können. Früher oder später wird dies auch im Gesundheitssystem spürbar werden, dabei sind Ärztinnen, Ärzte und Pflegekräfte noch erschöpft von den drei ersten Wellen der Pandemie. Dazu wachsen Frust und Wut, weil die Politik ihre Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen, mehr Personal und höheren Löhnen konsequent ignoriert.

Das Virus lässt sich nicht einfach in den Globalen Süden auslagern

Die vierte Welle ohne Gegenmassnahmen laufen zu lassen, wird die sozialen Ungleichheiten weiter verschärfen – dies gilt für Grossbritannien genauso wie für die Schweiz, denn was ist mit den Menschen, die sich wegen ihrem (jungen) Alter oder aus gesundheitlichen Gründen nicht impfen lassen können? Was ist mit den Menschen, die trotz Impfung aufgrund ihrer Lebensumstände oder Arbeitstätigkeiten hohen Risiken für Infektionen ausgesetzt sind – denn auch eine Impfung schützt nicht 100 Prozent vor einer Ansteckung? Sollen sie sich – so sie denn können! – nun für weitere Wochen und Monate isolieren, also soziale Kontakte so weit wie möglich einschränken? Die seit Beginn der Pandemie beschworene Eigenverantwortung der Menschen wird einmal mehr auf dem Rücken marginalisierter Gruppen ausgetragen. Dies gilt nicht nur für die Schweiz und Europa, sondern vor allem auch global: Während in Europa inzwischen rund 44% der Bevölkerung mindestens eine Impfung gegen Covid-19 erhalten haben, sind es in Afrika gerade knapp 3%.

Schliesslich warnen die Wissenschaftler*innen in ihrem Memorandum vor der Entstehung neuer Virus-Varianten. Und sie sind nicht die Einzigen. Der Molekularbiologie Ulrich Elling, der zu Österreichs führenden Experten für Coronavirus-Mutationen zählt, erklärt dies am 17. Juli 2021 in der Wiener Zeitung wie folgt: Zwar verändere sich Sars-CoV-2 mit zwei Mutationen im Genom pro Monat grundsätzlich deutlich weniger als andere Viren. Der Grund, warum wir trotzdem viele Mutationen sehen würden sei, weil es so viele Viren gibt. Je mehr Menschen sich mit dem Virus infizierten, desto mehr Möglichkeiten habe es auszuprobieren, was alles geht. Und so geht Elling, wie viele andere Wissenschaftler:innen davon aus, dass früher oder später auch Mutationen entstehen werden, die den Immunschutz umgehen. Die aktuelle Situation, in der erst ein Teil der Menschen geimpft ist, sei hierfür besonders kritisch, denn das Virus stehe jetzt unter einem starken Selektionsdruck, Impf-Resistenzen aufzubauen, um einen möglichst grossen Teil der Bevölkerung infizieren zu können. Die Lösung, so Elling, sei: Weltweit impfen. Alle. Ein globaler Plan zur radikalen Eindämmung der Pandemie, weltweite Impfgerechtigkeit, die Aufhebung der Impfpatente bis hin zur dafür nötigen Vergesellschaftung der Pharmaindustrie sind daher Forderungen, die weiterhin gültig bleiben.

Gerade die reichen Staaten des Globalen Nordens wären darüber hinaus dazu zu verpflichten, dass sie die Zahl der Neuinfektionen so rasch wie möglich senken, um dem Virus das «Futter» für weitere Mutationen zu entziehen. Die Forderung der Kampagne ZeroCovid nach einem sofortigen, solidarischen Shutdown bleibt also aktuell. Nur wenn die Ansteckungszahlen massiv runtergehen und jede einzelne Neuinfektion wieder nachverfolgt werden kann, werden wir die Situation in den Griff bekommen. In der Schweiz passiert das genaue Gegenteil: Das Testregime wird massiv heruntergefahren; Geimpfte und Genesene erhalten keine kostenlosen Selbsttests mehr, obwohl bekannt ist, dass sich auch Geimpfte infizieren und andere anstecken können; und das Contact Tracing wird sogar fast ganz eingestellt.

Das Prinzip Hoffnung, dass irgendwie dann schon alles gut kommt, ist seit Beginn der Pandemie ein schlechter Ratgeber. Denn solange das Virus global grassiert, gilt: Niemand ist geschützt, solange nicht alle geschützt sind.

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