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Avantgarde, Masse und Selbstorganisation

Die seit der Debatte 16 aufgegriffene Diskussion zur Avantgarde ist von vielen positiv aufgenommen worden und hat eine kontroverse Debatte ausgelöst. In dieser Nummer drucken wir einen Beitrag von Peter Haumer aus Wien ab, der die Position vertritt, dass sich Avantgarden nie unilateral und somit unabhängig von der kollektiven Selbstorganisation ausbilden können. (Red.)

von Peter Haumer

«Organisiert euch, und helft anderen Leuten, sich zu organisieren». Dieses erste seiner «10 Gebote für die Revolte»1, gerichtet an die Occupy-Bewegung, ist – wie Mike Davis erklärt – ein kategorischer Imperativ jeder sozialen Widerstandsbewegung gegen die Herrschaft des Kapitals. Es zeigt auf, dass wir uns als ersten Schritt durch den Zusammenschluss mit möglichst vielen Gleichgesinnten selbst helfen müssen, um aus dem Schmelztiegel des Konkurrenzkampfes und der Entfremdung auszubrechen. Wir, die wir die Einsicht haben, uns gegen das Kapital zur Wehr zu setzen – wir versuchen kollektives Handeln zu diskutieren, abzusprechen und umzusetzen.

Das «Ende der Vertretung»

Wir organisieren uns, weil wir selbst Angriffsziele des Kapitals geworden sind, und wir organisieren uns gemäss unseres Bewusstseins, das aus den Bedingungen unseres gesellschaftlichen Lebens hervorgeht.  Das hat zur Folge, dass – solange diese Bedingungen verschiedenartig sind und sich ungleichmäßig und ungleichzeitig entwickeln – unser Wunsch sich zu organisieren noch kein allgemeiner sein kann.
Wir teilen den Drang nach Organisierung mit unseren «Leidensgenoss_innen», hervorgegangen aus ähnlichen Daseinsbedingungen. Wir sind mit unserem Wunsch nach Organisierung nicht die ersten – und wir werden auch nicht die letzten sein. Wir befinden uns damit in guter Gesellschaft, mit allen Sozialrebell_innen der Vergangenheit und der Zukunft. Organisierung heisst Überleben zu wollen in einer Welt der Vereinzelung und des rücksichtslosen Konkurrenzkampfes.
Die Sinnhaftigkeit des Prinzips der Organisierung setzt sich jedoch nur ungleichmässig und ungleichzeitig in den Reihen der Arbeiter_innenklasse durch. Die alte Form der Organisierung als Befehlsempfänger_innen in Partei und Gewerkschaft löst sich auf und wird zunehmend durch Selbstorganisierung ersetzt. Trotzdem ist die Idee der Selbstorganisierung gegenwärtig noch eine avantgardistische Idee, und die Repräsentant_innen dieser Idee stellen somit eine Art von Avantgarde, von bewusster Minderheit dar. Dies deshalb, weil sie Einsichten in Notwendigkeiten gewonnen haben, die für die Mehrheit der vom Kapital Beherrschten noch nicht nachvollziehbar sind; weil sie etwas glauben zu wissen, was die anderen noch nicht wissen.
Doch die gegenwärtige globale kapitalistische Krise ist auch eine grosse «Gleichmacherin». Immer mehr Menschen werden vom Kapital gezwungen, sich zur Wehr zu setzen, um ihre gewohnte Art des (Über)Lebens beizubehalten. Sie kollidieren mit ihrem Wunsch, ihr Leben und ihren Lebensstandard zu sichern, immer mehr mit dem historischen und aktuellen Versagen der «alten Arbeiter_innenbewegung», die sich dem «Ende der Vertretung» annähert. Immer  mehr Opfer der globalen Krise kommen dadurch zu der Einsicht: «Uns vertreten – das können wir nur selber tun!»

Avantgarde und Elitismus

Die Idee der Selbstorganisierung bekommt so zunehmend Boden unter den Füssen. Die Menschen, die Selbstorganisierung bereits leben, können ihre Erfahrungen und Ideen weitergeben, verallgemeinern und dadurch weiterentwickeln. Was liegt näher als jenen, die im Kampf stehen, mit Hilfe und Informationen, die ihnen verweigert werden, beizustehen?
Hier geht es nicht um das leidige Verhältnis  «Führung – Masse». Hier geht es einfach  um Solidarität, um gegenseitige Hilfe, um Erfahrungsaustausch und Kooperation.  Dadurch wird erlebbar, was gemeint ist wenn Alain Bihr von der «Pluralität von Avantgarden» spricht, wo jegliche Avantgarde nur einen Teil der Situation oder der gesamten Erfahrungen erfassen kann, es daher auch nur eine «faktische Avantgarde» geben kann, die sich immer wieder aufs Neue im Leben beweisen muss.
In Alain Bihrs Aufsatz «Zum Begriff der Avantgarde»2 wird diese selbst zu einer Selbstverständlichkeit des Alltags. Sie verliert jegliches Elitäre und ist für jeden Menschen offen. Jede_r von uns kann in die Situation kommen, eine avantgardistische Rolle zu übernehmen. Ein freier und egalitärer Meinungsaustausch wird daher auch zum notwendigen Lebensraum dieses Avantgardeverständnisses.
Die Selbstorganisierung nimmt ein Stück dieser Zukunft vorweg. Entlang ihrer Strukturen wird sowohl der Abwehrkampf gegen die täglichen Übergriffe des Kapitals als auch der Kampf für eine klassenlose Gesellschaft geführt. In ihren Rahmen kann jede_r am Meinungsfindungsprozess über die besten Kampf-, Abwehr- und Aufbaumassnahmen teilnehmen, entlang des Prinzips «jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen». Mike Davis ruft dazu passend der «Occupy-Generation» zu: «Eure Anführer_innen dürfen nur Anführer_innen auf Zeit sein. Ihr müsst sie abberufen können. Die Aufgabe einer wirklich guten Organisation besteht darin, sich selbst überflüssig und nicht etwa unentbehrlich zu machen.»

