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Francesca Albanese: „Die Schweiz muss den Völkermord verurteilen.“

Francesca Albanese ist seit 2022 Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen (UNO) über die Menschenrechtslage in den besetzten palästinensischen Gebieten. Sie kritisiert das Schweigen der offiziellen Schweiz gegenüber Gaza sowie die Infragestellung der Finanzierung des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA). Albanese gehört zu den lautesten Stimmen, die den mörderischen Angriff der israelischen Armee auf Gaza seit seinem Beginn anprangern und hat trotz einer Flut von Drohungen und Kritik zwei wegweisende Berichte erstellt, in denen sie den Völkermord Israels an der palästinensischen Bevölkerung in Gaza klinisch detailliert darlegt.1 Die Juristin und Wissenschaftlerin spricht über die Abstimmung zur Finanzierung der UNRWA, die am 18. März 2025 im Schweizer Ständerat stattfindet, über die Rolle der Schweiz angesichts der Zerstörung von Gaza und über Wege, um weiterhin Widerstand zu leisten.

Interview mit Francesca Albanese; von Guy Zurkinden

Guy Zurkinden: In der Schweiz wird der Ständerat über die Streichung der Schweizer Finanzierung für die UNRWA abstimmen. Was halten Sie davon, dass dies in einer Zeit, in der die palästinensische Bevölkerung von einer beispiellosen humanitären Krise betroffen ist, in Frage gestellt wird?

Francesca Albanese: Bei der Debatte über die Finanzierung der UNRWA geht es nicht nur um Geld oder humanitäre Hilfe – obwohl letztere für die palästinensische Bevölkerung lebenswichtig ist. Es handelt sich in erster Linie um ein politisches Problem. Das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten wurde 1949 als Unterorgan der Generalversammlung der Vereinten Nationen gegründet. Im Jahr 1949 beschlossen die UN-Mitgliedstaaten, die UN-Vermittlungskommission,2 die mit der Umsetzung der Resolution 194 über das Rückkehrrecht der Palästinenser:innen beauftragt war, zu verlassen. Parallel dazu bevorzugten sie die Arbeit der UNRWA, die sich eher auf humanitäre Hilfe als auf eine politische Lösung konzentrierte.

Wenn die Schweiz die UNRWA auflösen will, kann sie dies nicht durch finanzielle Erpressung tun. Sie muss sich im Rahmen der UNO für die Lösung der politischen Frage einsetzen, die der Gründung der Agentur zugrunde lag: das Recht auf Rückkehr der Palästinenser:innen, die während der Nakba [Katastrophe] von 1948 vertrieben wurden.

Es muss hinzugefügt werden, dass die Bedrohung der UNRWA nach 15 Monaten Völkermord in Gaza ein Zeichen für einen immensen Mangel an Menschlichkeit ist.

Einige Jurist:innen sind der Meinung, dass die Streichung der UNRWA-Finanzierung einen Verstoss gegen die internationale Völkermordkonvention darstellen könnte. Was halten Sie davon?

Diese Debatte geht über die Frage der UNRWA hinaus. Die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes verpflichtet die Staaten, Völkermord zu verhindern, zu stoppen und zu bestrafen. „Verhindern“ bedeutet, dass die Länder ihren ganzen Einfluss geltend machen, um die Fortsetzung von Völkermord zu verhindern. Nun verfügt die Schweiz über einen grossen Einfluss innerhalb der internationalen Gemeinschaft. Dennoch hat die Schweiz, wie die meisten anderen westlichen Staaten, das Drama der palästinensischen Bevölkerung aus politischen Gründen völlig ignoriert. Damit ist die Schweiz ihrer Verpflichtung, Völkermord zu verhindern, nicht nachgekommen. Gleichzeitig hat sie ihre humanitäre Tradition verraten und dazu beigetragen, den Multilateralismus [Zusammenarbeit zwischen Staaten] und das Völkerrecht abzubauen.

Was sollte ein Staat wie die Schweiz in Bezug auf Gaza tun?

Als der Internationale Gerichtshof die Gefahr eines Völkermords als plausibel einstufte, hätte die Schweiz wie alle Mitglieder der internationalen Gemeinschaft reagieren und den laufenden Völkermord anprangern müssen. In der Folge hätte sie auf politischer, rechtlicher und wirtschaftlicher Ebene Druck ausüben müssen, damit der Staat Israel seine völkermörderischen Operationen einstellt. Nichts davon wurde getan. Schlimmer noch: Heute droht die Schweiz sogar damit, der UNRWA den Geldhahn zuzudrehen. Angesichts der besonderen Merkmale des Völkermords in Gaza ist diese Haltung umso skandalöser.

Was ist diese Besonderheit?

