Seit dem 1. Mai gibt die neue Ausgabe der Antikap. Schwerpunkt der Ausgabe sind die Zusammenhänge zwischen der Umwelt-, Wirtschafts- und Gesundheitskrise. Die Zeitung kann hier abonniert oder heruntergeladen werden. (Red.)
von Redaktion
Selten waren gesellschaftliche Krisen in der Schweiz von derart vielen Menschen im Alltag spürbar. Seit einem Jahr ist die «Normalität» in verschiedenen Lebensbereichen ausgesetzt. Sport- und Freizeitaktivitäten entfallen, das Zusammensein in grossen Gruppen ist untersagt, studiert wird nur noch vor dem Bildschirm, politische Treffen fallen aus oder werden ins Internet verlagert.
Natürlich: Vieles läuft weiter wie zuvor. Kinder müssen versorgt, Kranke gepflegt, Wäsche gewaschen, Hausaufgaben erledigt, Seminararbeiten geschrieben, Essen gekocht und Wohnungen geputzt werden. Und selbstverständlich müssen auch viele von uns weiterhin am Arbeitsplatz erscheinen. Es ist wahrscheinlich genau diese Kombination aus «normalen» Verpflichtungen bei der Lohn- und Hausarbeit und die fehlende «Normalität» in der Freizeit, die besonders für Verunsicherung, Stress, Überlastung und Ermüdung führt.
Nun schon seit Monaten sprechen die Regierenden und Kapitalist:innen von einer «Rückkehr zur Normalität» – und verhindern mit ihrer Politik wider besseren Wissens genau das. Und sowieso: Die Normalität, zu der die Herrschenden zurückkehren möchten, ist eine, in der Pflegende weiterhin Tieflöhne erhalten, Frauen wie immer einen Grossteil der Hausarbeit leisten, Konzernchefs wie üblich Gewinne einstreichen und gleichzeitig Angestellte entlassen, fossile Energien oder die Auto- und Flugindustrie weiter subventioniert werden – kurz: eine Normalität, in der Mensch, Tier und Natur wie gewohnt ausgebeutet werden.
Was ist Frontex?
Frontex ist die Grenzschutzagentur der Europäischen Union. Sie wurde 2005 gegründet. Seither ist ihr Budget von 6 Millionen Euro um 7000% gestiegen und soll für den Zeitraum von 2021-2027 ganze 11 Milliarden Euro betragen. Personell soll die Einsatztruppe von Frontex bis 2027 auf ein eigenes stehendes Heer mit 10’000 Grenzschutzbeamt:innen aufgestockt werden.
Die Haupt-Aktivitäten der Frontex sind:
- Rückführungen von «irregulären Migrant:innen» (dabei: direkte und indirekte Verwicklung in illegale Pushbacks)
- Planung und Durchführung von Ausschaffungen in der gesamten EU
- Aufrüstung lokaler Grenzschutzbehörden und Ausstattung mit wichtigem Know-how (speziell im Bereich der Überwachung über die Angleichung an europäische Standards und Systeme)
- Verfassen von sogenannten «Risikoanalysen» samt Handlungsempfehlungen (wie bspw. Grenzkontrollen verstärken, Einsätze von Frontex ausweiten oder Ressourcen der Agentur aufstocken)
Zur Ausführung dieser Aktivitäten ist die Frontex nicht nur direkt an den EU-Aussengrenzen sowie innerhalb der europäischen Länder im Einsatz, sondern über die konstant erhöhte Auslagerung des EU-Migrationsregimes auch in immer mehr Drittstaaten. Sie arbeitet aktiv mit über 20 Ländern ausserhalb der EU zusammen. Dabei kooperiert die Frontex beispielsweise mit der libyschen Küstenwache, welche migrantische Boote abfängt und gewaltsam zurück nach Libyen schleppt, wo Migrant:innen unter massiv gewaltvollen Bedingungen festgehalten werden. Sie unterstützt aktiv die Ausweitung der Luftüberwachung im Mittelmeer, während gleichzeitig die offiziellen Rettungsmissionen immer weiter reduziert werden. Die Aktivitäten der Frontex fördern das rassistische Narrativ von Migration als Bedrohung, wobei besonders die Risikoanalysen als Eigenlegitimation zur immer weiteren Aufstockung der Frontex benutzt werden. Die Abschottungspolitik der EU kostete seit 1993 über 44’000 Tote, die Dunkelziffer eingerechnet sind es viele mehr.