Selbstorganisierung der Massen

Doch Voraussetzung dafür ist, dass die Massen das Werkzeug der Selbstorganisierung in ihre Hände nehmen und beginnen, ihre Welt selbstermächtigt umzugestalten. Hier ersteht die Idee, die von den Massen Besitz ergreift, weil diese auf sich selbst zurückgeworfen werden und beginnen dort zu graben, wo sie stehen. Dann geht es noch darum zu klären, wer denn weiss, wie schliesslich dieses gefundene Werkzeug effektiv und optimal eingesetzt werden kann. Nur als kollektive Anstrengung ist es vorstellbar, tatsächlich brauchbare Wege zu finden. Aber in diesem Meinungsfindungsprozess wird es Vordenker_innen, Weichensteller_innen und Weitsichtige geben, einer Avantgarde gleich. In diesen Prozessen entscheidet sich auch, wer tatsächlich Avantgarde ist oder nicht.
Gleichzeitig ist diese Frage im wirklichen Leben gänzlich unwichtig. Denn es geht darum zu lernen, und Diskussionen dienen dazu, die nächsten Schritte vorzubereiten, weil wir hauptsächlich im Vorwärtsgehen lernen. Wir können nur das machen, was möglich ist, aber wir dürfen dabei nicht vergessen, dass es einige wenige Zeitfenster gibt, in denen das schier Unmögliche möglich ist.
Leitfaden dieses Denkens ist, dass die Selbsttätigkeit der Einzelnen bzw. der Gruppen und Avantgarden mit der Selbsttätigkeit der Massen zusammenfliessen sollte. Doch dies ist leider nur allzu selten der Fall. Noch sind es nur vereinzelte Höhenflüge der Geschichte, wenn ein Kollektiv sich in Bewegung setzt. In den allermeisten Fällen folgt auf solche Phasen der kollektiven Anspannung wieder Passivität. Die fehlende Aktivität der Massen kann aber durch nichts ersetzt werden. Es wäre ein schwerer Fehler zu glauben, dieses Manko durch besonderes Engagement der bewussten Minderheit ausgleichen zu können. Die bewusste Minderheit muss sich in solch einer Situation tunlichst entscheiden. Entweder sie arbeitet als Stellvertreterin der Massen weiter und verkommt dadurch immer mehr zu einem Papiertiger, oder sie bekennt sich weiterhin dazu, dass sie nur das bereit ist zu machen, was ihnen explizit von ihrer Basis aufgetragen und von dieser auch getragen wird. Sollte es zu einem unauflöslichen Widerspruch zwischen «Führern und Geführten» kommen, ist dies weiter nicht dramatisch, denn «eure Anführer_innen dürfen nur Anführer_innen auf Zeit sein.» Und sollten die Aufträge der Basis für deren Vertreter_innen unannehmbar sein, so müssen diese ihr Mandat zurücklegen.

Die Praxis der Avantgarden

Zu jeder Zeit wird es Menschen geben, die die Klassenkämpfe «lesen» können, die den täglichen Kleinkrieg zwischen Kapital und Arbeit zu verstehen suchen, um sich in dessen Dschungel zurechtzufinden. Sie versuchen, Antworten auf die Frage «Was tun?» zu finden. Sie suchen Gleichgesinnte, um aus den jeweiligen Detailwissen sich ein Gesamtbild zu machen, und sie machen dies aus dem Bewusstsein, dass sie Teil einer Bewegung sind, die sich im permanenten Schlagabtausch mit dem Kapital befindet. Diese bewusste Minderheit muss danach trachten, ständig eine Funktion der realen Bewegung gegen das Kapital zu sein. Sie kann sich auflösen und sich zu anderer Zeit an anderen Ort wiederformieren. Aber so wie die Arbeiter_innenklasse nicht aufhört zu kämpfen, hört auch die Suche nach Wegen raus aus dem Kapitalismus nicht auf. Je entwickelter die Praxis der Arbeiter_innenklasse ist, desto präziser ist daher auch das Wissen über unsere Zukunft.
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* Peter Haumer, geb. 1956, Wien. Lehre als Orgelbauer und seit dem 14. Lebensjahr in politischen, gewerkschaft-lichen und innerbetrieblichen Zusammenhängen organisiert.
1 www.zeit.de/2012/01/Zehn-Gebote
2 Alain Bihr: Zum Begriff der Avantgarde, «Debatte» Nr.16 und 17

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