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Klimakrise, Krieg und Kaufkraftverlust: Wie kann die Linke durch den Krisenwinter manövrieren?

Wir erleben zurzeit eine Zuspitzung der Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft. Der Sommer 2022 führte uns drastisch vor Augen: Die Klimakatastrophe ist Realität. Zusätzlich zu Klimakrise, Pandemie und dem russischen Besatzungskrieg gegen die Ukraine wird Europa in diesem Winter eine weitere Krise erleben: Aufgrund der steigenden Energiepreise und der hohen Inflation wird sich die Armut in Europa massiv verschärfen. Die Preissteigerungen fressen auch in der Schweiz den Lohnabhängigen ihre Kaufkraft weg. Gerade für ärmere Lohnabhängige kann dies zu einer existenziellen Bedrohung werden. Die Linke steht vor der Herausforderung, den Krieg gegen die Ukraine, die Klimakatastrophe, die Energiekrise und die massiven Preissteigerungen zusammenzudenken und solidarische Antworten auf diese komplexe Gemengelage zu entwickeln.

von Philipp Gebhardt (BFS Zürich)

Inflation ist Umverteilung von unten nach oben.

Von Dezember 2020 bis Juli 2022 erreichte die Inflation in der Schweiz einen Wert von 4,5%. Inflation bedeutet für die Lohnabhängigen und die Rentenbezüger:innen eine starke Verschlechterung ihrer Kaufkraft und ihres Lebensstandards. Zur Veranschaulichung: Im Jahr 2020 betrug der Bruttomonatslohn (Medianwert) in der Schweiz 6’665 Franken. Von Dezember 2020 bis Juli 2022 hat die Teuerung den direkten Verdienst von Lohabhängigen mit einem solchen Bruttomontaslohn kummuliert um 2’365 Franken verringert. Sollte die Inflation bis Ende 2022 auf dem aktuellen Niveau von 4,5% bleiben, würde sich der Verlust insgesamt auf 3’864 Franken belaufen. Innert zwei Jahren sind also einer arbeitenden Person mit Medianeinkommen 4000 Franken verloren gegangen – beziehungsweise umverteilt worden: Denn die Hauptursache für die aktuelle Inflation ist der gesteigerte Gewinnanspruch der Konzerne (vor allem aus dem fossilen Sektor).

Die Verteidigung der Kaufkraft gegen die Auswirkungen der Inflation gehört zu den seltenen gewerkschaftlichen Fragen, die die Gesamtheit der Lohnabhängigen betrifft, obschon auch hier die unteren Einkommensschichten härter getroffen werden, da sie einen höheren Anteil ihres Einkommens für den Bedarf des täglichen Lebens ausgeben müssen. Mittels eines automatischen und rückwirkenden Teuerungsausgleichs („gleitende Lohnskala“) wäre es möglich, unsere Löhne vollständig an die Teuerung anzupassen. Dafür gilt es eine breite gewerkschaftlichen Mobilisierung aufzubauen, denn freiwillig erhöhen die Unternehmen unsere Löhne nicht.

Klimakrise und Krieg lassen sich nicht ignorieren.

Die Verteidigung der Kaufkraft der Lohnabhängigen ist allerdings angesichts der gesellschaftlichen Krise nicht genug. Erstens ist die Aufrechterhaltung des gegenwärtigen Konsumniveaus und des damit verbundenen Energie- und Materialverbrauchs sowie des CO2-Austosses allein schon aufgrund der imminenten Klimakatastrophe keine Option. Wir sollten die Energiekrise und die Stromspardiskussionen zum Anlass nehmen, um konkrete Vorschläge in die Debatte einzubringen, wie wir den Energiehunger des fossilen Kapitalismus zähmen wollen und die Gesellschaft sozial und ökologisch umbauen können. Hierfür braucht es überzeugende Modelle, um gesellschaftliche Schlüsselindustrien demokratischer Kontrolle zu unterstellen.

Zweitens ist die gegenwärtige Inflation auch explizit auf die Klimakatastrophe zurückzuführen. Einerseits verteuern extreme Wetterlagen, Dürren und Hitze die Konsumprodukte, weil z.B. die Transportkosten aufgrund von Niedrigwasserstand steigen. Andererseits ist die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern und ihren Marktpreisen im Allgemeinen eine Ursache der Teuerung, die wohl auch längerfristig anhalten wird. Die tendenzielle Knappheit von Öl- und Gas führt zu steigenden Preisen – und lässt damit nicht nur die Ausgaben für Mobilität und Heizung, sondern auch für Lebensmittel weltweit in die Höhe schiessen. Der Kampf gegen die Inflation muss ein ökologischer sein, weil man ansonsten eine zentrale Ursache schlichtweg ignoriert.

