Für Jo Lang, Aktivist der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) und ehemaliger Nationalrat, heizt der Schweizer Finanzplatz den Krieg von Wladimir Putin an. Die Geldströme aus der Schweiz nach Russland zu stoppen, wäre die beste Unterstützung für den ukrainischen Widerstand.
Interview mit Jo Lang von Guy Zurkinden; aus ssp-vpod.ch
Guy Zurkinden: Wie lässt sich die russische Militäraggression gegen die Ukraine erklären?
Jo Lang: Um es klar zu sagen: Wladimir Putin ist der alleinige Verantwortliche für diesen Krieg. In seiner Rede am 21. Februar 2022, drei Tage vor Beginn der Invasion in der Ukraine, kritisierte der russische Präsident Lenin scharf. Er warf dem Anführer der Bolschewiki vor, dass er nach der Russischen Revolution von 1917 für eine unabhängige ukrainische Republik eingetreten sei. Dieser Vorwurf wirft ein Licht auf die Politik, die Putin heute betreibt. Lenin war nämlich ein erklärter Feind des grossrussischen Chauvinismus, jenes Hypernationalismus, der die Überlegenheit Russlands über andere Nationen verkündet und diese unterwerfen will.
Der grossrussische Chauvinismus hat tiefe Wurzeln. Im Jahr 1876, unter der Herrschaft von Zar Alexander II, hatte er sich in einem Verbot der ukrainischen Schriftsprache niedergeschlagen. Nach den 1920er Jahren, die von einer Politik der Förderung der ukrainischen Sprache geprägt waren, griff Stalin das zaristische Ziel der Ausrottung der ukrainischen Kultur wieder auf. Der dramatischste Ausdruck dieser Politik war die grosse Hungersnot, die die Ukraine in den Jahren 1932-1933 heimsuchte und als Holomodor [ukrainisch: Tötung durch Hunger; Anm. d. Red.] bekannt wurde. Diese war die Folge der Zwangskollektivierung – die in der Ukraine durch repressive Massnahmen noch verschärft wurde. Fast fünf Millionen Ukrainer:innen starben daran.
In der Tradition der Zaren und Stalins ist Putin ein Anhänger des härtesten grossrussischen Chauvinismus. Dies erklärt auch seine Weigerung, die Ukraine als Nation anzuerkennen.
Wie steht es um die Rolle der NATO?
Die wahre Verantwortung der NATO besteht darin, dass sie Putin den Weg an die Macht erleichtert hat. Die Entscheidung des russischen Präsidenten, in die Ukraine einzumarschieren, kann hingegen nicht dem transatlantischen Bündnis angelastet werden. Der Chefideologe des Kalten Krieges in den USA, Georges Kennan, hatte 1997 vorausgesagt, dass die Osterweiterung der NATO nationalistische und autoritäre Kräfte auf Kosten demokratischer Kräfte stärken würde. Dies trat zwei Jahre später mit der Übernahme des Regierungs- und später des Staatsvorsitzes durch Putin ein.
Putin verstärkte seinen Einfluss auch, indem er sich auf den Krieg gegen Tschetschenien stützte. Um diesen zu rechtfertigen, stellte er ihn in den Rahmen des «Krieges gegen den Terror», den die USA nach den Anschlägen vom 11. September 2001 führten. Die US-amerikanischen Kriege gegen den Irak und Afghanistan legitimierten und verstärkten somit Putins eigene Kriegslogik. Im Jahr 2002 erhielt der russische Präsident übrigens im Kanton Zug in Anwesenheit des US-Botschafters einen Friedenspreis!
In ähnlicher Weise wurden die russischen Luftangriffe, die 20’000 Todesopfer unter der syrischen Bevölkerung forderten, vom Westen toleriert, da ihre Opfer als «islamische Terrorist:innen» betrachtet wurden. All dies liess Putin glauben, dass er freie Hand habe.
Laut der GSoA finanziert die Schweiz den von Wladimir Putin geführten Krieg in der Ukraine. Inwiefern ist das der Fall?
