Mittlerweile ist absehbar, dass die Virusmutationen die Ansteckungs- und Todeszahlen abermals hochschnellen lassen werden. Die Regierungen in Europa und der Schweizer Bundesrat reagieren einmal mehr nicht oder nur zaghaft und unterschätzen sträflich die Gefahr, die von den mutierten Coronaviren B1.1.7 aus Grossbritannien und 501.V2 aus Südafrika ausgehen. Je länger die Pandemie sich quasi ungestört weiterverbreiten kann, desto verheerender werden die sozialen und gesundheitlichen Verwerfungen. Die Impfungen werden frühestens in ein paar Monaten ihre gesamtgesellschaftliche Wirkung entfalten können. Deshalb ist die radikale Eindämmung der Pandemie die einzige Lösung.
von Philipp Gebhardt (BFS Zürich)
Das Versagen der Schweizer Behörden und das Schweigen der Linken
Es ist offensichtlich, dass der Schweizer Bundesrat und die kantonalen Regierungen nicht gewillt waren, die möglichen Vorbereitungen zur Verhinderung oder Eindämmung der zweiten Welle zu treffen. Eine Strategie zur Bekämpfung des Virus ist bis heute nicht zu erkennen. Die Pandemiepolitik der Schweiz orientierte sich einzig an zwei Zielen: die Profite und die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen nicht einzuschränken und Massnahmen nur soweit zu ergreifen, dass das Gesundheitssystem nicht überlastet wird.
Der am 6. Januar 2021 vom Bundesrat in Aussicht gestellte «harte Lockdown» ändert nichts an der bisherigen Orientierung. Die wichtigsten Wirtschaftssektoren des Landes (Banken und Versicherungen, Groß- und Kleinindustrie, Handel und Logistik) bleiben verschont. Die Wettbewerbsfähigkeit der Schweizer Wirtschaft soll um jeden Preis gewahrt werden. Die geplanten wirtschaftlichen Einschränkungen betreffen nur die politisch weniger einflussreichen Sektoren (Gastronomie, Kultur- und Sportbereich).
Dass das Gesundheitswesen bereits seit langem am Anschlag ist, wird vom Bundesrat zwar erwähnt, aber de facto ignoriert. Auch wenn es noch einzelne Plätze auf den Intensivstationen frei hat und es noch nicht zu massenhaften Triagen gekommen ist, verhallen alle Warnrufe aus den Spitälern ungehört. Das Gesundheitspersonal sagt seit Monaten, dass es überlastet ist. Und Intensivstationsbetten ohne Pflegepersonal sind auch nur Möbel, wie es ein Graffito in Zürich treffend auf den Punkt bringt.
Über Parteigrenzen hinaus herrscht die Meinung vor, dass es ja niemandem etwas bringe, wenn man «die Wirtschaft» runterfahren und damit noch mehr Arbeitslose produzieren würde. Obwohl schon zu Beginn der zweiten Welle absehbar war, dass die de facto Laissez-faire-Politik des Bundesrates und der kantonalen Regierungen scheitert, scheu(t)en auch die meisten progressiv und solidarisch eingestellten Menschen und Organisationen davor zurück, klare Kante zu zeigen. Insgeheim war wohl die Hoffnung auch unter linken Menschen zu gross, dass es so schon irgendwie reichen würde und Lockerungen bald wieder möglich wären. Seit sich dieser Wunsch in Luft aufgelöst hat, klammern sich nicht nur die Behörden und die Liberalen, sondern auch die meisten Linken an die Hoffnung, dass die Impfkampagnen das Problem lösen werden.
Das alleinige Hoffen auf die Impfungen ist eine Illusion
Seit dem Start der Impfkampagnen Ende Dezember 2020 wird nun in den Medien darüber geklagt, dass diese Kampagnen schlecht organisiert wären und der Bundesrat seine Aufgabe bei der Impfdosenbeschaffung nicht richtig gemacht hätte. Im Umkehrschluss wird damit weiterhin impliziert, dass die Impfungen kombiniert mit den bestehenden Einschränkungen des Privatlebens sowie der wenig produktiven Wirtschaftssektoren ausreichten, um die Pandemie in den Griff zu kriegen. Das ist aus mindestens zwei Gründen eine Illusion.
Erstens werden die Impfungen zu langsam produziert und es wird noch Monate dauern, bis die Durchimpfung der Bevölkerung die Ausbreitung sowie die Folgen des Virus flächendeckend hemmen kann. Dass gewisse Weltregionen und Bevölkerungsschichten (z.B. Kinder) nicht geimpft werden können, wird dazu führen, dass auch nach der Durchimpfung eine latente Gefahr besteht, dass das Virus wieder ausbricht. (Überdies ist die Privatisierung der Impfstoffe und deren Verteilung entlang von Marktmechanismen eine globale Schweinerei.)
