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Stell dir vor, der Bundesplatz wird besetzt – und die revolutionäre Linke bleibt zuhause

Die Besetzung des Bundesplatzes Ende September 2020 hat landesweit für Aufsehen gesorgt. Viele selbsterklärte Antikapitalist:innen haben aber nur begrenzt mitgemacht. Die meisten haben bestenfalls zugeschaut, schlimmstenfalls arrogante Kritik geübt. Eine etwas polemische Kritik der antikapitalistischen «Szene». Und vor allem ein Aufruf zu mehr Bescheidenheit und weniger Besserwissertum.

von Luca Caplero (BFS Basel)

Die Besetzung des Bundesplatzes im September 2020 hat für grosse Aufmerksamkeit gesorgt. Mit einer eindrücklichen Aktion des zivilen Ungehorsams haben mehrere hundert Klimaaktivistinnen ein starkes Zeichen gegen die kriminelle Untätigkeit von Regierung und Parlament gesetzt. Gleichzeitig haben sie die am Bundesplatz ansässigen Finanzakteure der Schweiz, wie zum Beispiel die Schweizer Nationalbank und die Credit Suisse, für ihren grossen Anteil an der Klimakrise kritisiert. Der Aktion ist es gelungen, radikale Forderungen und Systemkritik mit Breitenwirksamkeit zu verbinden.

Es hat sich gezeigt, dass trotz der Corona-Pandemie die Klimabewegung nicht einfach verstummt ist – und trotz Veränderungen und politischen Ausdifferenzierungen wohl nicht so schnell verschwinden wird. Doch nicht nur das politische Establishment wurde durch diese Aktion aufgeschreckt. Auch viele Linke wurden auf dem falschen Fuss erwischt, wie sie auch vom Aufkommen der Klimastreikbewegung vor mehr als einem Jahr überrumpelt wurden. Trotz klar systemkritischer Forderungen blieben viele Gruppen der ausserparlamentarischen und antikapitalistischen Linken den Vorbereitungen der Aktion sowie den Aktionstagen selbst fern. Damit ist nicht gemeint, dass sich keiner der an der Besetzung des Bundesplatz Beteiligten als Antikapitalistin bezeichnen würde – im Gegenteil: Viele Teilnehmende hatten systemkritische Positionen und Forderungen. Wir müssen jedoch feststellen, dass Kollektive, die mit einem antikapitalistischen Selbstverständnis auftreten, nur sehr begrenzt sichtbar waren. Das sollte zu denken geben.

Die Gründe für ein solches Fernbleiben sind natürlich sehr vielfältig. Die ausserparlamentarische Linke ist sehr klein und politisch fragmentiert. Viele ihrer Aktivistinnen haben während der Aktion wohl mehrheitlich ihre Zeit für andere politische Projekte verwendet. Die Gründe liegen aber auch in einem Misstrauen und bisweilen einer regelrechten Arroganz, mit der solche Gruppen der Klimagerechtigkeitsbewegung gegenüberstehen.

Vonseiten anarchistischer Kollektive wird seit längerem immer wieder bemängelt, dass der politische Diskurs der «Friedfertigkeit» und «Gewaltfreiheit» militantere Aktionen delegitimieren würde. Und die sozialistische Gruppe «der Funke» hat vor und während des Rise up for Change mehrmals direkt die Aktionsform des zivilen Ungehorsams kritisiert. Diese Aktionsform würde die Arbeiterinnenklasse abschrecken, so die äusserst problematische Argumentation vom Funke. Bevor ich erläutern möchte, weshalb diese Aktion sehr wohl ein entscheidender Schritt in die richtige Richtung war und weshalb sich alle Antikapitalistinnen in dieser Bewegung engagieren sollten, ist auch etwas Selbstkritik vonnöten: Obwohl die Bewegung für den Sozialismus das Rise up for Change klar unterstützt hat und sich einzelne Mitglieder teils stark beteiligt haben, ist es auch uns nicht gelungen, koordiniert und systematisch diese Aktion zu unterstützen.

Schweizweite Vernetzung

Die Aktion auf dem Bundesplatz wurde von verschiedenen Kollektiven der Klimagerechtigkeitsbewegung getragen. Neben dem Klimastreik und Extinction Rebellion, die in verschiedenen Landesteilen aktiv sind, beteiligten sich auch lokale oder regionale Klimagruppen wie das Collective Climate Justice aus Basel oder das Westschweizer Collective Breakfree an den Vorbereitungen und der Durchführung.

Dieser Zusammenschluss von verschiedenen Gruppen mit unterschiedlichen politischen und aktivistischen Herangehensweisen ist nicht nur ein Novum, sondern auch ein sehr wichtiger Schritt für die schweizweite Vernetzung und den politischen sowie strategischen Austausch zwischen den Aktivistinnen. Es ist sehr zu begrüssen, dass Klimastreikende das Label der «Klimajugend» ablegen wollen und sich auch mit älteren Aktivistinnen organisieren möchten. Auch zu begrüssen ist, dass sich einige Kreise des Klimastreiks auf andere Gruppen zubewegt haben und eine Vielfältigkeit von Aktionsformen und Forderungen in Betracht zu ziehen beginnen. Zu kritisieren ist hingegen die Passivität, mit der viele Antikapitalist:innen diesem Prozess beiwohnen. Das Argument, es handle sich um eine Bewegung mit allzu braven Forderungen und Analysen, überzeugt nicht.

