Aktuell liegen in der Schweiz über 250 Patient:innen mit einer Covid-Infektion auf einer Intensivstation (IPS). Selten wird öffentlich berichtet darüber, mit welchen Problemen die Menschen und ihre Angehörigen zu kämpfen haben, wenn sie die IPS wieder verlassen können. Im ersten Teil dieses Artikels soll versucht werden, zu zeigen, dass die gesellschaftlichen und psychischen Schäden der fahrlässigen Corona-Politik viel weitreichender sind als oft dargestellt und auch nach dem Krankhausaufenthalt noch bleiben. Im zweiten Teil soll auf die psychische Zusatzbelastung bei jungen Menschen während und durch die Corona-Pandemie eingegangen werden.
von Marco Fischer (BFS Zürich)
Seit ca. 22 Monaten grassiert der SARS-Covid-Virus 2 in der Schweiz und hat hierzulande mittlerweile 1.26 Millionen Menschen angesteckt, mehr als 12’000 sind daran verstorben. Die menschenverachtend nachlässige öffentliche Gesundheitspolitik hat, ganz im Dienste der Wirtschaft, dafür gesorgt, dass sich pro Kopf in der Schweiz viermal mehr Leute angesteckt haben als im Weltdurchschnitt (14% der CH-Bevölkerung, weltweit 3.5%). Trotz eines der teuersten und ressourcenreichsten Gesundheitssysteme konnte nicht verhindert werden, dass bemessen auf die eigene Bevölkerungszahl doppelt so viele Menschen gestorben sind wie im Weltdurchschnitt. Die menschenverachtende Strategiemischung der flatten-the-curve und mittlerweile offensichtlicher Durchseuchungsstrategie, die zum Ziel hatte, den drohenden Kollaps des Gesundheitssystems zu verhindern, ist kläglich gescheitert. Denn das Gesundheitssystem ist gerade im Begriff, zu kollabieren. . Gleichzeitig leiden immer mehr, besonders junge, Menschen an psychischen Problemen. Im zweiten Teil des Textes wird darauf eingegangen.
Die Überlastung des Gesundheitssystems ist da
Die Fallzahlen sind seit Wochen rekordhoch, die Intensivpflegestationen (IPS) sind vielerorts voll. Krebsoperationen werden wieder verschoben. Für eine krebskranke Person bedeutet dies neben oftmals schlimmen Beschwerden auch, dass sich ein Tumor, der bisher noch nicht gestreut hat, aufgrund der verlängerten Wartezeit bis zur Operation doch noch im Körper verteilt. Sprich aufgrund coronabedingt aufgeschobener Operationen werden heilbare Krebserkrankungen doch noch zu unheilbaren. Zudem sind Teile des Gesundheitspersonals komplett ausgebrannt. Die Häufigkeit von psychischen Problemen wie Depressionen, Angststörungen und Posttraumatischer Belastungsstörungen bei Krankenhauspersonal liegt bei über 20%. Im Gegensatz zur ersten Welle haben nämlich viele Arbeitende auf den Intensivstationen wegen konstanter Überlastung gekündigt, womit mittlerweile weniger Pflegeplätze erhältlich sind als noch vor 2 Jahren.
Der Leidensweg nach dem Krankenhaus
Im öffentlichen Diskurs wird in unpersönlicher Art und Weise über die Toten gesprochen. Sie sind nur Nummern in Statistiken ohne Gesicht, Geschichte, Stimme und Umfeld. Die Leute werden krank, kommen auf die Intensivstation und sterben entweder nach einiger Zeit oder überleben. Selten aber wird erwähnt, was die Langzeitfolgen eines Intensivstationssaufenthalts sind. Denn die meisten Covid-Überlebenden leiden danach am sogenannten Post-Intensive Care Syndrom (PICS). Die Beschwerden sind vielfältig: Sie können von physischen Problemen (Bewegungseinschränkungen durch Muskel- und Nervenschwäche) über kognitive Einschränkungen (verminderte Konzentrationsspanne, Gedächtnisstörungen, Denkverlangsamungen) bis hin zu psychischen Problemen (Depressionen, Angststörungen und Post-Traumatische Belastungsstörungen PTBS) reichen. Das bedeutet beispielsweise, dass Leute, die vor ihrer Covid-Erkrankung Bücher geschrieben haben, und nun unter PICS leiden, zuerst wieder Lesen und Schreiben lernen müssen. Solche Beschwerden verschwinden, wenn überhaupt, nur langsam und bedeuten so eine äusserst langwierige und aufwändige Rehabilitation. Erkrankte sowie ihr Umfeld müssen also Monate bis Jahre, wenn nicht lebenslang, mit diesen Behinderungen zurechtkommen. Auch die sozialen Folgen nach überstandener Covid-Erkrankung stellen ein reales Problem dar!