Zweitens wird die Pandemie bis zur Durchimpfung zu enormen gesundheitlichen Tragödien und weltweit hunderttausenden (vermeidbaren) Toten führen. Je länger sich die Pandemie quasi ungestört weiterverbreiten kann, desto grösser werden die Risiken von noch gefährlicheren Mutationen. Diese könnten wiederum die Wirkungen der jetzigen Impfungen beeinträchtigen, sodass die ganze Tragödie von vorne beginnt.
Der Start der Impfungen ist selbstverständlich ein Fortschritt, wird aber in absehbarer Zeit nicht dazu führen, das Virus in den Griff zu kriegen. Die Linke muss sich daher dringend für eine radikale Eindämmung der Pandemie stark machen und die Gesundheit der Menschen an die erste Stelle ihrer politischen Agitation setzen.
ZeroCovid: Natürlich heiligt der Zweck die Mittel!
Am 19. Dezember 2020 lancierten hunderte Wissenschaftler:innen aus Europa einen Aufruf, die Pandemie radikal einzuschränken bis jede Ansteckung wieder nachvollziehbar ist. Dieses Ziel müssen linke Organisationen vorbehaltlos unterstützen – und sich natürlich dafür stark machen, dass die Umsetzung solidarisch passiert und mit progressiven Forderungen flankiert wird.
Mit einer klaren Positionierung zur radikalen Eindämmung tun sich aber nicht nur Liberale, sondern auch Linke schwer. Liberale entgegnen, dass wir halt nicht in China leben und in einer demokratischen Gesellschaft Prozesse halt langsamer vorangehen würden. In anderen Worten sind nach Ansicht der Liberalen alle Toten demokratisch legitimiert und die Verantwortung für das gesundheitliche Desaster wird bewusst der Allgemeinheit zugeschoben. Linke wiederum kriegen sofort Schiss vor dem drohenden «autoritären Staat». Beides ist Humbug.
Erstens sind es bei weitem nicht nur autoritäre Staaten, welche die Pandemie im Griff haben, sondern so unterschiedliche Länder wie Taiwan, Vietnam, China, Ruanda, Neuseeland, Südkorea, Kuba, Japan, Australien und Uruguay. Zweitens ist das Abwägen von Freiheitsbeschränkungen – seien sie nun real oder imaginiert – gegen die Gesundheit der Lohnabhängigen der falsche Ansatz. Demokratie ohne Gesundheitsschutz ist sinnlos und zynisch. Gesundheitsschutz ohne Demokratie ist reaktionär.
Die Pandemie trifft die Menschen hochgradig ungleich und verschärft soziale Ungleichheiten. Je länger die Pandemie andauert, desto massiver werden die sozialen Verwerfungen. Klar treffen auch konsequente Einschränkungen der Pandemie ärmere Klassen stärker. Aber ein monate- oder gar jahrelanger Zickzack-Kurs und das Hin-und-Her von weniger und mehr Einschränkungen ist nicht nur für die Psyche, sondern auch für die materiellen Ressourcen der Lohnabhängigen zutiefst schädlich.
Die Linke muss die Gesundheit der Lohnabhängigen ohne Wenn und Aber an die erste Stelle setzen. Und dabei rechtfertigt natürlich der Zweck die Mittel; will heissen, dass auch Einschränkungen in Kauf genommen werden müssen. Das Entscheidende hierbei ist, dass wir als Linke die Einschränkungen anhand von zwei Kriterien beurteilen und sie dementsprechend gutheissen oder nicht: 1. Reduzieren sie die Ansteckungen tatsächlich? 2. Benachteiligen sie einseitig Lohnabhängige, Arme und Frauen?
Was tun?
Es geht nicht an, dass wir als Linke einfach business as usual machen. Die Pandemie bestimmt alle Lebensbereiche (Arbeit, Wohnen, Freizeit, Familien, Beziehungen, etc.) und verstärkt längerfristig und global die sozialen und geschlechtsspezifischen Ungleichheiten. Deshalb müssen wir uns auch in allen politischen Bereichen, in denen wir aktiv sind (ökologische, feministische, antirassistische Bewegung usw.), für die radikale Einschränkung der Pandemie einsetzen.
Da die Pandemie und deren Folgen uns noch lange beschäftigen werden, sollten wir anfangen solidarische Strukturen zu schaffen, die während, aber auch nach der Pandemie einen Zusammenhalt für verschiedene linke Organisationen, Gewerkschaften und Einzelpersonen bieten und perspektivisch den Kern einer solidarischen Alternative zum menschenfeindlichen Kapitalismus darstellen können.