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UNRWA: Trotz falscher Anschuldigungen will die Schweiz die Gelder streichen

Das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) ist das grösste und wichtigste Hilfswerk für die Palästinenser:innen. Es übernimmt die Gesundheits- und Trinkwasserversorgung, die Müllabfuhr, unterhält Bildungseinrichtungen und finanziert weitere Sozialleistungen. Seit Jahren unterstellt Israel der UNRWA eine Nähe zur Hamas. Im Nachgang des 7. Oktobers 2023 wurde UNRWA-Mitarbeiter:innen sogar eine Beteiligung an der Attacke vorgeworfen. Das Ziel der Verleumdungskampagne der israelischen Regierung war es, die Arbeit der UNRWA zu erschweren und die westlichen Geberländer zum Rückzug ihrer finanziellen Unterstützung zu bewegen. Am 30. Januar 2025 hat Israel nun beschlossen, die Arbeit der UNRWA in den besetzten und annektierten Gebieten massiv einzuschränken, obwohl es die Vorwürfe nie belegen konnte. Ab sofort darf das UN-Hilfswerk also keine Dienstleistungen mehr anbieten und keine Vertretung mehr in den palästinensischen Gebieten unterhalten. Der Schweizer Ständerat wird voraussichtlich im März 2025 entscheiden, ob er der Mehrheit des Nationalrats folgt und die Finanzierung der UNRWA durch den Bund eingestellt wird. Riccardo Bocco, emeritierter Professor für Anthropologie und Soziologie am Institut de hautes études internationales et du développement (IHEID) in Genf und Nahost-Experte, hält die Anschuldigungen gegen die UNRWA, die seiner Meinung nach für das Überleben der 5,9 Millionen palästinensischen Geflüchteten unerlässlich ist, für unbegründet. Ihm zufolge zeigt die Debatte in Bern, wie die israelische Propaganda immer mehr in das Bundeshaus eindringt. (Red.)

Interview mit Riccardo Bocco von Guy Zurkinden; aus lecourrier.ch

Welche Folgen hätte die [nun erfolgte] Umsetzung der von der Knesset, dem israelischen Parlament, verabschiedeten UNRWA-Gesetze?

Riccardo Bocco: Die UNO-Agentur könnte nicht mehr in Palästina arbeiten, was die bereits katastrophale humanitäre Krise weiter verschärfen würde. Der israelische Staat hat zudem angekündigt, dass er das Land, auf dem sich der Sitz der Agentur in Ost-Jerusalem befindet, beschlagnahmen werde, um eine Siedlung zu bauen. Damit bricht er seine Verpflichtungen als Mitgliedsstaat der Vereinten Nationen.

Warum diese Entscheidung?

Am 11. Dezember 1948 verkündete die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Resolution 194, in der das Recht auf Rückkehr für die 750’000 palästinensischen Opfer der Nakba anerkannt wurde. Ein Jahr später wurde die UNRWA mit dem Auftrag gegründet, ihnen vorübergehend Hilfe zukommen zu lassen. Da es keine politische Lösung für den Konflikt gab, wurde sie auf Dauer angelegt.

Seit jeher versucht Israel, die UNRWA loszuwerden. Erstens, weil die Existenz der UNRWA die Falschheit eines der Gründungsmythen des israelischen Staates beweist – den Mythos eines Landes ohne Volk für ein Volk ohne Land. Zweitens, weil Aufrechterhaltung der UNRWA daran erinnert, dass das Problem der palästinensischen Geflüchteten nie gelöst wurde.

Kritiker:innen der UNRWA in der Schweiz prangern dessen angebliche Verbindungen zur Hamas an.

Der SVP-Nationalrat Pierre-André Page behauptet, dass die Finanzierung der Agentur eingestellt werden müsse, da diese nicht bewiesen habe, dass sie nicht mit der Hamas unter einer Decke stecke. Er greift die Anschuldigungen der Regierung Netanjahu auf, die jedoch durch die unabhängige Prüfung der Neutralität der UN-Agentur unter der Leitung von Catherine Colonna sowie durch eine interne Untersuchung der UN widerlegt wurden. Frau Colonna forderte die israelische Regierung auf, Beweise zur Untermauerung ihrer Anschuldigung vorzulegen, was diese jedoch nie tat[1]. Nach der Veröffentlichung ihres Berichts nahmen alle UN-Mitgliedstaaten ihre Finanzierung für das UNRWA wieder auf oder erhöhten sie sogar. Ausgenommen waren die USA und die Schweiz.

Abgeordnete beschuldigen die UNRWA-Schulen, „Antisemitismus“ zu verbreiten.

Diese Behauptung wurde von fünf Untersuchungskommissionen widerlegt[2]. Es sollte auch daran erinnert werden, dass nicht die UN-Organisation den Inhalt der Schulbücher festlegt, sondern die Gastgeberstaaten – und die Palästinensische Autonomiebehörde, was das Westjordanland und den Gazastreifen betrifft.

