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Tessin: Antikapitalistischer Wahlkampf der BFS

„Die antikapitalistische Opposition stärken“ und „Löhne, Renten und die Umwelt verteidigen“ sind zwei zentrale Slogans, mit denen die Tessiner Sektion der Bewegung für den Sozialismus (BFS/MPS) in den kantonalen Wahlkampf am 2. April 2023 zieht. Rund 40 Kandidat:innen kandidieren für den Grossen Rat (Parlament) und fünf Kandidat:innen für den Staatsrat (Regierung). Die BFS macht eine gemeinsame Liste mit Parteiunabhängigen und versucht damit, ihre drei Sitze im Grossen Rat zu halten.

von Giuseppe Sergi (BFS Tessin)

Lohndumping und Grenzgänger:innen

Der Kanton Tessin ist nach wie vor das Schlusslicht der Schweiz, wenn es um die Löhne geht. Im Jahr 2020 lag der Medianlohn bei 5’203 CHF, während er in der übrigen Schweiz 6’414 CHF betrug, d.h. 23,3% höher lag. Allein diese Zahl reicht aus, um die soziale Situation im Kanton zu beschreiben, die durch einen kontinuierlichen Lohn- und Sozialabbau gekennzeichnet ist.

Die Liberalisierung des Arbeitsmarktes durch die bilateralen Abkommen, gegen die sich die BFS praktisch allein gewehrt hatte, wenn man von der fremdenfeindlichen Opposition der SVP und Lega dei Ticinesi absieht, hat das Lohn- und Sozialdumping vertieft. In nur wenigen Jahren haben die Bosse eine Riege von im Niedriglohnbereich tätigen Grenzgänger:innen aufgebaut, die mit den im Kanton ansässigen Lohnabhängigen in Konkurrenz gesetzt werden, um das Lohnniveau nach unten zu drücken (das berühmte Lohndumping).

Das Ergebnis ist nicht nur, wie oben angedeutet, ein Unterschied zwischen den Löhnen in der Schweiz und denen im Tessin. Nein, die Löhne sind in vielen Branchen in den letzten zehn Jahren sogar gesunken.

Die Reaktionen der politischen Entscheidungsträger:innen bestehen darin, dem Dumping entgegenzuwirken, indem sie Maßnahmen zu dessen Verhinderung ankündigen. Typisch für diesen Ansatz ist die Einführung von gesetzlichen Mindestlöhnen, sei es durch Normalarbeitsverträge oder ein gesetzliches Mindestlohngesetz.

Das Problem dabei ist allerdings, dass die Höhe dieser Mindestlöhne so niedrig ist (ca. 3’000 CHF pro Monat), dass dadurch das gesamte Lohnsystem nach unten gezogen wird, hin zu eben dieser Lohngrenze, wodurch das Phänomen des „pushing down“, des Dumpings, entsteht.

Kein Kanton für junge Leute

Fast 7’000 Tessiner Jugendliche sind in andere Schweizer Kantone „ausgewandert“; viele sind zum Studieren gegangen und haben sich dann entschieden, auf der anderen Seite des Gotthards zu bleiben. Die Gründe, die in Studien und Interviews dokumentiert sind, sind ganz einfach, und unter ihnen ragt die Lohnmisere der Tessiner Unternehmen heraus.

Die Festsetzung eines gesetzlichen Mindestlohns von ca. 3’000 CHF ermöglicht es, jungen Universitätsstudent:innen, die nach einem langen Studium wichtige Qualifikationen in verschiedenen Bereichen erworben haben (Wirtschaftswissenschaften, Ingenieurwesen etc.), extrem niedrige, aber dennoch legale Löhne anzubieten. Es ist kein Zufall, dass einer der Gründer eines der wenigen börsennotierten Tessiner Unternehmen (Medacta SA, Medizinaltechnik) öffentlich damit geprahlt hat, dass er Ingenieur:innen aus dem Grenzgebiet, die am Mailänder Polytechnikum ausgebildet wurden, für 3’500 CHF pro Monat beschäftigt, obwohl Ingenieur:innen, die im Tessin arbeiten und leben möchten, normalerweise fast doppelt so viel Lohn fordern.

Armut und Renten

Die Situation der Rentner:innen im Tessin ist schwierig. Sie bilden (zusammen mit Alleinerziehenden, aber auch vielen Erwerbstätigen) den grössten Teil der als arm oder armutsgefährdet definierten Personen.

Eine kürzlich von Pro Senectute durchgeführte Studie über die Armutsquote in der Schweiz hat gezeigt, dass das Tessin mit einer absoluten Armutsquote bei den über 65-Jährigen von fast 30 Prozent besonders anfällig ist. Eine Zahl, die viel darüber aussagt, wie schwierig es für ältere Menschen ist, zu leben. Auch aufgrund eines Rentensystems, das immer weniger in der Lage ist, einen angemessenen Lebensstandard zu garantieren.