In den letzten Jahren haben Gas und Öl dem russischen Staat jährlich 200 Milliarden US-Dollar eingebracht. Zwischen 60% und 80% dieses Handels werden über die Schweiz abgewickelt – vor allem über Genf, Zug und Lugano. Allein im Jahr 2016 haben die Credit Suisse und die UBS russischen Öl- und Gasunternehmen 300 Milliarden US-Dollar geliehen.
Die Schweiz ist auch ein strategischer Standort für russisches Kapital. Hier finden sich Unternehmen, die direkt mit dem Putin-Regime verbunden sind. Die meisten von ihnen sind im Kanton Zug ansässig. Der Schweizer Handelskonzern Glencore, der 2016 den vom Bankrott bedrohte staatliche Öl- und Gasriese Rosneft gerettet hat, ist ebenfalls in Zug vertreten.
Die Schweiz beherbergt auch Dutzende von Unternehmen, die im Besitz russischer Oligarch:innen sind. Und in den Tresoren der Schweizer Banken befinden sich zwischen 150 und 200 Milliarden Franken, die ihnen gehören. Als Drehscheibe für russisches Kapital finanziert der Wirtschaftsstandort Schweiz die Kriegsmaschinerie des Kremls.
Wie lässt sich diese massive Präsenz von russischem Kapital erklären?
Zug ist ein interessantes Beispiel für dieses Phänomen. In den 2000er Jahren machte der Kreml diesen Kanton in der Zentralschweiz mit seinen sehr niedrigen Steuern zum bevorzugten Standort für grosse Unternehmen, die er direkt kontrolliert. Unternehmen wie Gazprom, Nord Stream 2, die Banken Sber Trading oder VTB haben sich dort angesiedelt.
Dieser Prozess ist das Ergebnis einer strategischen Entscheidung Putins. Sie wurde mit Hilfe ehemaliger Stasi-Funktionär:innen umgesetzt, der politischen Polizei der ehemaligen DDR, zu der der russische Präsident Kontakte knüpfte, als er in den 1980er Jahren für den KGB in Deutschland arbeitete.
Das russische Gas- und Ölkapital wurde von den rechten Parteien des Kantons mit offenen Armen empfangen. Gerhard Pfister, der damalige Präsident der Zuger CVP, gehörte zu ihren eifrigsten Befürwortern. Nur die Alternative Linke [seit 2005 Teil der Grünen Partei; Anm. d. Red.] stellte sich gegen diese Unternehmen. Seit Jahren führen wir Aktionen durch, um ihre Ansiedlung in Zug anzuprangern. Und wir machen weiter. Anfangs Mai haben wir im Kantonsrat gefordert, dass die Steuereinnahmen von Unternehmen und Personen, die mit dem russischen Staat verbunden sind, für den Wiederaufbau der Ukraine verwendet werden. Die SVP, die FDP und Die Mitte stimmten dagegen.
Die Schweiz hat die Sanktionen der Europäischen Union gegen Russland übernommen. Ist das nicht ausreichend?
Die Schweiz setzt diese Sanktionen nur halbherzig um. Bisher hat sie weniger als 10 Milliarden Franken eingefroren, die russische Oligarch:innen in unserem Land gelagert haben – obwohl es sich insgesamt um 150 bis 200 Milliarden Dollar handelt. Erschwerend kommt hinzu, dass das Geldwäschereigesetz nicht ausreichend auf Schweizer Anwältinnen und Anwälte angewendet wird, die das Geld mithilfe von Decknamen versteckt haben.
Ein weiteres Problem ist, dass der Handel mit russischen Rohstoffen, insbesondere Gas und Öl, von den Sanktionen nicht betroffen ist [inwiefern und wann das Ende Mai von der EU beschlossene Öl-Embargo übernimmt, ist noch unklar; Anm. d. Red.]. Dies hat zur Folge, dass jeden Tag 50 Millionen Euro aus der Schweiz in die Kassen des Kremls fliessen.