Wie ist die Stärke dieser Angriffe zu erklären?

Es war der FDP-Bundesrat Ignazio Cassis, ein ehemaliges Mitglied der Parlamentarischen Freundschaftsgruppe Schweiz-Israel, der dieses Feuer entfachte. Im Mai 2018 erklärte er, die Agentur sei „zu einem Teil des Problems“ geworden. Heute macht Cassis wiederum eine spektakuläre Kehrtwende und fordert die Parlamentarier:innen auf, das internationale Recht zu respektieren. Er ist der Brandstifter, der zum Feuerwehrmann wird!

Ausserdem versäumte es das von Cassis geleitete Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA), das Parlament über eine von seinen Jurist:innen erstellte Notiz zu informieren, der zufolge die Schweiz der Beihilfe zum Völkermord bezichtigt werden könnte, wenn sie die Finanzierung der UNRWA einstellt. Dies war ein schwerwiegender Fehler.

Im Parlament wird die Offensive von der Rechten angeführt.

Die SVP-FDP-Allianz gegen die UNRWA zeigt den wachsenden Einfluss der israelischen Propaganda in Bern. 40 Bundespolitiker:innen sind Mitglieder der Parlamentarischen Gruppe Schweiz-Israel.

Dieser Verlust an Unabhängigkeit ist besorgniserregend. Um ihn zu beleuchten, müsste man die Verbindungen zwischen dem israelischen militärisch-industriellen Komplex und der Schweiz untersuchen. Angefangen bei der Gründung einer Tochtergesellschaft der Rüstungsfirma Elbit Systems AG in der Schweiz – deren Verwaltungsrat der Oberstdivisionär Jakob Baumann, der ehemalige Direktor von Armasuisse [zuständig für die Beschaffung von Waffen und Sicherheitssystemen für die Schweizer Armee; Anm. d. Red.], vorsteht.[3]

Gibt es eine Wende in der Nahostpolitik der Schweiz?

Seit den 1990er Jahren hat die Schweiz dort eine wichtige Rolle gespielt, sowohl bei der Vermittlung als auch bei der Koordinierung der humanitären Hilfe. Sie ist auch einer der wenigen Staaten, die sich nach der Machtübernahme durch die Hamas [im Gazastreifen 2006/07; Anm. d. Red.] weigerten, die islamistische Organisation zu boykottieren. Nun drohen die gewählten Volksvertreter:innen, die Finanzierung der UNRWA zu streichen, während ein Gesetz vorschlägt, die Hamas in der Schweiz zu verbieten. Der jahrelange Einsatz für das Völkerrecht droht verloren zu gehen.

[Im November 2024] erliess der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) Haftbefehle gegen den israelischen Premierminister Benyamin Netanyahu, den ehemaligen israelischen Verteidigungsminister Yoav Gallant und den Chef des bewaffneten Arms der Hamas, Mohammed Deif. Ein positives Signal für das seit dem 7. Oktober weitgehend missachtete Völkerrecht?

Es handelt sich in der Tat um einen kleinen Sieg des internationalen Rechts, der ausserhalb des Rahmens der Vereinten Nationen errungen wurde. Niemand kann diese Entscheidung also blockieren, da der Internationale Strafgerichtshof im Gegensatz zu den Vereinten Nationen keinen Sicherheitsrat hat, der seine Entscheidungen beeinflussen könnte. Dieses Urteil wird schwer auf der israelischen Regierung lasten, die jeden Tag tiefer sinkt.

Es bleibt abzuwarten, ob diese Entscheidung umgesetzt wird. Mehrere grosse europäische Länder, darunter Italien, Irland, Belgien, die Niederlande und Frankreich, haben eigentlich angekündigt, dass sie dies tun werden – ebenso wie die Schweiz. Die USA haben den Vertrag von Rom, der den IStGH ins Leben gerufen hat, zwar unterzeichnet, aber nie ratifiziert – und Joe Biden [und nun Donald Trump; Anm. d. Red.] hat die Entscheidung des Gerichtshofs bereits angeprangert. Was den Staat Israel betrifft, so hat er sich geweigert, den Vertrag zu unterzeichnen. Bis einer der Personen, gegen die diese Haftbefehle erlassen wurden, in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaates des IStGH reist, kann man nur Vermutungen anstellen.


