Im ersten Teil wurde gezeigt, dass sowohl Patient:innen, die eine intensivpflichtige Covid-Erkrankung erlitten haben, als auch ihr nahes soziales Umfeld oft noch lange mit physischen und psychischen Problemen zu kämpfen haben. Doch auch viele Menschen, die nicht direkt von einem sogenannten «schweren» Verlauf oder einer Long-Covid-Symptomatik betroffen sind, leiden vermehrt unter psychiatrischen Problemen. Leider fehlen oft Therapieplätze, besonders in Kinder- und Jugendpsychiatrien. Sicher hat die nachlässige Corona-Politik das Problem verstärkt. Letztlich wurden dadurch aber die Defizite jahrzehntelanger neoliberaler Gesundheitspolitik intensiviert, welche allzu oft Profit über die Gesundheit stellte und unterausgestattet war.
Von Marco Fischer (BFS Zürich)
Eine breitangelegte Studie zeigt, dass seit Ausbruch der Pandemie weltweit rund ein Viertel mehr Menschen an Depressionen und Angststörungen leiden. Auch in der Schweiz sind Depressionen, Schlafstörungen, Zwangserkrankungen und Suizidalität 2021 im Vergleich zum ersten Jahr der Corona-Pandemie angestiegen. Besonders im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie hat sich die Situation dramatisch zugespitzt. So gibt es doppelt so viele psychiatrische Notfälle wie noch vor der Pandemie. Die Nachfrage nach Beratung und Therapie ist so stark gestiegen, dass es Wartezeiten von bis zu einem Jahr für ambulante Behandlungen gibt. Dass muss sich eine:r mal vorstellen: Dein Kind hat eine Depression und muss ein Jahr warten, bis ihm:ihr:them geholfen wird. Das Warten wird als zermürbend beschrieben. Solche Situationen führen auch dazu, dass sich Probleme, die zu lange aufgeschoben werden, zuspitzen und zu einem Notfall werden. So kann aus einer Depression Suizidalität entstehen. Im stationären Bereich ist auch von Triage die Rede, d.h. von einer nichtordnungsgemässen Behandlung von Patient:innen, um auch in Ausnahmezuständen zumindest medizinische Hilfestellung zu garantieren. So werden oftmals Kinder und Jugendliche aufgrund von Platzmangel und allgemeiner Überlastung der Kapazitäten unseres Gesundheitssystems auf Erwachsenenstationen untergebracht. Das sind Orte, an die Kinder nicht hingehören. Auch hier sollte wieder überlegt werden, was es für Familie-, Freundes- und Bekanntenkreis bedeutet, wenn ein Kind suizidal ist und in einer Institution platziert ist, welche für die Bedürfnisse von Kindern nicht adäquat ausgerüstet und ausgebildet ist.
Kinder und Jugendliche sind vom Anstieg psychischer Erkrankungen besonders betroffen
Fachpersonen erklären sich den überproportionalen Anstieg an psychischen Problemen bei Kindern und Jugendlichen damit, dass jungen Menschen als Erste Auffälligkeiten und Probleme zeigen, wenn es zu Stress und Belastungen in der Familie (und im Fall der Corona-Pandemie auch in der Gesamtgesellschaft) kommt. In diesem Sinne fungieren Kinder wie eine Art Barometer des Sozialsystems. Alain Di Gallo, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Basel-Stadt und Basel-Land bezeichnet sie sogar als «Symptomträger ihres überforderten Umfeldes». Bei Kindern zeigt sich der Stress meist in Form von nach aussen gerichtetem, aggressivem Verhalten. Jugendliche hingegen richten die durch Stress ausgelösten Impulse hingegen eher nach innen, ziehen sich zurück, werden depressiv oder zeigen selbstverletzendes Verhalten.