Die wichtigste politische Debatte, die sich heute in der Schweiz stellen sollte, lautet daher: Wie können wir diese Geldströme, die den Krieg anheizen, stoppen? Die Schweiz hätte ein äusserst wirksames Instrument in der Hand, das helfen kann, die militärische Aggression zu beenden. Es ist an der Zeit, es zu nutzen!
Welche Massnahmen sollten ergriffen werden?
Als Sofortmassnahme sollte eine Taskforce eingerichtet werden, die die Vermögenswerte der russischen Oligarch:innen in der Schweiz identifiziert und blockiert. Und parallel dazu sollte die Schweiz ein Embargo für den Handel mit Gas, Öl und Uran aus unserem Land verhängen.
In einem zweiten Schritt müssen wir noch weiter gehen. Die Komplizenschaft des Schweizer Kapitalismus mit Putins Krieg wirft ein grelles Licht auf das hiesige Wirtschaftsmodell. Dieses lockt mit Steuerrabatten skrupellose Oligarch:innen und transnationale Konzerne an. Es ist Zeit für einen Kurswechsel. Dazu braucht es verschiedene Massnahmen, unter anderem ein Ende der Steuerprivilegien für Grossunternehmen und Reiche, ein Verbot von Briefkastenfirmen, ein öffentliches Register der wahren Eigentümer von Unternehmen, eine Verschärfung des Geldwäschereigesetzes und dessen Ausdehnung auf Anwältinnen und Anwälte, die Schaffung einer Aufsichtsbehörde für den Rohstoffmarkt und eines Aussenhandelsgesetzes, das es erlaubt, Regime zu sanktionieren, die die Menschenrechte verletzen.
Die Schweiz muss sich auch gemeinsam mit der UNO für die Ernährungssicherheit in den Ländern des Südens einsetzen, die durch den Ukraine-Konflikt noch verschlimmert wird.
In Bern gehen die Debatten in eine andere Richtung. Die Rechte will die Militärausgaben erhöhen und diskutiert über eine Annäherung an die NATO…
Die gleichen Kreise, die Putin bei der Aufrüstung geholfen haben, nutzen jetzt den Krieg gegen die Ukraine, um die Militärausgaben zu erhöhen. Das ist der Gipfel! Diese Politik ist umso skandalöser, als es keine ernsthaften militärischen Gründe gibt, die für eine Aufrüstung der Schweiz sprechen. Mauro Mantovani, Dozent an der Militärakademie der ETH Zürich, betonte: «Die Gefahr, dass die Russen eines Tages über den Bodensee oder den Rhein marschieren, ist heute geringer denn je. Denn obwohl der Krieg in der Ukraine die Barbarei der russischen Armee unterstreicht, macht er auch ihre Schwäche deutlich.»
Die laufenden Debatten im Bundesparlament über Aufrüstung, NATO, Waffenlieferungen usw. sind nicht auf die «Sicherheit» der Schweiz ausgerichtet, sondern dienen dazu, die Komplizenschaft der Schweiz mit dem Putin-Regime zu verschleiern.
Was wären die Folgen einer Aufrüstung in der Schweiz?
Das Geld, das in die Aufrüstung fliessen würde, würde für die Finanzierung des Klimaschutzes fehlen – und das, obwohl die nächsten drei Jahre entscheidend sein werden, um die Erderwärmung zu bremsen. Die Aufstockung des Militärbudgets wird auch eine Stärkung der Sozialversicherungen (z.B. der AHV) oder der öffentlichen Dienste verhindern.
Die gleichen Kreise, die seit Jahren das Klima zerstören und die Rechte der Lohnabhängigen angreifen, fordern heute Milliarden für Waffen. Wir müssen ihren reaktionären Gesellschaftsentwurf bekämpfen. Das bedeutet, die Synergien zwischen der Antikriegsbewegung, der Klimabewegung, den Gewerkschaften und denjenigen Kreisen zu stärken, die dafür kämpfen, den Aktivitäten der multinationalen Konzerne, die ihren Sitz in der Schweiz haben, Leitplanken zu setzen.
Übersetzung aus dem Französischen durch die Redaktion.
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