Verbindungen der Frontex zur Schweiz
Die Schweiz unterstützt die Frontex als Schengen-Mitglied seit 2009 finanziell und personell. Nun hat der Nationalrat einem jährlichen Budget von 61 Millionen Franken bis 2027 zugestimmt. Dies macht im Gesamtbudget der Frontex ca. 5% aus, womit die Schweiz beträchtlich zum gewaltvollen Abschottungsregime der EU beiträgt. Die Schweiz kann dabei als Schengen-Staat ausschliesslich mitreden, hat jedoch kein Stimmrecht bei der Planung neuer Kompetenzen und Gesetze.
Die Schweiz profitiert dabei stark von der gewaltvollen europäischen Migrationsabwehr, denn sie ist als Heimathafen für Rohstofffirmen, internationaler Bankenplatz und Waffenfabrik eine wichtige Profiteurin im kapitalistischen Weltsystem. Und sie ist damit Mitverursacherin vieler Fluchtursachen.
Im vergangenen Pandemiejahr weitgehend gefehlt hat eine solidarische Alternative zur Gesundheits-, Wirtschafts- und Klimakrise. Während die Grünen und die sozialdemokratischen Parteien Europas ihre staatstragende Rolle wahrnehmen, den Impfnationalismus mittragen, die Wirtschaftsinteressen stützen und die Bedürfnisse der Lohnabhängigen, Frauen, Migrant:innen oder Jugendlichen missachten, fehlen solidarische und egalitäre Alternativen und Perspektiven weitgehend.
Erst vor einigen Monaten wurde diese Lethargie der Linken zumindest teilweise durchbrochen. Die von Aktivist:innen in Deutschland, Österreich und der Schweiz gestartete ZeroCovid-Initiative schlug Massnahmen für eine solidarische Pandemiepolitik vor. Zum ersten Mal wurde eine umfassende Pandemiepolitik, die die arbeitenden und lohnabhängigen Menschen und nicht die Wettbewerbsfähigkeit der Grosskonzerne ins Zentrum stellt, in einer breiten Öffentlichkeit aufgenommen. In linken Kreisen wurde sie zum Teil kontrovers diskutiert. Das ist gut so, denn die Linke braucht eine solidarische Debatte über Strategien und Forderungen, um ihre Isolierung und Bedeutungslosigkeit zu überwinden.
Die ZeroCovid-Initiative hat gezeigt: Die Linke muss wieder verstärkt versuchen, politische Perspektiven zu entwickeln, die bei den Bedürfnissen der Lohnabhängigen ansetzen und eine solidarische, demokratische und egalitäre Alternative skizzieren. Die Voraussetzung dafür ist, dass die unterschiedlichen Krisen – Wirtschaftskrise, Umweltkatastrophe und Pandemie – zusammengedacht werden.
Denn radikale Politik bedeutet, die Dinge gesamthaft anzuschauen und die Probleme in ihren Zusammenhängen und tiefliegenden Ursachen zu bekämpfen. In unserem Dossier über Umwelt, Wirtschaft und Corona versuchen wir deshalb, einige dieser Zusammenhänge in den Blick zu nehmen. So braucht es etwa ein sofortiges Ende des Impfnationalismus, damit alle Menschen und nicht nur jene des Globalen Nordens geimpft werden können. Nur so kann ein Wiederaufflammen der Pandemie verhindert und das Risiko von gefährlichen Mutationen vermindert werden. Dies wiederum bedeutet, dass wir uns auf eine Konfrontation mit der mächtigen Pharmabranche einlassen müssen. Mit grossen Konzernen und ihrer rücksichtslosen Politik der Profitmaximierung haben wir es auch zu tun, wenn wir die Massentierhaltung, die Abholzung und den Biodiversitätsschwund bekämpfen wollen.
Glücklicherweise engagieren sich viele Menschen trotz der aktuellen Umstände weiterhin in der Klimabewegung. In einem Beitrag zum Climate Action Plan möchten wir dessen Stärken hervorheben, aber auch zentrale Ergänzungen vorschlagen, die den fossilen Kapitalismus direkt angehen. Wie es papierlosen Menschen in Zeiten von Corona ergangen ist, schildert der Artikel von Mathilde Beige. Es zeigt sich: Eine solidarische Antwort auf diese Krise kann nicht anders sein als antikapitalistisch, ökosozialistisch und internationalistisch.
Wenn schon nicht mehr viel normal ist, lohnt es sich vielleicht, für eine andere Normalität zu kämpfen.