Schweigen über das Leid von Angehörigen
Der IPS-Aufenthalt hinterlässt nicht nur Spuren bei den Erkrankten, sondern auch in ihrem persönlichen Umfeld. Die Forschung bezeichnet diese Beeinträchtigung des Umfelds als PICS-F, wobei das F für Familie steht. Es wurde beobachtet, dass 48% der nahen Angehörigen noch 90 Tage nach IPS-Aufenthalt klinisch relevante, also therapiebedürftige Symptome wie bspw. Depression, Angststörung oder PTBS zeigen.
Dies alles überrascht indes nicht, wenn wir überlegen, welchem Stress Angehörige von IPS-Kranken ausgesetzt sind. Sie leben mit der konstanten Angst, dass einem jedes Mal, wenn das Handy klingelt, mitgeteilt werden könnte, die:der geliebte Vater/Mutter/Kind/Geschwister/Partner:in etc. sei verstorben.
Für diesen Text wurde mit einer Person gesprochen, deren Vater für mehrere Monate auf der IPS war. Um die Anonymität der betroffenen Person zu wahren, wird sie folgend Lara genannt. Lara schilderte den Zustand der Angst so:
«Ich leide unter starker Prüfungsangst und für mich fühlte es sich an wie 2.5 Monate Prüfungsangst. Der ungewisse Zustand. Es war so krass. Ich habe in dieser Zeit keine Menschen getroffen, weil ich auf keinen Fall in Quarantäne wollte, aus Angst ich könnte dann nicht zu ihm, wenn er stirbt. Ich musste constant ready sein, um dorthin zu rennen.»
In einer Studie beschreiben Angehörige das ständige Warten auf einen Anrufe aus der IPS als «Life-on-hold.» Ein Zustand der grossen Ungewissheit und des konstanten Überlegens, wie realistisch die eigenen Hoffnungen sein dürfen. Die vielen Gespräche mit dem Behandlungsteam beinhalten oft eine Entscheidungsfindung über lebensverlängernde oder palliative Massnahmen, was zusätzlichen emotionalen und psychischen Druck bedeutet.
Im Kontext der Corona-Pandemie kommen noch verschlimmernde Faktoren dazu: Es herrscht ein Klima der kollektiven und permanenten Angst: Ständig erscheinen neue bedrängende Informationen, die Krankheit ist immer noch relativ unbekannt, Therapien wenig erfolgsversprechend. Teilweise müssen die Angehörigen mit Schuldgefühlen leben, die Person angesteckt zu haben. Besonders belastend zeigt sich zudem, dass Angehörige von Covid-Erkrankten nur sehr selten auf die IPS dürfen, um die Erkrankten zu besuchen. Lara sagte:
«In den knapp 3 Monaten durften wir ihn 3 Mal besuchen. 2 Mal davon war, weil wir dachten, er würde jetzt dann sterben. Einmal weil es Weihnachten war, dies war so schön, so traurig, aber so unendlich wichtig. Es wäre mega schlimm gewesen, hätten wir nicht hingehen können».
Um etwas Nähe herzustellen, verwendet das Personal Videotelefonie. Aber dies kann eine liebevolle Berührung nicht ersetzen. Hinzukommen plötzliche Todesfälle, weil sie den Angehörigen die Möglichkeit rauben, in den letzten Stunden bei ihrer:ihrem geliebten Vater/Mutter/Kind/Geschwister/Partner:in etc. gewesen zu sein.