Guy Zurkinden: Die vielen Freund:innen der israelischen Regierung in Bern

Die Verteidigung „israelischer Positionen in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur“ und die Pflege von „Beziehungen zur Knesset, ihren Mitgliedern und zur israelischen Botschaft“. Dies ist das Ziel der besonders stark besetzten Parlamentarischen Freundschaftsgruppe Schweiz-Israel, von der einige Mitglieder die Angriffe auf das UNRWA in Bern steuern. Nicht weniger als 40 Bundesparlamentarier:innen – von insgesamt 246, also fast jede:r sechste – gehören dieser Gruppe an. 25 von ihnen stammen aus der SVP, acht aus der FDP und sechs aus der Mitte-Gruppe, die sich aus der Mitte und der Evangelischen Volkspartei (EVP) zusammensetzt. Der Zürcher SP-Ständerat Daniel Jositsch ist der einzige Vertreter der Linken.

Die Parlamentarischen Gruppe Schweiz-Israel hat vier Co-Präsident:innen: Ständerätin Marianne Binder-Keller (Mitte), die auch Mitglied des Stiftungsrats der Audiatur-Stiftung ist – einer Stiftung, die sich selbst zwar als „konstruktive Stimme“ in der Debatte über Israel und den Nahen Osten versteht, auf ihrer Website aber hauptsächlich die Positionen der Regierung Netanyahu wiedergibt, einschliesslich ihrer Anschuldigungen gegen das UNRWA; Zürcher SVP-Nationalrat Alfred Heer, Präsident des Stiftungsrats der Audiatur-Stiftung; Ständerat Daniel Jositsch (SP Zürich); und Nationalrat Philippe Nantermod (FDP Wallis).

Aus den Reihen dieser Parlamentarischen Gruppe sind der Präsident der FDP, der Aargauer Ständerat Thierry Burkart, sowie der ehemalige SVP-Präsident und Ständerat Marco Chiesa zu erwähnen.

Die Freundschaftsgruppe Schweiz-Israel ist in der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrates mit zwölf Mitgliedern – von 25 – besonders stark vertreten. Auch der Präsident der Kommission, der FDP-Liberale Laurent Wehrli, zählt zu den Freunden Israels. Diese Kommission hat zwei Motionen eingereicht, die den Bundesrat auffordern, die der UNRWA zugewiesenen Gelder anderen Organisationen zuzuweisen, z.B. dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen. Die beiden Texte werden [im März 2025] im Ständerat diskutiert, zusammen mit einer dritten Motion, die ein Ende der Finanzierung der UNRWA durch den Bund fordert und von Nationalrat David Zuberbühler (SVP Appenzell Ausserrhoden) verfasst wurde – der auch in der Parlamentarischen Gruppe Schweiz-Israel sitzt.

Letzterem gehören auch drei Mitglieder der aussenpolitischen Kommission des Ständerats – von insgesamt 13 – an, darunter ihr Präsident Marco Chiesa.

In den Richtlinien für interfraktionelle parlamentarische Gruppen heisst es: „Abgeordnete, die sich für ein bestimmtes Thema oder einen bestimmten Bereich interessieren, können interfraktionelle parlamentarische Gruppen bilden. Diese stehen allen Abgeordneten offen“. Ein Teil von ihnen, die sogenannten „Freundschaftsgruppen“, haben das Ziel, „Beziehungen zu anderen Ländern oder Ländergruppen zu pflegen“.


Das Interview erschien am 25. November 2024 im Le Courrier. Übersetzung durch die Redaktion.


[1] Einen kurz gehaltenen Fakten-Check der israelischen Anschuldigungen findet ihr hier. (Dezemebr 2024). Zudem geht aus einem UNRWA-Bericht hervor, dass Israel einige Mitarbeiter:innen des Hilfswerks gezwungen habe, unwahre Angaben zu Hamas-Verbindungen zu machen. (08.03.2024). [Anm. d. Red.]

[2] Aus dem Bericht der unabhängigen Prüfung unter Catherine Colonna wierden in zwei Fällen tatsächlich Befangenheit und nicht UN-konforme Inhalte ermittelt. Jedoch fehlen Hinweise auf antisemitische Anspielungen. Im Bericht des Georg Eckert-Instituts (GEI) von 2021 wurden hingegen zwei Beispiele mit antisemitischem Inhalt festgestellt, wobei allerdings auch festgestellt wurde, dass einer der besagten Vorfälle bereits entfernt wurde und der andere erheblich verändert worden war. Der Bericht empfahl aufgrund der Befunde mehrere Massnahmen, darunter die Überprüfung des Inhalts aller Schulbücher mit den Sitzländern Israel und Palästina bzw. der palästinensischen Autonomiebehörde. [Anm. d. Red.]

[3] Am 4. Juli 2024 berichtete RTS, dass die Schweizerische Nationalbank (SNB) einen Gewinn von einer Million Dollar erzielt habe, indem sie zehntausende Aktien der Firma Elbit Systems AG gekauft und anschliessend wieder verkauft habe, als deren Aktienkurs nach der israelischen Offensive gegen Gaza „geboostet“ worden war.

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