Der Anstieg von psychischen Problemen bei Kindern und Jugendlichen wird durch ihre altersbedingt erhöhte Vulnerabilität (Anfälligkeit) gegenüber Stress erklärt. Wird Druck auf ihr soziales System ausgeübt, sind sie die ersten die «brechen». Hinzukommt, dass die strukturierenden Freizeitangebote und sozialen Anlässe aufgrund der sozial einschränkenden Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie grossteils wegfallen. Solche Massnahmen treffen Kinder und Jugendliche ganz besonders. So müssen sie die Zeit mit Gleich- und Ähnlichaltrigen, also ihren Peers – neben der oder den Familien die zentralen wichtigen sozialen Kontakte in ihrer sozialen, emotionalen, psychischen und körperlichen Entwicklung – einschränken. Besonders gravierend wirkte sich die erweiterte Zeit in der Familie für jene Jugendlichen aus, für welche das Zuhause keine sichere Oase ist. In dysfunktionalen Familienverhältnissen waren und sind sie den Gefahrenquellen innerhalb der eigenen vier Wände noch länger ausgeliefert, mit weniger Flucht- oder Mitteilungsmöglichkeiten.
Beunruhigende Zukunftsaussichten
Ich gehe davon aus, dass die Corona-Pandemie auf eine Grundangst trifft, die immer mehr ins Bewusstsein der heutigen Jugend rückt: Auch Jugendliche, die jetzt auf einen Therapieplatz warten, machen sich nicht bloss Sorgen um ihre eigene persönliche Zukunft, sondern spüren eine tiefe Beunruhigung wegen der drohenden Klimakrise und den ökologisch bedingten sozialen und materiellen Katastrophen. Die immer wiederkehrenden Krisen des Kapitalismus werden von den Jugendlichen durchaus wahrgenommen, auch wenn sie nicht immer als Auswüchse des spezifischen Gesellschaftssystems erkannt werden. So glauben einer britischen Studie zufolge 67% der jungen Menschen, dass sie es beruflich, finanziell und die Wohnsituation betreffend schlechter haben werden als ihre Eltern und dass die Politik zu wenig dagegen macht. Es ist davon auszugehen, dass die kollektive Angst vor Krisen und Zusammenbrüchen (Klima, Gesundheitssystem, Wirtschaft etc.) gekoppelt mit der Frustration über Apathie und Unwillen der Politik sowie sozialer Isolation die Jungen an den Rand der Verzweiflung und darüber hinaus bringt. Daraus folgt aber auch, dass es Strategien braucht, um diese Probleme anzugehen, und zwar auf politischer wie auch auf persönlicher Ebene. Teil dieser Strategie muss eine individuelle Therapie sein, die auch gesamtgesellschaftliche Vorgänge analysiert und berücksichtigt. In den Worten von Frantz Fanon «Psychiatrie muss politisch sein».
Gesellschaftliche Sorge-Krise
Psychiatrischen Fachpersonen analysieren zurecht, dass die Corona-Pandemie bestehende gesundheitliche und soziale Probleme verschlimmert. Pflegende sprachen schon vor der Pandemie von Pflegenotstand. So war etwa der jugendpsychiatrische Bereich chronisch unterfinanziert, weil der Staat unzureichend Mittel bereitstellt. Dazu kommt, dass besonders jene Kinder und Jugendliche unter den Folgen von Stress und Pandemie zu leiden haben, die schon vorher gesundheitliche und soziale Probleme hatten. Die besagten Stressphänomene stehen meist in direktem Zusammenhang mit Armut, Unterdrückung und Diskriminierung. Besagte gesellschaftlichen Probleme intensivieren oft körperliche und psychische Krankheiten. Umgekehrt führen Krankheiten auch wieder zu stärkerer Armut und Ausgrenzung, besonders wenn der Zugang zu Pflege erschwert ist.