Klassenkampf oder Klimagerechtigkeit?

Okay, auf dem Bundesplatz war vielleicht nicht immer von Klassenkampf oder Antikapitalismus, Sozialismus oder Anarchismus die Rede. Trotzdem waren die Forderungen und Anliegen der Aktivistinnen unmissverständlich systemkritisch und sie zielten auf eine solidarische Welt jenseits von Unterdrückung und Ungleichheit. So stellte das Forderungspapier von Rise up for Change viele radikale Forderungen, die von einer antikapitalistischen Linken ohne Wenn und Aber unterstützt werden müssten. Gefordert wurde nicht nur netto Null bis 2030, sondern auch eine grundsätzliche Umgestaltung der landwirtschaftlichen Produktion, eine radikale Demokratisierung der Gesellschaft sowie ein Stopp aller Investitionen in fossile Energien.

Die Aktivistinnen betonten immer wieder, dass sie nicht mehr einfach an das Parlament appellieren. Im Vorfeld wurde festgehalten, dass die Klimastreikbewegung nicht nur von rechts verunglimpft wurde, sondern auch von linken Parteien «benutzt» worden sei. In der Präambel des Forderungspapiers heisst es somit auch klar und deutlich: «Das bestehende politische und wirtschaftliche System hat bisher versagt, eine Antwort auf die Klimakrise zu liefern. […] Es ist an der Zeit, unsere Gesellschaft so umzugestalten, dass eine ökologische und soziale Zukunft möglich ist.» Die Kernbotschaft nach Klimagerechtigkeit macht zudem klar, dass die soziale Frage und das Ziel der internationalen Solidarität im Zentrum der Forderungen standen. Jene, die diesen Klimaaktivist:innen ein fehlendes Klassenbewusstsein und einen mangelnden Sinn für Intersektionalität vorwerfen, verkennen, dass «Klimagerechtigkeit» sehr wohl das Potential besitzt, verschiedene Kämpfe zu verbinden.

«Wenn ich es nicht kontrollieren kann, mach’ ich nicht mit»

Es reicht nicht aus, den Klimaaktivistinnen fehlendes Klassenbewusstsein vorzuwerfen. Jene, die sich Antikapitalismus, Klassenkampf, Sozialismus oder Anarchismus auf die Fahnen schreiben, beachten zu wenig, dass ihre Anliegen von einem wirksamen Kampf gegen die Zerstörung unseres Planeten abhängig sind. Die Bekämpfung der Klimakatastrophe ist die soziale Auseinandersetzung des 21. Jahrhunderts. Nicht, weil Antirassismus, Feminismus oder Arbeiterinnenkämpfe nebensächlich wären. Sondern schlichtweg deshalb, weil internationale Solidarität, das Aufbrechen von Geschlechternormen oder demokratische Selbstverwaltung schwer umsetzbar sein werden, wenn ganze Landstriche unbewohnbar werden, zahlreiche Grossstädte unter Wasser liegen, der Amazonas sich in eine Steppe verwandelt hat und sich die Grossmächte um den Zugang zu Trinkwasser, Fischvorkommen und seltenen Metallen bekriegen.

Im Gegenteil verschärfen sich durch den Klimawandel soziale Missstände, der ungleiche Zugang zu Ressourcen, autoritäre Herrschaftsformen und repressive Machtstrukturen. Aus genau diesen Gründen ist es so wichtig, die ökologische mit der sozialen Frage zu verbinden – in der Analyse wie auch in der konkreten politischen Praxis im Alltag.

Jene, die sich als Vorhut der Linken sehen, weil sie den Kapitalismus gänzlich durchschaut, die Illusionen der bürgerlichen Demokratie längst entlarvt und die Naivität des zivilen Ungehorsams aufgedeckt hätten, vergessen eines: Es sind nicht selbstgefällige, von doktrinärer Reinheit besessene Kleingruppen, die eine solidarische Welt zu erkämpfen in der Lage sind. Sondern einzig diverse, heterogene und ja: widersprüchliche Massenbewegungen. Diese Einsicht verlangt in der konkreten politischen Praxis vor allem etwas: strategische und theoretische Bescheidenheit. Denn emanzipatorische und antikapitalistische Politik bedeutet, die bestehenden Kämpfe ernst zu nehmen, statt diese von oben herab zu belehren.

Der trotzkistische Philosoph Daniel Bensaïd hat einmal gesagt, dass kritische Marxistinnen nie die Fähigkeit verlieren dürfen, sich von den kämpfenden Menschen überraschen zu lassen und ihre Analysen und Strategien im Lichte der sozialen Auseinandersetzungen beständig anzupassen. Es stimmt: Viele Antikapitalistinnen wurden von Rise up for Change überrascht. Dass sie ihre Analysen deswegen angepasst hätten, trifft leider noch allzu wenig zu. Es bleibt zu hoffen, dass sich das ändert. Unsere Zukunft hängt davon ab.

Was ist die Bewegung für den Sozialismus?

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