Dieser Völkermord unterscheidet sich in zweierlei Hinsicht von den Völkermorden, die in den 1990er Jahren in Ruanda oder Bosnien stattfanden. Zum einen behauptet der jüdische Staat, demokratisch und rechtsstaatlich organisiert zu sein, während in diesen Ländern damals erhebliche innenpolitische Unruhen herrschten. Darüber hinaus hat Israel stets die finanzielle, wirtschaftliche und militärische Unterstützung des Westens genossen – trotz der Tatsache, dass es seit 57 Jahren durch die Besetzung der palästinensischen Gebiete gegen das Völkerrecht verstösst. Diese Unterstützung hält an, seit Israel Völkermord begeht. Kein Staat, auch nicht die Schweiz, hat politische oder rechtliche Schritte unternommen, um Israel zu bestrafen. Diese Passivität ist ein trauriges Echo der Passivität der europäischen Staaten angesichts des Völkermords an den Jüd:innen, Roma und Sinti, der auf ihrem eigenen Kontinent stattgefunden hat.

Was veranlasst Sie, diese Parallele zu ziehen?

Alle europäischen Länder, einschliesslich der Schweiz, waren in irgendeiner Weise am Holocaust beteiligt, indem sie jüdische Bürger:innen in den Tod schickten. 80 Jahre später sind wir wieder am selben Punkt angelangt: Die europäischen Staaten greifen nicht in den laufenden Völkermord ein, weil sie die Opfer nicht als Menschen betrachten, die es wert sind, verteidigt zu werden. Damals waren es die Jüd:innen, heute sind es die Palästinenser:innen.

Wie kommt es zu diesem Mangel an Empathie?

Ich glaube, dass die Palästinenser:innen Opfer der aus der Kolonialgeschichte stammenden rassistischen Vorurteile sind, die die Bewohner:innen des Westens daran hindert, die Angehörigen des globalen Südens als gleichwertige Menschen zu betrachten.

Gibt Ihnen der Waffenstillstand, der seit dem 19. Januar 2025 in Kraft ist, Hoffnung auf dauerhafte Verbesserungen in Gaza?

Ja, ich habe Hoffnung. Aber Hoffnung zu haben bedeutet nicht, passiv darauf zu warten, dass sich die Dinge ändern. Meine wahre Hoffnung besteht darin, dass die Menschen auf der ganzen Welt auf die Gefahr reagieren, der wir heute gegenüberstehen. Die Mehrheit der Staaten und der Weltbevölkerung hat nämlich nichts von der gefährlichen Allianz zu gewinnen, die zwischen Israel und der grössten Weltmacht USA geschmiedet wurde, die nun in den Händen einer absurden, grotesken und unmenschlichen Clique ist.

Glücklicherweise wird das Herrschaftssystem, das zum Völkermord in Gaza geführt hat, von allen Seiten in Frage gestellt: von den Studierenden, die die Zusammenarbeit der Universitätsleitungen mit Israel in Frage stellen; von den mit Palästina solidarischen Demonstrant:innen auf den Strassen; von den Journalist:innen, die beschlossen haben, zu informieren, anstatt die Tatsachen zu vertuschen.

Angesichts dieses Widerstands reagiert das bürgerlich-kapitalistische System aggressiv. Schauen wir uns nur das Verhalten der Trump-Regierung an. Jeden Tag werden die absurdesten Gesten und Ankündigungen gemacht, um uns zu schockieren und zu lähmen. In diesem Zusammenhang müssen wir auf dem Boden bleiben und uns auf das Wesentliche konzentrieren: auf das, was wir konkret tun können.

Was kann getan werden, damit der bislang unzureichende Widerstand an Wirksamkeit gewinnt?

Gaza ist das Symptom einer gefährlichen Entwicklung, bei der es um mehr geht als nur um Palästina. Es ist in der Tat an der Zeit zu begreifen, dass wir nicht mehr in derselben Welt leben wie vor zwanzig Jahren, insbesondere in Europa. Eine Infragestellung der Grundrechte und -freiheiten ist überall auf der Welt am Werk. In diesem Sinne muss der Völkermord in Gaza ein Weckruf sein. Ein Aufruf, die Menschenrechte und das internationale System, das sie zu garantieren versucht, überall zu verteidigen.

Wir werden diesen Kampf jedoch nicht gewinnen, wenn wir uns nicht zusammenschliessen. Heute brauchen wir eine globale Bewegung, die ihre Solidarität mit Palästina zum Ausdruck bringt und gleichzeitig Widerstand gegen alle Missbräuche leistet, mit denen uns das System bedroht.


1 Bericht vom 25. März 2023: Anatomie eines Völkermords; Bericht vom 1. Oktober 2024: Die koloniale Auslöschung durch Völkermord,.

2 Das Palästina-Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) wurde 1948 gegründet, um nach dem Ende des arabisch-israelischen Krieges eine politische Lösung zu finden und die Rückkehr der vertriebenen palästinensischen Flüchtlinge in ihr Land zu organisieren, wie es in der UN-Resolution 194 vorgesehen ist. Ab 1966 wurde seine Arbeit auf Eis gelegt.

Das Interview erschien am 28. Februar 2025 im Le Courrier. Übersetzung durch die Redaktion.

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