Dieses Armutsrisiko hat damit begonnen, auch Sektoren stark zu belasten, die bis vor einiger Zeit noch besser geschützt waren. Wir denken hier an die öffentlichen Angestellten (des Kantons, der Gemeinden und der halbstaatlichen Einrichtungen), die bei der Pensionskasse des Kantons Tessin (IPCT) versichert sind.

Eine erste Reform im Jahr 2012, die durch den Übergang von einem auf dem Leistungsprimat basierenden System zu einem auf dem Beitragsprimat basierenden System gekennzeichnet war, hatte zu einer Kürzung der künftigen Renteneinkommen um 20% geführt. Dieser Reform, die vom gesamten Parlament (und den Gewerkschaftsführungen) gebilligt wurde, widersetzte sich nur der Abgeordnete der BFS, Matteo Pronzini, der damals die BFS noch alleine im Parlament vertreten hat.

Nun wird eine weitere 20%ige Kürzung der künftigen Renten durch die Senkung des Umwandlungssatzes von derzeit 6,17% auf 5% angekündigt. Seit geraumer Zeit kämpft die BFS gegen dieses Vorhaben und für eine Mobilisierung der Lohnabhängigen. Im vergangenen Sommer nahm diese Mobilisierung schließlich konkrete Formen an, indem das Netzwerk zur Verteidigung der Renten (ErreDiPi) gegründet wurde, eine selbstorganisierte Bewegung, in der sich viele Genoss:innen der BFS aktiv engagieren. Eine Bewegung, die in den letzten Monaten mit gut besuchten Demonstrationen und Aktionstagen die Lohnabhängigen mobilisieren konnte und die voraussichtlich Ende April in einem Streik im öffentlichen Dienst gipfeln wird.

3’000 Kantonsangestellte demonstrierten am 28. September 2022 in Bellinzona gegen die Rentenkürzungen.

Aufbau und Stärkung der antikapitalistischen Opposition

Diese Themen, die wir kurz zusammengefasst haben, bilden zusammen mit der Umweltfrage und der Anprangerung der Schweizer Wiederaufrüstungspolitik die grundlegenden Elemente der Wahlkampagne der BFS. Eine Kampagne, die ständig auf die Notwendigkeit hinweist, die soziale Mobilisierung zu diesen Themen aus einer antikapitalistischen Perspektive zu organisieren, wie es zum Beispiel bei der Rentenfrage geschieht.

In unserer Kampagne betonen wir genau dies: die Tatsache, dass es ohne diese Art der Mobilisierung unmöglich sein wird, angemessene Antworten auf die sozialen, ökologischen und kulturellen Forderungen und Bedürfnisse der großen Mehrheit der Bevölkerung zu geben.

In dieser allgemeinen politischen Perspektive ist die Präsenz von Abgeordneten in Parlamenten auch für antikapitalistische Organisationen ein nützliches Instrument. Die Abgeordneten der BFS können die parlamentarische Tribüne nutzen, um die Notwendigkeit einer solchen Mobilisierung zu propagieren, alternative Lösungen zu denjenigen der Bourgeoisie und ihrer politischen Verbündeten vorzuschlagen, und um die Politik der Regierungsparteien anzuprangern.

Und diese Tribüne konnten wir in den letzten Jahren mit Erfolg nutzen und ein verhältnismäßig großes Echo erzielen (angesichts unserer bescheidenen Kräfte). Uns ist es gelungen eine Reihe von wichtigen Fragen öffentlich zu thematisieren, natürlich dank der Einbeziehung dieser Fragen in die von der BFS als politischer Organisation geleistete Arbeit auf der Strasse, den Betrieben und den Schulen.

Unsere Arbeit hat das politische Establishment derart verärgert, dass die großen Parteien in den letzten Jahren zweimal das Reglement des Grossen Rates geändert haben, um die (ohnehin sehr begrenzten) Interventionsmöglichkeiten unserer Abgeordneten einzuschränken. Dieses Vorgehen hat sich zum Beispiel in diesem Wahlkampf fortgesetzt, in dem die Medien fast den gesamten Platz (u.a. im staatlichen Fernsehsender RSI) für die Regierungsparteien reserviert haben und uns in eine Randrolle gedrängt haben.

Unsere Kampagne vor Ort (Infostände in den Zentren mit der Verteilung von Material, Flugblätter verteilen vor Supermärkten, Diskussionsabende mit Sympathisant:innen usw.) ermöglicht es uns, neue Kontakte zu knüpfen und unsere politische Präsenz zu stärken.

Es ist schwierig, den Ausgang dieser Kampagne in einem Kontext vorherzusagen, in dem sich die politische Achse tatsächlich nach rechts verschiebt (Umfragen deuten auf eine Stärkung der Rechten und der extremen Rechten auf Kosten der SP und der Grünen hin). Wir sehen dem gelassen entgegen, da wir wissen, dass die Nützlichkeit unserer Präsenz im Parlament keine historische Notwendigkeit für den Aufbau einer antikapitalistischen Alternative darstellt.

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