Angehörige werden von der Gesellschaft alleingelassen
Zu den emotionalen Belastungen kommt ein grosser administrativer Aufwand: Austausch mit Ärzt:innen, emotional bedrückende Besuche, Weiterleiten und Erklären von Informationen an das erweiterte Soziale Umfeld etc. Oft muss «das Büro» der Erkrankten gemacht werden, sprich die ganze behördliche Korrespondenz zu Steuern, Krankenkasse, Betreibungen, Reha etc. Fehlt eine zuvor ausgestellte Vollmacht oder stellen sich die Bürokrat:innen quer und akzeptieren keine Vertretung durch die Angehörigen, wird das alles noch schlimmer. Sollte die kranke Person noch unmündige Kinder erziehen oder Haustiere haben, muss auch Versorgung jener organisiert werden. Oftmals können diese Aufgaben nur von den nächsten Angehörigen erledigt werden. Einen Einblick in diesen bürokratischen Horror bietet Lara, die von den finanziellen Konsequenzen von IPS-Aufenthalt und Reha erzählt:
«Bei meinem Vater war die Franchise in einer Sekunde aufgebraucht. Weil er soviel abgenommen hat, mussten wir sehr viel Geld für Kleider und weitere Dinge für die Reha ausgeben. Dann mussten wir die Wohnung rollstuhltauglich Wohnung machen, Rampen und so weiteres einbauen. Das kostet alles sehr viel Geld.»
Studien zeigen, psychiatrische Probleme bei Angehörigen können beträchtlich reduziert werden, wenn das Gesundheitspersonal auf eine angemessene Weise mit den Angehörigen kommuniziert. Dies weiss auch Lara zu berichten:
«Dass das alles irgendwie erträglich war, war wegen der Dr. Meier [Name geändert] und dem Pflegepersonal, das uns begleitet hat.»
Doch genau die einfühlsame, proaktive Kommunikation wird schwer bis unmöglich, wenn das Personal aufgrund der Situation überbelastet, ausgebrannt und selbst psychisch krank ist. So bleibt wenig Zeit für ein tröstendes Gespräch, um auf Fragen angemessen einzugehen, Angehörige adäquat auf das Ableben der Geliebten vorzubereiten oder in wichtige Entscheidungen mit Zeit und Verständnis einzubeziehen.
Eine weitere Konsequenz der vollkommenen Überlastung der Krankenhauspersonals ist ausserdem die erhöhte Fehlerquote aufgrund des intensivierten Stresses.
Das Leben und all seine Pflichten setzten unterdessen nicht aus. Für die Angehörigen geht währenddessen das eigene Leben weiter, die Leute müssen ihrer Lohn- und Sorgearbeit nachgehen und sich gegebenenfalls um weitere Angehörige kümmern. Also komplette Überlastung und null Zeit, das Erlebte zu verarbeiten und zu reflektieren. Lara beschreibt die Situation wie folgt:
«Es ist ultra abgefuckt, das sollte niemandem passieren!».
Es ist auch davon auszugehen, dass Angehörige von Hospitalisierten, die nicht auf der IPS sind, von ähnlichen Problemen betroffen sind und dadurch auch ähnliche psychische Probleme entwickeln, wenn auch in abgeschwächter Form.Die sozialen Folgen sind also ein weitreichendes Phänomen quer durch grosse Teile der Gesellschaft.
Das Beispiel des PCIS-F zeigt klar, dass Krankheiten nicht als individuelles Phänomen verstanden werden können, sondern dass immer ein ganzes soziales System unter der Situation leidet. Dies bedeutet auch, dass wenn die belasteten Angehörigen miteingerechnet werden, die Anzahl der Personen, die physisch und psychisch von den Schäden einer spitalpflichtigen Covid-Erkrankung betroffen sind, weitaus grösser sind als nur die an Covid erkrankte Person ist. All diese Leute sollten ein Anrecht auf Entlastung und Unterstützung haben, doch genau diese Unterstützung fehlt oftmals in unserem Gesundheitssystem, welches von neoliberaler Sparlogik durchdrungen ist.
Bildbeschreibung Titebild: Szene aus der Serie „The Good-Doctor“. Covid-Patient:innen auf den Intensivstationen dürfen oft keinen Besuch empfangen, was für alle Beteiligten sehr belastend ist. Über Videotelefonie wird versucht, die fehlende Nähe zumindest teilweise herzustellen.
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