Eine Überbrückung der Energieknappheit mittels einer Ausweitung der Stromproduktion mit fossilen Energieträgern, wie es der Schweizer Bundesrat aktuell mit dem Bau eines Öl- und Gaskraftwerkes im aargauschen Birr vorantreibt, ist nicht nur hinsichtlich der Teuerungsbekämpfung und selbstredend aus ökologischen Gründen der falsche Weg. Darüber hinaus zementiert eine solche Politik die Abhängigkeit der europäischen Gesellschaften von mörderischen Regimen wie jenen in Russland, Iran, Katar oder Aserbaidschan. Ganze Volkswirtschaften sind in ihren verzweifelten politischen Regulierungsbemühungen der Inflation der Laune des Ölkartells OPEC ausgeliefert, die im Oktober 2022 die Preisregulationen mit einer Drosselung der Öl-Fördermenge konterkarierte, weil die OPEC dadurch die Preise hochhält und ihre Gewinnansprüche zementiert.

Die internationale Solidarität sollte die Grundlage jeder linken Politik bilden. Wenn die ukrainischen Lohnabhängigen unter einem reaktionären, mit Öl- und Gasexporten finanzierten Besatzungskrieg leiden und die russischen Lohnabhängigen sich weigern, als Kanonenfutter für diesen Krieg herhalten zu müssen, dann unterstützen wir sie. Wenn die Bevölkerung im Iran gegen das Mullah-Regime und für gesellschaftliche Freiheiten auf die Strasse geht, stehen wir hinter ihnen. Und wenn die katarische Monarchie eine Fussball-WM auf Kosten der Bauarbeiter:innen und des Klimas veranstaltet, oder die aserbaidschanischen Herrschenden einen Krieg gegen das Nachbarland führen, dann verurteilen wir sie und lehnen Geschäfte mit ihnen ab. Die Entfossilisierung der europäischen Gesellschaften ist also nicht nur aufgrund der Erderwärmung dringend, sondern schadet auch direkt Putins Kriegstreiberei und anderen menschen- und klimafeindlichen Regimen.

Für die gesellschaftliche Aneignung des Energiesektors.

Die Schweizer Regierung richtet ihre politische Antwort auf die Energiekrise darauf aus, die Profite und die Wettbewerbsfähigkeit des Kapitals zu schützen und die Kosten dafür auf die Bevölkerung abzuwälzen. Das Beispiel des grössten Schweizer Energiekonzerns Axpo zeigt, dass die privaten Unternehmen ihre Profite über die Versorgungssicherheit stellen. Die Axpo profitierte vom liberalisierten europäischen Strommarkt, hat als grosser Player im europäischen Energiehandel mitgemischt, bis sie sich aufgrund der Verknappung des russischen Gases und der steigenden Energie- und Strompreise verspekuliert hat. Die anstehenden Verluste sollen nun von den Steuerzahler:innen bezahlt werden.

Die Politik der Regierung und der Unternehmen führt uns stetig weiter in Richtung Abgrund. Wir müssen unsere eigenen Ideen und Visionen entwickeln und diese der bürgerlichen Politik der Alternativlosigkeit entgegensetzen. Eine Forderung, die eine solidarische Antwort auf die sich überlappenden Krisen darstellt, und eine Brücke zwischen sozialen, ökologischen und internationalistischen Anliegen macht, ist diejenige der gesellschaftlichen Aneignung des Energiesektors. Es ist angebracht, die Energieversorgung als Teil der gesellschaftlichen Grundversorgung zu denken, dem Markt zu entziehen, in öffentliches Eigentum zu überführen und unter die Kontrolle der Nutzer:innen und der im Sektor Beschäftigten zu stellen. So kann allen Menschen eine niedrigpreisige Basisversorgung mit Energie garantiert und die Energiewende in Angriff genommen werden.

Ein solcher kombinierter Ansatz verhindert nicht nur Querfronten mit Rechten, die ebenfalls gegen die Teuerung auf die Strasse gehen. Die Vergesellschaftung des Energiesektors könnte zudem ein Anfang sein, um einen generellen Ausbau der kostenlosen und demokratisch verwalteten gesellschaftlichen Infrastruktur (Bildung, Gesundheit, Pflege, Betreuung, öffentlicher Verkehr usw.) zu fördern. Dies wäre einerseits die sinnvollste Antwort auf die Verarmungstendenzen in Europa und andererseits dringend notwendig für eine gerechte Verteilung der sozialen Reproduktionsarbeit. Das individualistische Konsumglück könnte so durch eine Vision des guten Lebens für alle ersetzt werden – und zwar nicht trotz, sondern wegen des Um- und Rückbaus der kapitalistischen Produktion und der Veränderung unseres Konsumverhaltens. Diese Vision kommt allerdings sofort in Widerspruch mit den kapitalistischen Besitzverhältnissen, die es deswegen strategisch ins Visier zu nehmen gilt. Dass die Macht- und die Eigentumsfrage ins Zentrum von linken Interventionen gestellt werden sollte, ist nicht neu, ist oftmals abstrakt und schwer vermittelbar. Es nicht zu tun, hiesse allerdings, die Ursachen der aktuellen Krisen zu verkennen.


Titelbild: Das sich im Bau befindende Öl- und Gaskraftwerk im aargauischen Birr. Obwohl der Schweizer Bundesrat mittlerweile davon ausgeht ohne Gas- und Strommangel durch den Winter zu kommen, gehen die Bauarbeiten am Kraftwerk weiter.

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