Am Lausanner Unispital CHUV (Centre Hospitalier Universitaire Vaudois) treten die Beschäftigten am 23. Juni 2021 für einen Tag in den Streik. Drei Tage später organisieren Angestellte des Gesundheitswesens in Zürich eine Demonstration unter dem Motto «Gesundheit vor Profit». In beiden Städten wehren sich die Beschäftigten gegen die stetige Verschlechterung der Arbeitsbedingungen. Schuld daran ist aber nicht nur die Pandemie, sondern die neoliberale Umstrukturierung des Gesundheitswesens in den letzten Jahrzehnten.
von BFS/MPS
Gesundheit: ein öffentlicher Auftrag!
In den ersten Wochen der COVID-19-Pandemie beklatschte die Bevölkerung die Beschäftigten des Gesundheitswesens und sprach sich für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen in den Spitälern und Pflegeheimen aus. Tatsächlich aber ist man im Gesundheitssektor weit davon entfernt, als nachhaltige Lehre aus dem vergangenen Jahr tatsächliche Verbesserungen umzusetzen. Zudem ist der Gesundheitsbereich weiterhin Ziel von neoliberalen Angriffen. Dies obwohl die Pandemie gerade die Notwendigkeit unterstreicht, dass die Gesundheitsversorgung durch kompetentes Personal, in ausreichender Anzahl, mit guten Arbeitsbedingungen und guter Bezahlung gewährleistet wird. Die öffentliche Finanzierung sowie eine angemessene Ausstattung der Gesundheitseinrichtungen sind dafür unabdingbar. Zudem muss die Gesundheitsversorgung für alle zugänglich sein, unabhängig von Alter, Nationalität oder sozialem Status. Denn Gesundheit ist ein öffentlicher Auftrag.
Wenn das Gesundheitswesen ein Markt wird
In den letzten 40 Jahren wurden jedoch durch eine konsequent neoliberale Politik viele strukturelle Veränderungen eingeführt, die aus dem Gesundheitswesen einen Markt für profitorientierte Investor:innen machen sollen. Die Finanzierung von Krankenhäusern und Kliniken nach DRGs (diagnostic related groups), auch bekannt als «Fallpauschalen», ist einer der zentralen Mechanismen dieser Angriffe. DRGs führen zu einem Wettbewerb zwischen Krankenhäusern und Kliniken, um die profitabelsten «Fälle» anzuziehen und Gewinne mit den Patient:innen zu erzielen. Die komplexeren, schwereren Krankheitsverläufe (wie z.B. Patient:innen mit Sars-Cov-2) werden der alleinigen Verantwortung der öffentlichen Krankenhäuser überlassen.
Unsoziale Finanzierung der Gesundheitskosten
Als Rechtfertigung dieser neoliberalen Umgestaltung dienen die angeblich zu hohen Gesundheitskosten. Das Problem ist allerdings nicht die Höhe der Kosten, sondern deren Finanzierung. Denn der Anteil, den die Lohnabhängigen in der Schweiz für die Gesundheitsausgaben aufwenden müssen, ist im internationalen Vergleich ausserordentlich hoch. Dies liegt nicht nur am Selbstbehalt bei der Krankenversicherung (Franchise), sondern vor allem an der Art der Finanzierung der obligatorischen Grundversicherung, die 1996 eingeführt wurde: In der Schweiz werden die Krankenkassenprämien pro Kopf berechnet – anstatt einkommensabhängig wie in den meisten europäischen Ländern. Unternehmer:innen beispielsweise zahlen also gleich hohen Prämien wie wir. Darüber hinaus werden die «schlechten Risiken» – z.B. Frauen, Ältere, psychisch Erkrankte – von den Krankenkassen mit diversen Schikanen belegt und zahlen höhere Prämien.
Dieses Pro-Kopf-Prämiensystem bewirkt auch, dass die Arbeitgeber:innen keinen Rappen zur Krankenversicherung beitragen müssen (im Unterschied zu anderen Sozialversicherungen wie der AHV/IV und der Arbeitslosenkasse). In der Tat würde ein Lohnabzug von circa 3,5 Prozent genügen, um für die gesamte Prämiensumme eines Jahres aufzukommen (sofern natürlich auch die Arbeitgeber:innen den gleichen Anteil zahlen). Dies würde für alle Lohnabhängigen zu einer massiven finanziellen Entlastung führen.
Keine Rückkehr zur neoliberalen Normalität!
Der Schock der Pandemie muss als Chance genutzt werden, das Gesundheitssystem zu überdenken. Die Priorität, die den finanziellen Zielen eingeräumt wird, bindet die verschiedenen Glieder der Gesundheitskette zunehmend an eine Logik, die den Interessen der Investor:innen und den Prinzipien der Rentabilität gehorcht, statt einen universellen und qualitativ hochwertigen Zugang zur Versorgung zu gewährleisten.
Der Streik am Lausanner Unispital und die Demo von Gesundheitsangestellten in Zürich sind deshalb von grosser Bedeutung und können zu einer Grundlage für weitere Kämpfe im Gesundheitswesen werden. Umso wichtiger ist die Solidarität aus der Bevölkerung. Denn gegen die Invasion des Marktes in die Gesundheitsversorgung braucht es einen gemeinsamen politischen Kampf von Patient:innen und Beschäftigten im Gesundheitswesen.
Forderungen für ein soziales Gesundheitssystem
1. Aufbau eines egalitären, durch die Beschäftigten und die Patient:innen kontrolliertes Gesundheitswesen, das mit entsprechenden materiellen und personellen Ressourcen ausgerüstet und pandemieresistent ist.
2. Massiver Ausbau der Personalkapazitäten im Gesundheitswesen mit einer deutlichen Reduktion der Arbeitszeit und mit einer Verbesserung der Anstellungsbedingungen und Löhne.
3. Soziale Einheitskrankenkasse. Finanzierung durch Einkommens-, Vermögens- und Unternehmenssteuern. Abschaffung des Pro-Kopf-Prämiensystems. Alle, auch Geflüchtete, Obdachlose und Sans-Papiers, müssen versichert werden.
4. Die Massnahmen zur Ausrichtung des Gesundheitswesens an Markt und Wettbewerbsfähigkeit (u.a. Fallpauschalen) müssen ebenso wie die Privatisierungen entschädigungslos rückgängig gemacht werden. Oberste Priorität hat die Gesundheit der Bevölkerung, denn Gesundheit darf keine Ware sein.
5. Pharma- und Diagnostikindustrie unter öffentliche Kontrolle stellen. Beseitigung des Patentschutzes auf pharmakologischen Wirksubstanzen und Herstellungsverfahren.
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