Ein erster Schritt, um den Zugang zu Pflege zu vereinfachen, ist ein Aufstocken der effektiven Kapazitäten des Gesundheitssystems. Der Pflegenotstand, von dem die Pflegenden zu berichten wissen, muss als längerfristige Sorge-Krise (an)erkannt werden, als einen gesellschaftlichen Mangel an Care[1]. Die Sorge-Krise ist eine direkte Folge des neoliberalen Systems. Der Abbau und die Privatisierung von öffentlichen Sorgedienstleistungen oder überhaupt die Kommerzialisierung des Gesundheitswesens haben über Jahrzehnte dazu beigetragen, dass der Staat nicht über ausreichend Kapazitäten verfügt, um seine Bürger:innen ausreichend zu versorgen. Das verknappte Angebot an gesundheitlichen Dienstleistungen sorgt dafür, dass die nötige Unterstützung nur noch für einen Teil der Bevölkerung einfach zugänglich ist. Im Buch The Care-Manifesto schreiben die Autor:innen:
«…[Es] wurden in den letzten Jahrzehnten die Vorstellungen von Sozialfürsorge und Gemeinschaft zugunsten von individualisierten Vorstellungen von Belastbarkeit, Wohlbefinden und Selbstverbesserung verdrängt, die durch eine ausufernde ‚Selbstfürsorge‘-Industrie gefördert werden, die Pflege zu etwas macht, das wir für uns selbst auf persönlicher Basis kaufen sollen.»
Dies vermittelt einen sehr guten Eindruck von der neoliberal-individualistischen Ideologie, mit welcher die herrschende Klasse der neoliberalen Regime die Bevölkerung nicht nur allein lässt, sondern darauf beschwört, allein verantwortlich sein zu müssen. Hierhinein gehören sowohl Narrative wie diejenigen der Impfgegner:innen, wonach man «mit natürlichen Mitteln das Immunsystem steigern» müsste, als auch die staatliche Gesundheitspolitik, die mit ihren Empfehlungen die Verantwortung am Eindämmen der Pandemie von den kollektiven Schultern des Staates und der Unternehmen auf diejenigen einzelner Individuen abwälzt.
In Anbetracht dessen, dass das Gesundheitssystem seit Langem systemisch unterfinanziert und unzureichend ausgestattet ist, dass soziale Unterschiede im Rahmen unseres Gesundheitssystems auch im Lebensbereich Gesundheit eine Schere öffnen und dass deswegen medizinisch-therapeutische Massnahmen immer politisch sein müssen, ergeben sich folgenden Forderungen:
- Aktuell muss eine solidarische Notbremse gezogen werden, um die Ansteckungen drastisch zu reduzieren. Kurze Shut-Downs sind für die Psyche der meisten Menschen einfacher zu ertragen als das jahrelange und zermürbende Hin- und Her der halbherzigen Schliessungen (weiter Malochen, keine Freizeit) und teilweisen Lockerungen der Massnahmen. Deswegen ist die Zero-Covid-Kampagne, die einen europaweiten solidarischen Shutdown fordert, zu unterstützen.
- Es braucht strukturelle Massnahmen zur Unterstützung überlasteter Familien und Bekanntenkreise. Nötig wäre ein sofortiger Ausbau von Jugendhäusern, wo Junge Menschen Zuflucht von gewalttätigen Familienkonstellationen finden können. Dazu braucht es einen massiven Ausbau der Gesundheitsversorgung, vor allem im kinder- und jugendpsychiatrischen Bereich; ambulant, teil- sowie stationär. Es braucht langfristig bezahlte Betreuungsurlaube und eine Reduktion der Arbeitszeit für Angehörigen von Erkrankten. Es braucht Sozial- und psychologische Dienste, die Angehörige entlasten und unterstützen.
Diese kurzfristigen Forderungen sollen aber nur als Grundsteine im Kampf für eine Gesellschaft verstanden werden, in der das Leben im Zentrum steht und nicht Profite.
[1]Mit Care ist gemeint: Mit «unsere individuelle und gemeinsame Fähigkeit, die politischen, sozialen, materiellen und emotionalen Bedingungen zu schaffen, die es der grossen Mehrheit der Menschen und Lebewesen auf diesem Planeten ermöglichen, zu gedeihen – zusammen mit dem Planeten selbst.»
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Bildbeschreibung Titelbild: In der Arte Dokumentation «Kinderpsychiatrie am Limit» wird gezeigt, dass kinder- und jugendpsychiatrische Institutionen aktuell so überfüllt sind, dass Betten in den Gängen aufgestellt werden müssen, um akut-gefährdete Patient:innen aufzunehmen.